Am 12.12.1903 wurde mein Großvater geboren: Theodor Franz Maria Hespers. Für mich ist mein Großvater ein Mythos. Eine Heldenfigur. Und jemand, der mein Leben bis heute beeinflusst. Er starb am 09.09.1943 in Berlin Plötzensee - ermordet von den Nazis.
Aus heutiger Sicht scheint es absurd von einem "Großdeutschland" zu reden. Aber vor noch nicht mal 100 Jahren war das ein Thema. Ein wichtiges sogar. Eines, das über Parteigrenzen hinweg diskutiert wurde. Und bei dem der Grat ins völkisch-nationalistische ziemlich schmal war.
Deshalb fasse ich den Text meines Großvaters über die "Großdeutsche Idee" mit ziemlich spitzen Fingern an. Gleichzeitig ist dieser Gedanke eines Großreiches wieder extrem präsent. Denn in Russland träumt man von der Rückkehr in vermeintlich glorreiche Zeiten. Von der Rückkehr der Grenzen des Zarenreichs. Überhaupt kommt einem Vieles, was wir derzeit in Russland beobachten, doch recht bekannt vor.
Damit aber nicht irgendwelche unzulässigen Vergleiche gezogen werden, hat diese Podcastfolge drei Teile. Einen einleitenden Teil, um das Thema zu erklären. Einen Interviewteil mit der Historikerin Dr. Ulrike Jureit, um die Gemenegelage 1938 zu klären und was hinter dem Gerede von "Großdeutschland" steckt. Und im dritten Teil dann endlich der komplette Artikel meines Großvaters.
Mit Hilfe der Kapitelmarken könnte ihr sehen, wo sich welcher Teil befindet. Ich würde euch aber empfehlen, diesen Podcast von vorne nach hinten durchzuhören.
Falls euch der Podcast noch nicht reicht: Hier könnt ihr übrigens einen Blick ins Buch werfen. "Mein Opa, sein Widerstand gegen die Nazis und ich" heißt es und ist im Suhrkamp-Verlag erschienen. Eine Leseprobe findet ihr auf der Seite.
Vor über einem Jahr habe ich euch hier im Podcast mit einer Geschichte zurückgelassen, die nach sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland abgespielt hat. Zu einer Zeit als seine beiden Eltern - und meine Großeltern - beide im Gefängnis saßen. Meine Oma im Frauengefängnis in Vechta. Und mein Opa im Spionage-Abwehr-Gefängnis in Wilhelmshaven beziehungsweise im Reichssicherheitshauptamt in Berlin.
Dass ich so lange keinen Podcast mehr veröffentlicht habe, hat zwei Gründe. Der eine - und wohl sehr nachvollziehbare Grund heißt: Pandemie. Der andere Grund: Ich habe ein Buch geschrieben. Über meinen Opa, die Beziehung zu meinem Vater und unsere Zeit heute. Nebenbei die Erzählung hier aufrecht zu erhalten, das ging einfach nicht. Aber: Das Buch ist das Buch - und der Podcast ist der Podcast. Und deshalb geht es jetzt endlich auch hier weiter.
Mit Ruppsack-Geschichten von meinem Vater, in denen er sich immer am besten gefällt, der Geschichte um die "offene Beziehung" zu dritt zwischen meinem Opa, meiner Oma und "Tante Toos" - und dem sehnlichsten Wunsch, endlich wieder nach Hause zu können.
Falls euch der Podcast noch nicht reicht: Hier könnt ihr übrigens einen Blick ins Buch werfen. "Mein Opa, sein Widerstand gegen die Nazis und ich" heißt es und ist im Suhrkamp-Verlag erschienen. Eine Leseprobe findet ihr auf der Seite.
Aber selbst das fühlt sich seltsam an. Denn ich will nicht Heute ist der 21. Februar 2020. Heute wäre mein Vater 89 Jahre alt geworden. Heute ist auch der Tag nach dem rechtsextremen Anschlag auf zwei Shisha-Bars und einen Kiosk im hessischen Hanau bei dem der Attentäter neun Menschen ermordet und sechs weitere verletzt hat. Im Anschluss an die Tat tötete er seine Mutter und sich selbst.
Als ich am Donnerstagmorgen das erste Mal von dem Anschlag höre und lese, habe ich noch keine Worte für das, was passiert ist. Ich kann nicht mehr schreiben als:
"Mir ist es zu früh, um irgendetwas konkretes dazu zu sagen, aber: Es bricht mir das Herz 💔😔 Das ist nicht die Welt, in der ich leben will."
