SWR2 lesenswert - Literatur

Südwestrundfunk

Hier finden Sie die Beiträge aus den SWR2 Literatursendungen an einem Ort: Die SWR Bestenliste und die SWR2 lesenswert Sendungen Feature, Magazin, Kritik und Gespräch. Mit Buchtipps, Diskussionen, Rezensionen und Neuigkeiten.

  • 4 minutes 9 seconds
    Alka Saraogi – Entwurzelt
    Kalkutta, im Jahr 1999. Wie so oft ist Kulbhushan für Botengänge im Auftrag seiner Brüder unterwegs. Heute aber ist etwas anders: ein Plakat lässt ihn innehalten.  Es hing in der Lower Circular Road, kündigte irgendein Theaterstück an mit dem Titel „Autobiographie“. Darunter stand: „Das Epos vom letzten Jahr des 20. Jahrhunderts“.

    Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt

    Kulbhushan staunt. Denn der Schauspieler heißt wie er. Und so beginnt er, ein Hindu und Nachfahre einer eingewanderten Marwari-Handelsfamilie, sich zu erinnern: an seine ehemalige Heimat im heutigen Bangladesch, an seinen Freund Shyama – einen muslimischen Wäscher – und an den Fluss Gorai, der einst Teil seines Lebens und seiner Seele war. Denn all das hat Kulbhushan verloren. Er ist „Entwurzelt“, wie auch der neue Roman von Alka Saraogi heißt: Während seine Brüder unmittelbar vor der Teilung 1947 auswanderten und in Kalkutta Fuß fassen konnten, verließ er die geliebte Heimat erst 1964, aufgrund von sich mehrenden Unruhen gegen Hindus.  

    Kulbhushan: Außenseiter und Underdog 

    Wirklich angekommen ist Kulbhushan nie. Im Gegenteil: Seine älteren Brüder betrachten ihn bis jetzt als Eindringling und nutzen ihn als ihren Diener aus.   Die drei älteren Brüder waren verheiratet und mit Familie und Geschäft in Kalkutta etabliert. Nur er war auf der Strecke geblieben. Weder gehörte er richtig zu Indien noch zu Pakistan. Niemand war sein Freund, niemand half ihm. 

    Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt

    Zwar hat er irgendwann geheiratet. Doch seine Frau ist keine Marwari. Seitdem meiden seine Brüder ihn noch mehr; sie fürchten, sich am Essen dieser Frau zu verunreinigen. Kulbhushans Vater wiederum überquert erst 1971 mit Millionen von Flüchtlingen die Grenze, als sich Bangladesch in einem Krieg gewaltsam von Pakistan lossagt. Es ist dieser Krieg, in dem auch Kulbhushans einziger Freund Shyama sterben wird. Wie Kulbhushan ist er ein Außenseiter in der eigenen Familie:  Als er seiner Mutter mitteilte, er wolle heiraten, entgegnete sie: „Wer wird dir denn seine Tochter zur Frau geben? Ich habe dich von Jogi Baba bekommen. Da warst du schon beschnitten. Du bist weder ein richtiger Muslim noch ein richtiger Hindu. Alle hier wissen das. 

    Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt

    Wie Kulbhushan widersetzt auch Shyam sich dem wachsenden Hass: Er nimmt eine hinduistische Witwe zur Frau und akzeptiert ihr ungeborenes Kind als seins. 

    Religiöse und kulturelle Grenzen 

    Alka Saraogi stammt selbst aus einer bengalischen Marwari-Familie und lebt heute in Kalkutta. Ihren Roman spannt sie über vier Jahrzehnte und über beide Seiten der Ost-West-Grenze Bengalens hinweg. Dabei macht sie deutlich, dass es hier nicht nur um den Hass zwischen Hindus und Muslimen ging: Im Laufe der Jahre kam es auch zu Hass und Gewalt zwischen den Urdu-sprechenden Muslimen in Westpakistan und den bengalischen Muslimen, die in den Augen der pakistanischen Regierung als zu liberal und deshalb als minderwertig galten. Der Operation Searchlight, 1971 vom damaligen Westpakistan aus gegen die Bevölkerung des heutigen Bangladesch durchgeführt, fielen rund 3 Millionen Bengalis zum Opfer. 

