Alles Geschichte - History von radioWissen

Bayerischer Rundfunk

Wir beleuchten die Zusammenhänge zwischen gestern und heute und erzählen einfach gute Geschichten. Ein History-Podcast von radioWissen.

  • 23 minutes 3 seconds
    JÜDISCH-BAYERISCHE SPURENSUCHEN - Feuchtwangers Fluchten und seine Bücher

    Bibliotheken haben bekanntlich keine Füße. Aber - Lion Feuchtwanger, der Meister des historischen Romans aus München, musste schnell sein, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. So baute er in seinem Leben drei Bibliotheken auf, mit jeweils mehr als 10.000 Büchern: in Berlin, im französischen und amerikanischen Exil. Diese Bibliotheken waren weit mehr als nur Bücher in Regalen - sie waren das immobile Alter Ego Lion Feuchtwangers. Von Michael Zametzer (BR 2024)

    Credits
    Autor: Michael Zametzer
    Regie: Kirsten Böttcher
    Es sprachen: Udo Wachtveitl, Christopher Mann
    Technik: Stefan Oberle
    Redaktion: Thomas Morawetz
    Im Interview: Dr. Julia Schneidawind, Dr. Heike Specht
     
    Ein besonderer Linktipp der Redaktion:

    Wir bedanken uns bei der Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die uns bei dieser Folge wissenschaftlich beraten hat. Mehr Infos zum Projekt gibt es HIER.

    Literaturtipps:

    Julia Schneidawind (2023): Schicksale und ihre Bücher. Deutsch-jüdische Privatbibliotheken zwischen Jerusalem, Tunis und Los Angeles. Vandenhoeck & Ruprecht.

    Während eine nicht bezifferbare Masse an jüdischem Buchbesitz durch Raub, Verfolgung, und Krieg nach 1933 unwiederbringlich zerstört wurde, sind heute wenige Sammlungen über die Welt verstreut erhalten geblieben. Folgt man den Spuren der Sammlungen von ihrem Entstehungskontext an ihre heutigen Verwahrungsorte, eröffnen sich wichtige Erkenntnisse mit Blick auf die Frage nach Translokation materieller Kultur, aber auch dem Nachwirken deutsch-jüdischen Büchererbes heute in unterschiedlichen Räumen und Kontexten. Hier geht’s zum BUCH.

    Heike Specht (2024): Die Frauen der Familie Feuchtwanger. Eine unerzählte Geschichte. Piper Verlag.

    Die deutsch-jüdische Familie Feuchtwanger vollzog im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen spektakulären Aufstieg von der Fürther Provinz ins Großbürgertum der Residenzstadt München. Ein Aufstieg, der undenkbar gewesen wäre ohne vier Generationen starker Frauen, die die Familiengeschicke durch die historischen Wirren lenkten, als knallharte Geschäftsfrauen, als Pionierinnen und in Zeiten der Verfolgung als echte Heldinnen. Heike Specht erzählt die Geschichte der Feuchtwangers aus der weiblichen Perspektive und berichtet von außergewöhnlichen Lebensentwürfen aus fast 200 Jahren. Denn hinter großen Familien stecken oft mächtige Frauen. Hier geht’s zum BUCH.
     
    Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:


    Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

    DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

    Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

    Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

    Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
    ARD Audiothek | Alles Geschichte
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    Timecodes (TC) zu dieser Folge:

    TC 00:15 - Intro
    TC 02:12 – Die Bibliotheken deutscher Sprache
    TC 04:03 – Bayrisch-Barock & Jüdisch-Orthodox
    TC 07:46 – Wandel zum politischen Schriftsteller
    TC 13:41 – Französisches Exil
    TC 16:22 – In der Villa Aurora
    TC 19:30 – Die Hüter des Vermächtnis
    TC 22:10 - Outro

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    TC 00:15 - Intro

    MUSIK, kratzend, berstend, zerstörend, darüber

    Zitator (Lion Feuchtwanger):
    Wie gefällt Ihnen mein Haus, Herr X? Lebt es sich angenehm darin? hat der silbergraue Teppichbelag der oberen Räume bei der Plünderung durch die SA-Leute sehr gelitten?

    Sprecher:
    Im Jahr 1933 besetzen und enteignen die Nazis das Haus von Lion Feuchtwanger in Berlin…

    Zitator (Lion Feuchtwanger):
    Was fangen Sie wohl mit den beiden Räumen an, die meine Bibliothek enthielten? Bücher, habe ich mir sagen lassen, sind nicht sehr beliebt in dem Reich, in dem sie leben, Herr X. Und wer sich damit befasst, gerät leicht in Unannehmlichkeiten.