Heute habe ich Worte, vielmehr habe ich eine Geschichte für euch. meine Geschichte in die Menge halten und damit die Aufmerksamkeit von jenen nehmen, die von Rassisten, Rechtsextremen und Faschisten zu Opfern gemacht wurden. Wer jetzt wirklich Aufmerksamkeit braucht, dass sind die Menschen, die Familie, Freunde, Herzensmenschen verloren haben. Die Menschen, die Angst haben um ihr Leben. In einem Deutschland, in dem sie eigentlich sicher sein sollten.
Weil aber schweigen auch nicht richtig ist, habe ich mich entschieden, heute trotzdem eine kurze, neue Folge von "Die Anachronistin" zu veröffentlichen. Denn auch mein Vater ist Opfer von Rechtsextremisten. Den Rechtsextremisten der 30er und 40er Jahre, die auch nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes vielfach weiter in der Gesellschaft wirken konnten. Zum Teil in entscheidenden Positionen, ausgestattet mit Macht. Positionen, in denen sie das Gift des Faschismus weiter in die Gesellschaft tragen konnten. Und ehrlich gesagt: Ich bin froh, dass mein Vater die Ereignisse von 2019 und das, was bislang im noch jungen 2020 schon passiert ist, nicht mehr miterleben muss. Dass er nicht erleben muss, wie Rechtsextreme den CDU-Politiker Walter Lübcke ermorden. Dass er nicht miterleben muss, wie ein Rechtsextremer in Halle versucht, ein Blutbad in einer Synagoge anzurichten, scheitert und deshalb eine Passantin und einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss ermordet. Dass er den Tabubruch von Thüringen nicht miterleben muss. Dass er nicht miterleben muss, wie in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven von einem rechtsextremen Attentäter ermordet werden.
Von all den Texten, die mein Großvater und seine Mitstreiter veröffentlicht haben, taucht einer immer wieder ausführlich auf. Er trägt den Titel: "So wollen wir Deutschland" und erscheint in Heft 12 von "Die Kameradschaft" im Dezember 1938. Darin ist unter anderem folgender Abschnitt enthalten:
"Schwer lastet das Joch der Gewaltherrschaft auf Deutschland. Das deutsche Volk ist durch das totalitäre Hitlersystem seiner Freiheit beraubt, rechtlos und unterdrückt. Die Würde des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes ist durch die Systematisierung der Anträgerei, Verleumdung, des Betruges und der Heuchelei, durch den totalen Terror vernichtet. Durch ihre imperialistische Machtpolitik droht die Hitlerregierung, das deutsche Volk in den Krieg zu stürzen und somit seinen Untergang herbeizuführen."
Welchen Ideen und Visionen für ein friedliches und freies Deutschland die Widerstandsgruppe um Theo Hespers in diesem Text 1938 entwickelt, und warum ausgerechnet die so gefährlich sind, dass sie sogar im Todesurteil gegen meinen Großvater ausführlicher aufgeführt werden, darüber spreche ich in dieser Ausgabe mit dem Historiker Patrick Bormann.
Alle Links zur Folge findet ihr unter www.die-anachronistin.de
Musik: Anja Arnold | www.klangbuedchen.de
Sprecher: Klaus Jansen, Thomas Ruscher, Sebastian Sonntag
Wo fängst du an ein Feuer zu löschen, wenn es eigentlich schon überall brennt? Welche Themen setzt du in einer Widerstandszeitschrift, wenn du informieren und aufklären, aber eben auch möchtest, dass deine Leser wütend genug werden, um endlich aufzubegehren? Und was, wenn sich die Gewalt eines Regimes im Prinzip gegen jedes Menschliche, alles Humane richtet?
Seit Stunden blättere ich durch die Artikel, die mein Großvater und seine Mitstreiter Anfang 1939 in der Widerstandszeitschrift "Die Kameradschaft" veröffentlich haben. Ich lese jeden einzelnen, mache mir Notizen. Aber nicht einmal ist die Lage der Juden im Deutschen Reich 1939 ausführlich Thema. Und das, obwohl sich deren Lage dramatisch zuspitzt. Warum?
Ein Gespräch mit Matthias von Hellfeld, Historiker und Journalist bekannt aus "Eine Stunde History" von Deutschlandfunk Nova.