    Appell an die Gleichheit aller Menschen 

    Alka Saraogi lässt die damaligen kollektiven Traumata dabei so sensibel wie eindringlich zur Sprache kommen: In zahlreichen Nebensträngen springt die Handlung kunstvoll in der Zeit und zwischen Erzählperspektiven hin- und her. Mit einem begnadeten Auge für lebensechte Details erzählt sie zugleich vom ewigen Leid der Flüchtlinge: von Folter, Vergewaltigung, Diskriminierung und Vertreibung. Und doch obsiegt in diesem Roman der grundlegende Glaube und der Appell an die Gleichheit aller Menschen, ungeachtet von Hautfarbe, Kaste, Klasse, Gemeinschaft oder Religion. „Entwurzelt“, hervorragend übersetzt von Almuth Degener, kartografiert somit ein komplexes Terrain der Geschichte – und könnte doch, angesichts der globalen Krisenherde, aktueller nicht sein. 
    6 May 2024, 4:30 pm
  • 20 minutes 16 seconds
    Elizabeth Strout: Am Meer | Lesung und Diskussion
    „Am Meer“ von Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout ist ein Pandemie-Roman im tiefgründigen Plauderton. Meike Feßmann lobt die „starken Figuren“, stört sich aber an der Haltung einer Erzählerin, die nicht nur die chaotische Weltlage, sondern auch die Prosa mit Floskeln der Selbstvergewisserung zu strukturieren versucht. Christoph Schröder erkennt darin den geglückten Versuch, die Widersprüchlichkeit der privaten und politischen Gemengelage dieser Epoche einzufangen.
    5 May 2024, 3:04 pm
  • 1 hour 20 minutes
    SWR Bestenliste Mai mit Büchern von Louise Glück, Didier Eribon u.a.
    Gestritten wurde zum Schluss: Meike Feßmann, Julia Schröder und Christoph Schröder diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Mai verzeichneten Werke in der Stuttgarter Stadtbibliothek. Auf dem Programm standen mit „Marigold und Rose“ von Louise Glück die einzige Erzählung der für ihre Dichtung ausgezeichnete Literaturnobelpreisträgerin. Mit „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ von Julia Jost ein österreichischer Anti-Heimat-Roman aus ungewöhnlicher Erzählperspektive. Mit „Am Meer“ von Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout ein Pandemie-Roman im tiefgründigen Plauderton. Und mit „Eine Arbeiterin“ von Bestseller-Autor Didier Eribon eine essayistische Abhandlung über „Leben, Alter und Sterben“ der Mutter. Das Buch löste einen Grundsatzstreit über den zitatgetriebenen Stil des Autors und die soziologische Aufladung der Gegenwartsliteratur auf. Aus den vier Büchern lesen Isabelle Demey und Johannes Wördemann.
    5 May 2024, 3:04 pm
  • 15 minutes 43 seconds
    Louise Glück: Marigold und Rose | Lesung und Diskussion
    Louise Glücks Erzählung „Marigold und Rose“ ist das einzige Prosawerk der für für ihre Dichtung ausgezeichneten Literaturnobelpreisträgerin. Meike Feßmann und Julia Schröder lobten die bildstarke Geschichte über Zwillingsschwestern, die sich schon als Baby ihr Erwachsenenleben ausmalen. Christoph Schröder nannte das Buch eine „literarische Fingerübung“.
    5 May 2024, 3:04 pm
  • 19 minutes 41 seconds
    Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht | Lesung und Diskusssion
    Mit „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ legt die Schriftstellerin Julia Jost einen (Anti-)Heimat-Roman aus ungewöhnlicher Erzählperspektive und in einer überbordenden Sprache vor. Leidet das Prosadebüt der Kärntner Schriftstellerin aber unter der Verwandlung der beschriebenen Abgründe in folkloristisches Dekor? Die Jury, die viele skurrile Einfälle des Buchs heraushebt, ist sich in dieser Frage uneins.
    5 May 2024, 3:04 pm
  • 25 minutes 16 seconds
    Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben | Lesung und Diskussion
    Mit „Eine Arbeiterin“ hat Didier Eribon eine essayistische Abhandlung über „Leben, Alter und Sterben“ der Mutter vorgelegt. Das Buch des französischen Bestseller-Autors löste in der Jury einen Grundsatzstreit über den zitatgetriebenen Stil des Autors und die soziologische Aufladung der Gegenwartsliteratur auf.
    5 May 2024, 3:04 pm
  • 55 minutes 49 seconds
    Kafka-Kult – Das erstaunliche Nachleben des Franz K.
    Wie kann es sein, dass ein Schriftsteller, der zu Lebzeiten kaum etwas veröffentlicht und hauptberuflich als Versicherungsbeamter gearbeitet hat, nach seinem Tod mit drei nicht einmal fertigen Romanen zum globalen Phänomen wird? Und warum lässt uns dieser Mensch und Autor, der auf Fotos so eindringlich sanft und rätselhaft traurig aussieht, bis heute nicht los? Feature-Autor Thomas von Steinaecker war in Prag auf Kafkas Spuren unterwegs, zusammen mit dem Schriftsteller Jaroslav Rudiš. Er hat die Autoren Michael Kumpfmüller und Susanne Röckel befragt, was Kafkas Werk so unwiderstehlich macht, und mit Experten auch über die komischen Aspekte in Kafkas Texten gesprochen.
    5 May 2024, 12:04 pm
  • 4 minutes
    Nicola Kuhn – Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam
    Als Kind stand Nicola Kuhn in ihrem Elternhaus oft vor einem meterhohen Wandschirm aus China. Auf ihm reißt ein Drache sein Maul auf, bleckt seine Zähne und fährt seine Krallen aus. Damals in ihrer Kindheit habe der Paravent ihre Fantasie regelrecht beflügelt, erinnert sich die Journalistin. Umso mehr als es sich dabei um ein Geschenk des Kaisers von China höchstpersönlich an ihren Urgroßvater handelte. So zumindest erzählte es ihre Mutter. Inzwischen steht der Wandschirm längst in ihrer eigenen Wohnung, berichtet Nicola Kuhn in ihrem Buch „Der chinesische Paravent“, doch ihr Verhältnis zu ihm sei kompliziert geworden.   Für mich transportiert der Paravent neben privaten Erinnerungen heute vor allem koloniale Geschichte und unsere familiäre Involviertheit. Der Blick darauf hat sich geändert, angestoßen durch ein gewachsenes postkoloniales Bewusstsein.  