    Sprecher:
    Die Bibliothek umfasst über 30.000 Bücher. Erstausgaben, deutsche Klassiker, Jüdische Literatur. Das Arbeitswerkzeug des Schriftstellers, des Bestsellerautors Lion Feuchtwanger…

    Zitator (Lion Feuchtwanger)
    Kommt es Ihnen nicht doch manchmal merkwürdig vor, dass sie in meinem Haus sitzen? Ihr Führer gilt sonst nicht als Freund der jüdischen Literatur.

    Sprecher:
    Drei Bibliotheken hat Lion Feuchtwanger in seinem Leben aufgebaut. Die Erste in Berlin. Und noch zwei im Exil. Im französischen Sanary-Sur-Mer, und schließlich in Pacific Palisades, einer Villenkolonie nahe Los Angeles. Er, der Münchner Jude, der Weltschriftsteller, berühmt für seine historischen Romane, für Jud Süß, Erfolg, die Josephus-Trilogie, wird die USA nie mehr verlassen. Er bleibt staatenlos. Und die Bibliotheken erzählen vom Leben des deutschen, des bayerischen, des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger.

    TC 02:12 – Die Bibliotheken deutscher Sprache

    1 ZSP Julia Schneidawind
    Es sollte auch eine Bibliothek der deutschen Sprache werden…

    Sprecher:
    Julia Schneidawind hat für die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gearbeitet und forscht nun am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität.
    Für ihre Doktorarbeit hat sie die Schicksale von Privatbibliotheken deutsch-jüdischer Schriftsteller untersucht: Franz Rosenzweig, Jakob Wassermann, Karl Wolfskehl, Stefan Zweig und – Lion Feuchtwanger. Dessen letzte Bibliothek, in Pacific Palisades bei Los Angeles, hat für sie einen besonderen Stellenwert.

    2 ZSP Julia Schneidawind
    Er hatte ja ganze Abteilungen, die sich wirklich deutschsprachigen Literaten und Schriftstellerinnen gewidmet haben, und es war ihm eben auch ein Anliegen, das zu zeigen. Und es waren zum einen die Exil-Schriftsteller, -Schriftstellerinnen, aber auch eben jene, die es nicht ins Exil geschafft haben. Und dafür stellt der Ort auf jeden Fall auch einen ja, wie wir heute sagen, eine Memorial Library dar. 

    Sprecher:
    Aber egal, ob in Berlin, im französischen oder amerikanischen Exil - Natürlich war jede dieser drei Bibliotheken Feuchtwangers auch ein repräsentativer Ort. Besucher sollten nicht nur seltene Erstausgaben bewundern, sondern auch das intellektuelle Koordinatensystem erspüren können, in dem sich der Erfolgsschriftsteller bewegte. Die Bibliotheken waren aber noch mehr. Sie waren Feuchtwangers immobiles Alter Ego. Und als ihr Besitzer schnell sein musste, um zu entkommen, blieben Sie am Ort und waren den Nazis ausgeliefert. So erzählen diese Bibliotheken zunehmend auch von einem Menschen in der Fremde, der immer wieder versucht, mit Büchern eine Verbindung zum verlorenen Zuhause herzustellen.

    TC 04:03 – Bayrisch-Barock & Jüdisch-Orthodox

    MUSIK Kindheit und Jugend in München

    Sprecher:
    Lion Feuchtwanger kommt aus einem bürgerlichen Münchner Haus. Der Vater, Sigmund Feuchtwanger ist erfolgreicher Margarinefabrikant. Er stammt aus einer alten fränkisch-jüdischen Familie. Lion, ältestes von neun Kindern, wächst im Münchner St. Anna-Viertel auf. Die Familie gehört zum orthodoxen Münchner Judentum, lebt die strengen jüdischen Traditionen, aber…

    3 ZSP Heike Specht
    Die Feuchtwangers waren eben eine wirklich besondere Mischung für die damalige Zeit. Bayerisch-Barock würde ich fast sagen, und jüdisch-orthodox. Das ging ganz gut zusammen.

    Sprecher:
    Die Schriftstellerin Heike Specht hat sich intensiv mit dem Leben der weitverzweigten Familie Feuchtwanger beschäftigt, mit ihren Traditionen und ihrem jüdischen Selbstverständnis. Ein Selbstbewusstsein, dass sich auch in der stattlichen Bibliothek des Elternhauses widerspiegelt. Julia Schneidawind.