"Die ganze Welt ist tief erregt über das, was in Deutschland geschieht. Das Wort "Pogrom" ist in aller Mund. Man glaubt, damit die Ausschreitungen als besonders barbarisch zu kennzeichnen. Aber man erkennt nicht, dass das, was da geschehen ist, schlimmer ist als ein Pogrom."
Denn Pogrome, so die Verfasser, seien Affekthandlungen. Und sie seien Einzelhandlungen, die nur an einer Stelle vorkommen. Was aber in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 passiert, geschieht nicht im Affekt. Im Gegenteil. Im Artikel heißt es dazu:
"Die Aktionen in Deutschland wurden nicht von sinnlosen Volksmassen ausgeführt. Sie waren kalt berechnet, und planmässig organisiert. […] Sie sind kein Ergebnis des "Volkszornes". Die Menschen waren zur Ausführung befohlen, die Häuser listenmässig bezeichnet. Die Zahl der "Stürmer", etwa 15 für jedes Haus, waren vorher ausgesucht und bestimmt. Die Aktionen setzten zur gleichen Stunde ein, sie erfassten jede Stadt, es wurde jedes Geschäft zerstört, fast jede Privatwohnung heimgesucht, es wurde jede Synagoge, sogar jedes kleinste Gebetshaus angezündet. Fast alle Männer zwischen 17 und 70 Jahren wurden verhaftet. Man brachte "sachgemässes" Werkzeug mit."
Auszug aus "Die Kameradschaft" von Dezember 1938
Im September 1938 kommen zwei weitere Jugendliche in Amsterdam an. Heinz S.* genannt “Lux” und sein Freund Bruno Ciepiela genannt “Bruzzi”. Die beiden jungen Männer sind damals zwischen 17 und 19 Jahre alt. Und zumindest Bruzzi scheint ein ziemlich verschlagenes Kerlchen zu sein.
Denn die beiden müssen nicht etwa deshalb fliehen, weil sie in Deutschland als Bündische verfolgt werden. Die beiden fliehen, weil Kollege Bruzzi im Siemenswerk lange Finger gemacht hat. Das zumindest erzählt Heinz S. der Gestapo in einem Verhör vom 11. Oktober 1940, nachdem er in Amsterdam festgenommen wurde. Seine Akten liegen denen von Selma Meyer bei. Er beschreibt den Grund für die Flucht wie folgt:
"Mit Bruno Ciepiela bin ich seit langen Jahren befreundet. Er wohnte im Hause meiner Eltern. Im Laufe der Zeit wurden wir enge Freunde.
Vor ca. 2 Jahren stahl Ciepiela auf dem Werksportplatz der Firma Siemens einem anderen Kameraden etwas Geld. Den Sportplatz hatten wir beide gemeinsam besucht und waren mit unseren Rädern hinausgefahren. Die Räder schlossen wir zusammen an. Als wir uns vom Sportplatz entfernen wollten, kam Ciepiela in Begleitung eines Kriminalbeamten zurück. Was eigentlich vorgefallen war, hatte ich da noch nicht gewusst. Weil wir unsere Räder zusammen aufgestellt hatten, glaubte der Kriminalbeamte, dass ich mit Ciepiela unter einer Decke stand. Ich konnte aber nachweisen, dass ich von dem Diebstahl des Ciepiela nichts gewusst hatte und aus diesem Grunde liess man mich laufen. Ciepiela wurde zu den Räumen der Siemens Werkpolizei gebracht. Einige Tage später traf ich mich wieder mit Ciepiela und erzählte er mir, dass man im Hause seiner Eltern Nachforschungen angestellt hat. Aus Furcht vor Strafe beschloss Ciepiela ins Ausland zu gehen. Er überredete mich, ihn zu begleiten. Ciepiela behauptete nämlich, dass auch ich Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen werde, weil man mich seinerzeit in seiner Begleitung getroffen hätte."
Verhör Heinz S. vom 11. Oktober 1940 in Berlin
Fast 30 Grad im Schatten. Um mich herum wuseln Menschen mit Regenbogenflaggen und wackelnden Penis-Hörnchen-Haarreifen. Sie plappern fröhlich. Ein Mix aus Sprachen. Hinter mir rattert eine Bahn vorbei, Fahrräder, Bromfietsen … mir wird ganz schwindelig, während ich auf das Haus starre, in dem die Widerstandszeitschrift Kameradschaft entstanden ist.