    Quelle: Nicola Kuhn – Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam

    Kolonialist und Kriegsgewinnler 

    Es waren die Wochen des Corona-Lockdowns, in denen sich die studierte Kunsthistorikerin intensiv mit der Herkunftsgeschichte des exotischen Möbelstücks beschäftigte. Und mit ihrem Vorfahren, dem Hamburger Kaufmann Carl Bödiker. Wie sich herausstellte, verdiente der sich um 1900 eine goldene Nase damit, die deutschen Truppen in der Kolonie Tsingtau zu versorgen, die den sogenannten „Boxeraufstand“ niederschlagen sollten, ein verzweifelter Widerstand chinesischer Bauern gegen die Ausbeutung durch die europäischen Kolonialmächte. Dass der Wandschirm ein Geschenk des chinesischen Kaisers war, ist eher unwahrscheinlich; vermutlich gelangte er infolge der Plünderung Pekings in die Hände ihres Vorfahrens, so Kuhn. 

    Menschenschädel als Trophäe 

    Mit ihrem Buch zeigt die Autorin auf über 350 Seiten eindrucksvoll, warum sich die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem deutschen Kolonialerbe längst nicht nur Museen oder ethnologischen Sammlungen stellt. Denn Nicola Kuhn erforscht noch zehn weitere Erbstücke in deutschen Wohnzimmern, in denen sich die Kolonialgeschichte des Kaiserreichs verdichtet. Sie stehen exemplarisch für mutmaßlich Abertausende weiterer solcher Artefakte in deutschem Privatbesitz, aus China, Papua-Neuguinea oder Afrika. Darunter ist vermeintlich Harmloses wie ein ausgestopfter Papagei, Skurriles wie der Gipfelstein des Kilimandscharo oder Martialisches wie ein Kriegerschild aus Deutsch-Ostafrika. Aber auch Abgründiges wie eine Nilpferdpeitsche oder gar der Schädel eines Herero. Ausgehend von diesen Objekten rücken in Kuhns Recherchen die Menschen in den Blick, die diese Dinge einst als Trophäen oder Erinnerungsstücke nach Deutschland gebracht haben, unter ihnen Missionare und Militärs, Künstler und Unternehmer.   Mich interessierte, wie sie sich in den Kolonien zu Rassismus und Unrecht verhielten, welche Wendung dadurch ihr Leben nahm, was die Folgen ihres Handelns für die lokale Bevölkerung waren. Und ich wollte wissen, welche Position die Angehörigen heute zu dieser Vergangenheit beziehen, wie sie mit dem Erbe in Form eines mitgebrachten Hockers oder Silbergeschirrs umgehen, das einst möglicherweise gewaltsam entwendet wurde. 