    4 ZSP Julia Schneidawind
    Das ist, denke ich, charakteristisch für diese Sammlungen um die Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts, dass diese Sammlungen natürlich seit der Jugend meistens wachsen, wenn man aus einem bildungsbürgerlichen Elternhaus kommt. Und natürlich spielen dann auch Antiquariate eine große Rolle. Und so wachsen sozusagen diese Sammlungen über die Generationen und kriegen natürlich immer einen sehr eigenen Zuschnitt über die Interessen, die man eben persönlich dann auch hat. 

    Sprecher:
    Die Bibliothek von Vater Sigmund bietet einen Schatz an jüdischer und weltlicher Literatur und ist bei bibliophilen Menschen über die Grenzen Münchens hinaus bekannt. In den Regalen stehen Bibelinterpretationen ebenso wie die Märchen von Wilhelm Hauff und Werke der Deutschen Klassik, aber auch moderne Literatur von Wedekind bis Hauptmann. Prägender Lesestoff für den jungen Lion.

    5 ZSP Julia Schneidawind
    Gerade in den Jugendjahren Feuchtwangers hat er vermutlich auch sehr stark auf die Bibliothek seines Vaters zurückgegriffen. Er hatte eine unglaublich einzigartige Sammlung, die heute komplett in Vergessenheit geraten ist und auch leider verschollen.

    MUSIK

    Sprecher:
    Seine Schulzeit in München, auf dem konservativen Wilhelmsgymnasium, beschreibt Lion Feuchtwanger nicht gerade überschwänglich positiv. Und zuhause wartet dann noch ein Privatlehrer mit den Studien von Talmud und Bibel. Aber – er beginnt früh zu schreiben, gewinnt schon als Gymnasiast einen Wettbewerb, studiert nach dem Abitur Geschichte, Philosophie und Deutsche Philologie, promoviert brillant über Heinrich Heines „Rabbi von Bacherach“. Eine akademische Laufbahn, eine Professur aber ist ihm – als Juden – de facto verwehrt. Er gründet eine Zeitschrift, schreibt Artikel, Theaterkritiken und lebt das Leben der Schwabinger Bohème. Feuchtwanger macht mit ersten Veröffentlichungen von sich reden, hält sich aber auch als Nachhilfelehrer finanziell über Wasser. Julia Schneidawind.

    6 ZSP Julia Schneidewind
    Da gibt es Anekdoten darüber, dass er aufgrund seiner, ja, nicht Abneigung zum Glücksspiel häufig seine Bibliothek verspielte und dann die Bücher sozusagen abgeben musste.

    Sprecher:
    Wobei die ersten Bücherbestände Feuchtwangers wohl schwer den Namen „Bibliothek“ verdienen mögen. Den Luxus einer eigenen, großen, repräsentativen Bibliothek wird er sich erst Jahre später erfüllen können. Noch aber, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, ist das Geld knapp, und die Lust Lions am Leben groß. 1912 heiratet er Martha Löffler, die aus einer wohlsituierten, jüdischen Familie in München stammt. Das Paar schwimmt im Zeitgeist, im Leben der Bohème. Dann
    der Schicksalsschlag: Die einzige Tochter, Elisabeth, stirbt schon im Alter von zwei Monaten.

    TC 07:46 – Wandel zum politischen Schriftsteller

    MUSIK

    Sprecher:
    Das Paar macht eine ausgedehnte Reise, nach Südfrankreich, nach Italien und Nordafrika. Im August 1914 – sie sind gerade in der französischen Kolonie Tunesien – bricht der Weltkrieg über Europa herein. Feuchtwanger verfällt nicht in patriotisches Hurra-Geschrei wie viele seiner schreibenden Kollegen, entzieht sich aber auch nicht der Einberufung. Seine labile Gesundheit erspart ihm den Fronteinsatz. Die Entfesselung von Hass, Krieg und nationalistischem Rausch in Europa aber werden aus Lion Feuchtwanger einen politischen Schriftsteller machen.

    MUSIK Weimar

    Sprecher:
    Die ersten Jahre der Weimarer Republik werden zu den ersten Erfolgsjahren für Feuchtwanger. Nicht mehr nur seine Theaterkritiken, sondern auch seine Bühnenstücke werden gedruckt und – gespielt. Ein Stück aber findet bei den Verlagen gar keinen Anklang: Die Geschichte des Juden Joseph Süß Oppenheimer am Hof des Württembergischen Herzogs. In „Jud Süß“ behandelt Feuchtwanger die zentralen Fragen der Assimilation von Juden in Deutschland. Von Marta kommt der Vorschlag, den Stoff doch als historischen Roman umzusetzen.