Es ist eingehüllt in eine riesige, weißgraue Plastikplane. Renovierungsarbeiten. Plötzlich habe ich das Gefühl, in einem Wurmloch zu stehen. Vor meinem inneren Auge ist gerade 1938, während in der Realität der 04. August 2018 ist. Gaypride in Amsterdam.
Es gibt diese Momente, in denen ich die Geschichte förmlich fühlen kann. Es ist eine fast körperliche Art des mentalen Begreifens. Im ICE nach Amsterdam habe ich noch einmal die invertito durchgescannt. Das Buch, in dem der Berliner Wissenschaftler Andreas Pretzel über die Bedeutung von Homosexualität im Widerstandskreis um Plato, meinen Großvater und Selma Meyer geschrieben hat. Denn ich plane schon die ganze Zeit diesen Artikel hier zu schreiben. Den Artikel über den Sommer 1938, in dem sich die Dinge in Deutschland weiter zuspitzen – und die zahlreiche junge Menschen, vor allem Männer, dazu veranlassen, zu fliehen.
Januar 1938. Fünf Jahre ist die Hitler-Regierung bereits an der Macht. Aber das Jahr 1938 wird die Situation vieler Menschen in Deutschland noch einmal verschärfen. Das konnten mein Großvater und seine Mitstreitern natürlich noch nicht wissen als sie im Januar 1938 die dritte Ausgabe der “Kameradschaft” veröffentlichten, aber vielleicht haben sie es geahnt.
Allein die Überschrift dieses Artikels hat bei mir zu Nachdenkfalten auf der Stirn geführt: “Ist Hitler legal?” Natürlich nicht! Was für eine Frage?! schießt es mir reflexhaft durch den Kopf, und dann denke ich: Kann es wirklich sein, dass das 1938 immer noch nicht alle gewusst haben? Warum denkt mein Großvater, dass man diese Frage noch mal stellen und vor allem beantworten muss?
Diese Episode geht nicht nur der Frage nach, wie der Widerstandskreis um meinen Großvater die Ereignisse rund um die illegale Machtergreifung der Nazis fein säuberlich und sehr sachlich analysiert. Er zeigt auch, warum es so schwierig war, den Widerstand zu formieren. Vor allem im christlichen Lager.
Zu Gast in diesem Podcast: Der Historiker Dr. Matthias von Hellfeld, bekannt aus "Eine Stunde History" von Deutschlandfunk Nova.
Sommer 1937. Ein belgischer Pfarrer reist durch Deutschland um sich selbst ein Bild davon zu machen, ob und, wenn ja, wie sehr seine Glaubensbrüder und -schwestern vom NS-Regime unterdrückt werden. Was er erlebt ist subtil und vielleicht gerade deshalb so bedrohlich. Denn aktiven Widerstand erlebt er kaum.
“Sie können lange durch Deutschland reisen, ohne sich über die dramatische Situation klarzuwerden, in der unsere katholischen Brüder dort leben. Der Kult wird dem Anschein nach in aller Freiheit weiter ausgeübt. Der ausländische Geistliche kann sich über die Haltung, die ihm gegenüber eingenommen wird, nicht beklagen. Selbst nicht über die Beamten, die sich höflich zeigen. Wenn man ihn als Fremden erkennt, verwandelt sich die Höflichkeit sogar in Unterwürfigkeit.”
Aus: Kameradschaft Ausg. 2, Dezember 1937, S. 34
Den kompletten Artikel ohne Kommentare habe ich euch ans Ende dieser Episode gestellt. Danke an Thomas Ruscher fürs Einlesen!
Dieser Artikel ist eine Zäsur. Und ich weiß gar nicht so recht, wie oder wo beginnen. Denn einerseits seid ihr schon eine ganze Weile mit mir auf einer sehr persönlichen Reise unterwegs. Andererseits möchte ich euch nicht in Schock oder Trauer versetzen. Wohl wissend, dass ich auf beides keinen Einfluss habe. Nicht so richtig zumindest.
Aber es gehört wohl zur Reise eines jeden Menschen auf diesem Planeten, dass wir Weggefährten verlieren. Und für alle, die es noch nicht in den sozialen Netzwerken gelesen haben oder diesen Blog nur unregelmäßig verfolgen, ist das hier wahrscheinlich neu: Heute vor genau fünf Wochen – am 31. Januar 2018 – ist mein Vater im Alter von 86 Jahren gestorben.
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