    Quelle: Nicola Kuhn – Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam

    Beschönigen, profitieren, zurückgeben? 

    Tatsächlich sind die Umgangsweisen der heutigen Erben mit diesen Objekten – vielleicht der spannendste Aspekt von Kuhns Buch – denkbar unterschiedlich. Verbreitet ist das Bemühen, dem Familiennarrativ zu folgen und die Taten der Vorfahren zu beschönigen, eine Parallele zum verbreiteten verharmlosenden Umgang mit dem Handeln von Familienangehörigen in der NS-Zeit. Einige Nachfahren setzen dagegen erstaunlich unbekümmert die Ausbeutungslogik des Kolonialismus fort und versuchen, aus ihrem Erbe auf die eine oder andere Weise Profit zu schlagen. Und dann gibt es noch jene, denen diese Erbstücke inzwischen so unheimlich geworden sind, dass sie sie an die Nachfahren in den Herkunftsländern zurückzugeben versuchen. Mit ihrem Buch ist Nicola Kuhn ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung des deutschen Kolonialerbes im Privaten gelungen. Es ist glänzend recherchiert, faszinierend zu lesen und – lange überfällig.  
    2 May 2024, 4:30 pm
  • 4 minutes
    Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert
    Ganz schön mutig, ein dramatisches Jahrhundert wie das sechzehnte auf etwas mehr als 500 Seiten auf den Begriff zu bringen. Marina Münkler, Spezialistin für die frühe Neuzeit und das späte Mittelalter, hat dieses Wagnis auf sich genommen. Was waren, Münklers Analyse zufolge, die entscheidenden Verwerfungen, die sich in der Spät-Renaissance vollzogen haben?  Ich habe versucht, in meinem Buch drei zentrale Konfliktfelder zu entfalten. Das ist einmal die Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich. Stichwort: die Türken – keine korrekte Bezeichnung für das Osmanische Reich, aber es ist auch immer von den „Türken“ und den „Türkenkriegen“ gesprochen worden in der Zeit. Das Zweite ist die Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt, also die Errichtung einer ziemlich grausamen Herrschaft über bis dahin völlig unbekannte Gebiete. Und das dritte ist die Reformation. Und ich glaube, man kann das charakterisieren mit den drei Worten: die „Türken“, die „Heiligen“ und die „Wilden“. Und dann hat man dieses Jahrhundert, glaube ich, angemessen charakterisiert, wobei man immer bedenken muss, dass man kein Jahrhundert quasi vollständig aus erzählen kann. 

    Quelle: Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert

    Kolonialismuskritischer Diskurs bereits im 16. Jahrhundert

    Im Südosten musste sich das christliche Europa im 16. Jahrhundert der anstürmenden Osmanen unter Sultan Süleyman dem Prächtigen erwehren. Zur gleichen Zeit eroberten spanische und portugiesische Konquistadoren weite Teile Mittel- und Südamerikas. Marina Münkler beschreibt nicht nur die Grausamkeiten der Konquistadoren, sie rekapituliert auch – überaus spannend – den kolonialismuskritischen Diskurs, der bereits im 16. Jahrhundert aufkam.  Die Eroberung des südamerikanischen Kontinents hat erhebliche Diskussionen ausgelöst. Zum einen gibt es sowohl auf kirchlicher als auch auf weltlicher Seite eine ganze Reihe von Leuten, Theologen oder Juristen, die das vehement als gerechtfertigt vertreten. Es gibt aber auch überaus scharfe Kritik daran. Bartolomé de Las Casas ist der berühmteste Name in diesem Kontext – ein Dominikaner, der ursprünglich selbst mal einer von diesen Eroberern gewesen ist, sich dann aber bekehrt hat und danach tatsächlich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht hat, die sogenannten Indios, zu schützen. Und das ist schon spannend, diese Diskussion, die es da gibt.  

    Quelle: Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert

    Erfindung des Buchdrucks bewirkt Medienrevolution

    Auch die mediengeschichtliche Revolution, die sich im 16. Jahrhundert vollzieht, nimmt Marina Münkler in ihrem Buch in den Blick. Die neue Technik des Buchdrucks, von Martin Luther und seinen Mitstreitern gekonnt eingesetzt, bringt neben einem Zuwachs an Bildung und anderen Segnungen auch weniger schöne Seiten mit sich. Die öffentlichen Debatten werden bösartiger und gehässiger, stellt Münkler fest.   Das ist ein Eindruck, der sich aufdrängt, dass die Kommunikation im 16. Jahrhundert eine Dynamik entfaltet und auch eine hasserfüllte Aggressivität, wie wir sie heute auch wieder sehen, ohne dass ich denken würde, man muss das zu direkt vergleichen. Eher kann man sagen, es zeigt sich, dass der Konfliktaustrag in dem Moment ein anderer wird, in dem eine dynamische mediale Situation besteht. Und das ist im 16. Jahrhundert eben der Fall, dadurch, dass die Flugschrift sich entwickelt, dass es die sogenannten neuen Zeitungen gibt, und dass jetzt alle Konflikte sehr schnell in viel breitere Schichten getragen werden. Und interessanterweise geht das mit einer Sprache einher, die sehr stark auf Verunglimpfung, Schmähung, Herabsetzung setzt. 

    Quelle: Marina Münkler – Anbruch der Neuen Zeit – Das dramatische 16. Jahrhundert

    Mit ihrem Epochenpanorama, flüssig und wohltuend unakademisch geschrieben, gelingt Marina Münkler das eindrucksvolle Porträt eines Jahrhunderts, das in vielem auch unsere Gegenwart noch prägt. 
    29 April 2024, 4:30 pm
  • 4 minutes 15 seconds
    Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen
    Im walisischen Bergarbeiterstädtchen Aberfan ereignete sich 1963 eines der schlimmsten Unglücke in der Nachkriegsgeschichte Großbritanniens: Am Fuß einer Halde waren vom Wasser gesättigte Grubenabfälle abgesackt… … eine dunkle, gleißende Welle [brach] aus dem Hang heraus, ergoss sich bergab und riss die restliche Halde mit sich.

    Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen

    Der gewaltige Strom stürzte ins Tal, das Dorf wurde buchstäblich verschüttet – und mit ihm 144 Menschen. Dieses Unglück weckte das Interesse des 42-jährigen Psychiaters John Barker, der ein leitender Facharzt am Shelton Hospital und ein aufstrebender Wissenschaftler war. Allerdings fuhr er nicht nach Aberfan, um den Hinterbliebenen psychologischen Beistand zu leisten, sondern vielmehr weil er von einem außergewöhnlichen Phänomen Kenntnis genommen hatte: Mehrere Einwohner hätten Tage vor der Katastrophe Vorahnungen geäußert. Barker war fasziniert von außergewöhnlichen Geisteszuständen, arbeitete gerade an einem Buch über Menschen, die aus Furcht sterben, und hier erhoffte er sich, neues Material für seine Untersuchungen des Unheimlichen und Unerklärlichen zu finden. Er, der angesehene Schulmediziner, war sogar Mitglied der British Society for Psychical Research, einer Organisation zur Erforschung paranormaler Phänomene.

    Eine neue Dimension der Psychiatrie

    Barker glaubte, dass die Psychiatrie um eine ‚neue Dimension‘ erweitert werden könnte, die nur darauf wartete, in die derzeitige etablierte Wissenschaft integriert zu werden, sofern Ärzte sich nur davon überzeugen lassen wollten, (psychische) Störungen oder Zustände zu erforschen, die gemeinhin als randständig oder übernatürlich galten.

    Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen

    Der Journalist Sam Knight, der vornehmlich für den New Yorker arbeitet, hat nun ein verstörendes, beunruhigendes, spannendes Buch über diesen wissenschaftlichen Outsider, über „Vorauswissen“ und paranormale Erscheinungen geschrieben – und über das „Büro für Vorahnungen“, das Barker zusammen mit dem Redakteur Peter Fairley vom London Evening Standard ins Leben rief. Ein Jahr lang sollten die Leser der Zeitung die Möglichkeit haben, ihre Träume und Vorahnungen einzureichen, die im Büro für Vorahnungen gesammelt und mit tatsächlichen Ereignissen rund um die Welt abgeglichen würden.

    Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen

    Sammlung unheimlicher Vorahnungen

    Wer sich mit Vorahnungen befasst, verlässt rasch den Boden des Wissenschaftlichen. Sam Knight schildert auf raffinierte Weise die Entwicklungen rund um das Büro, die zwiespältige Rolle von John Barker, den einerseits Neugier, andererseits aber auch enormer Ehrgeiz antrieb. Er nimmt ernst, was damals Mitte der 60er Jahre geschah, lässt mehr oder minder offen, was er selbst von den teils unheimlichen Berichten und Voraussagen hält, die zu Hunderten eingereicht wurden, und er wirft auch einen entlarvenden Blick auf die psychiatrischen Anstalten jener Zeit. Knight befasst sich dabei nicht nur umfassend mit der Biografie Barkers, sondern auch mit der zweier Medien, die besonders viele Volltreffer landeten: Die Musiklehrerin Miss Lorna Middleton und der Postmitarbeiter Jakob Hencher sagten etwa beide ein furchtbares Zugunglück voraus. Am 1. November fühlte sich die Musiklehrerin akut depressiv. Sie saß in ihrer Küche in Edmonton. ‚Langsam tauchte ein Streifen vor mir auf, dann ein Lichtblitz, dann eine Art grauer Nebel. Ich versuchte herauszufinden, wo genau das war‘, sagte sie später. ‚Das Wort ›Zug‹ drang immer wieder durch. Zug … Zug.‘ Miss Middleton schrieb ihre Vision nieder und sandte sie an das Büro: ‚Ich sehe einen Unfall … auf einer Bahnstrecke vielleicht … auch ein Bahnhof könnte betroffen sein … wartende Menschen am Bahnsteig … die Worte Charing Cross … ich hörte es buchstäblich KRACHEN.‘

    Quelle: Sam Knight – Das Büro für Vorahnungen

    Katastrophen können nicht verhindert werden

    Allerdings war der Erfolg des „Büros für Vorahnungen“ am Ende doch überschaubar. Mit gutem Willen konnte man höchstens drei Prozent der eingegangenen Vorahnungen durch spätere Geschehnisse bestätigen. Wo eine übernatürliche Fähigkeit aufzublitzen scheint oder der Zufall eine entscheidende Rolle spielt, wo aus Unsinn Sinn konstruiert wird, das lässt sich eben schwer sagen. Es geht dabei mehr um Glaubensfragen. Eigentlich möchte man, um eigener Verunsicherung vorzubeugen, der Welt doch lieber als einer rational erklärbaren begegnen. Überhaupt: Welche Funktion kann solch ein Büro erfüllen? Können Katastrophen wirklich verhindert werden? Wenn Vorahnungen tatsächlich mit der Fähigkeit zu tun haben sollten, Bilder aus der Zukunft zu empfangen, wie vermutet wurde, dann würden die Warnungen sinnlos sein, weil die zukünftigen Ereignisse sich nicht ändern ließen. Aber doch entsteht beim Lesen von Knights Debüt ein Gefühl für die Faszination, die Menschen wie John Barker angesichts des Unerklärlichen erfasst haben muss. Dass Barker übrigens selbst zum Objekt von Voraussagen wurde und sein Weg (wie von einigen Probanden antizipiert) ziemlich abrupt endete, das ist eine Pointe seines Lebens und des Buches, die man sich kaum besser hätte ausdenken können.
    28 April 2024, 3:04 pm
  • 4 minutes 34 seconds
    Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz
    Abdulrazak Gurnah verschränkt die Geschichte eines Jungen aus der muslimisch-arabischen Minderheit im Sansibar der 1970 er Jahre mit der dazugehörigen nationalen Geschichte Tansanias und Sansibars - der Heimat auch des Autors Abdulrazak Gurnah. Bevor ihm die Dinge entglitten waren, hatte mein Vater jahrelang im Büro der Wasserbehörde in Gulioni gearbeitet. Jobs in der öffentlichen Verwaltung waren sicher und hoch angesehen. Ich war damals noch jung und kenne diesen Abschnitt seines Lebens nur aus Erzählungen. In meinen späteren Erinnerungen arbeitet er an einem Marktstand oder sitzt untätig in seinem Zimmer herum. Sehr lange hatte ich keine Ahnung, was schief gelaufen war, und nach einer Weile fragte ich nicht mehr nach. Es gab so vieles, was ich nicht wusste. 

    Quelle: Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz

    Revolutionäre Umbrüche in Tansania

    Es ist ein nüchterner, dem realen Ereignis und dem Alltag folgender Ton. Mit dem Fortgang des Romans, mit dem Älterwerden seiner Figuren greifen die politischen Ordnungen immer unerbittlicher auch nach der Familie des Erzählers. Nachdem die Kolonialmächte Mitte der 1960er Jahre vertrieben sind, gerät Tansania in immer neue politische Konstellationen mit stets anderen Gewinnern oder Verlierern. Auch die Eltern des Erzählers bewegen sich in einem Kreislauf aus Täuschung und Verrat – und dort, wo einer gerettet wird, muss an anderer Stelle dafür bezahlt werden. Die revolutionären Umbrüche verwirklichen sich auch im gnadenlosen Zugriff auf Liebesbeziehungen und Familien. Die Leidenszeit ist mit dem Abzug der Kolonialmacht nicht zu Ende: Die neuen Machthaber taten sich dabei besonders hervor, stellten den Frauen, die sie begehrten, ungeniert nach und mussten kaum befürchten, irgendwen damit zu verletzen. Oder vielleicht gingen sie absichtlich indiskret vor, gerade um andere zu verletzen, so wie ein Mann den geschlagenen Rivalen demütigt, indem er dessen Mutter, Schwester oder Frau respektlos behandelt. Sie prahlten mit ihren Eroberungen und der angerichteten Verwüstung, belegten einander mit Namen aus dem Tierreich und lachten sich über die eigenen Frivolitäten kaputt. 

    Quelle: Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz

    Studium in Großbritannien

    Nur wenn die Mutter des Erzählers sich mit einem der Machthaber einlässt, kann sie ihren in Ungnade gefallenen Bruder retten, zerstört damit aber ihre eigene Familie. Diese Tragödie, die Kindheit und Jugend des Erzählers mit der zerstörten Liebe seiner Eltern, aber auch die in die Köpfe eingepflanzten rassistischen Muster zwischen den einzelnen Communities - all das wird aus der Perspektive des nunmehr Erwachsenen zusammengetragen, erzählt und neu gedeutet. Als der Erzähler schließlich zum Studium nach Großbritannien geht - wir sind in den 1980er Jahren - steuert er zugleich auf seine intellektuelle und emotionale Befreiung zu: Er erkennt, dass an ihm wiedergutgemacht werden soll, was seinen Eltern einst angetan wurde. Gurnahs Ich-Erzähler, zumindest ein Stück weit, kann aus diesen Zwängen ausbrechen, und er bricht aus dem für ihn vorgesehenen Lebensplan aus: Schriftsteller will er werden, nicht Manager oder Politiker.  Einige der Texte, die ich fürs Studium lesen musste, befremdeten mich durch ihre zur Schau gestellte Kunstfertigkeit, ihre gnadenlose Besserwisserei und ihre, wie mir damals schien, absolute Sinnlosigkeit. Andere konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, und dann schwankte ich zwischen Bewunderung und Verachtung für diese Leute, die ihr Leben lang an Artefakten von überbordender Hässlichkeit gefeilt hatten. Als ich später selbst zu schreiben anfing, stellte ich fest, dass ich anscheinend doch etwas gelernt hatte, dass der Weg sich mir langsam offenbarte.

    Quelle: Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz

    Eine wahrhaftige Geschichte in unprätentiöser Sprache

    So einfach die Sprache und der Stil des Nobelpreisträgers auch erscheinen mögen - Gurnah zieht seine Leserschaft um so nachdrücklicher in seinen Roman mit hinein. Der unprätentiöse Stil beglaubigt die Wahrhaftigkeit dieser Geschichte, und mit der stilsicheren Übersetzung von Eva Bonné ist das nun auch in Deutschland nachzulesen.
    28 April 2024, 3:04 pm
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