    7 ZSP Heike Specht
    Also sie hat ihn auf diese Spur gesetzt und das hat dann funktioniert und wurde ja dann wirklich schon in den Zwanzigern ein Weltbestseller, was ja überhaupt erst quasi das Fundament gelegt hat, dann auch für seinen Lebensstil in Deutschland noch und dann aber vor allem im Exil.

    Sprecher:
    „Jud Süß“ wird ein Welterfolg, der sich schon im ersten Jahr 100.000-mal verkauft. In Großbritannien und den USA erscheint der Roman ab 1926 auf Englisch unter dem Titel „Power“, später folgen Übersetzungen in 15 weitere Sprachen. Bittere Ironie der Geschichte: Der Roman liefert später die Vorlage für den wohl schlimmsten antisemitischen Propagandafilm der Nazis.

    MUSIK Akzent

    Sprecher:
    In den frühen 1920er Jahren wächst auch die Freundschaft zu Bertolt Brecht. Der bedingungslose Erneuerer des Theaters findet in Lion Feuchtwanger, dem Erfinder des dramatischen historischen Romans, einen streitfreudigen Partner.

    MUSIK Goldene Zwanziger, Berlin

    Sprecher:
    1925 wird dem Paar dann München zu klein – und das Klima zu nationalistisch. Das heiße Pflaster der Weimarer Jahre liegt ohnehin nicht an der Isar, sondern an der Spree. In Berlin leben auch viele jüdische Intellektuelle, Schriftsteller, Filmemacher, Schauspieler. Wenn München Anfang des 20. Jahrhunderts noch leuchtete, so pulsiert Berlin nun im Takt der modernen Zeit.

    MUSIK weg

    Sprecher:
    Lebenslanges, intensives Lesen ist zentral für die Arbeit Lion Feuchtwangers. Dementsprechend richtet er ab 1932 im neuen Berliner Domizil, einer Villa am Grunewald, eine umfangreiche Bibliothek ein. In den Regalen seines Arbeitszimmers stehen dann etwa 300 Bücher, die er für das aktuelle Romanprojekt benötigt. Also eine Art Handapparat, das Handwerkszeug des Autors. Insgesamt wird die neue Sammlung über 10.000 Bücher umfassen. Eine Bibliothek zum Arbeiten, mit einigen wertvollen Bänden.

    8 ZSP Julia Schneidawind:
    Lion Feuchtwanger war jetzt kein klassisch bibliophiler Sammler, aber er hat sich durchaus auch Erstausgaben gegönnt. Also da war er manchmal schon interessiert, gerade dann, wenn diese Werke auch Bezug zu seinen eigenen Arbeiten hatten.

    Sprecher:
    1930 erscheint der Roman „Erfolg“. Er macht seinem Titel alle Ehre und beschert Feuchtwanger Ruhm und Geld. Der Schlüsselroman zeichnet ein karikaturenhaftes Bild vom gesellschaftspolitischen Klima der zwanziger Jahre in München. Das Personentableau verweist dabei direkt auf die Akteure jener Zeit, die den Nährboden des deutschen Faschismus mit gedüngt haben. Die Schriftstellerin Heike Specht:

    9 ZSP Heike Specht:
    Genau dieser Blick ins Innere, dieses gnadenlose Wahrnehmen, wie die nichtjüdische Gesellschaft, die Mehrheitsgesellschaft tickt. Das ist tatsächlich prophetisch.

    MUSIK Unheil, Machtergreifung

    Sprecher:
    Von der Machtübernahme der Nazis erfahren die Feuchtwangers in den Vereinigten Staaten, wo sie seit 1932 auf einer langen Vortrags- und Lesereise unterwegs sind. Und – sie stehen ganz oben auf der Feindesliste der Nazis. Am 10. Mai 1933 brennen Feuchtwangers Bücher auf dem Berliner Opernplatz. Sein Name steht auf der ersten Ausbürgerungsliste und – die gleichgeschaltete Universität in München erkennt ihm den Doktortitel ab.

    Sprecher:
    Und zuhause, in der Berliner Villa, bleibt kein Buch neben dem anderen stehen. Julia Schneidawind:

    10 ZSP Julia Schneidawind
    Die Bibliothek Lion Feuchtwangers in Berlin wurde tatsächlich schon 1933 von den NS-Behörden geplündert. Und das hängt natürlich auch damit zusammen, dass Lion Feuchtwanger von Beginn ein sehr starker Kritiker des Regimes war und auch das öffentlich gemacht hat. Und das war auch der Grund, warum gerade diese Bibliothek schon 33 eben geplündert wurde in seiner Villa in Berlin. Während andere Bibliotheken erst später dann tatsächlich das Interesse der NS-Behörden auf sich gelenkt hatten, war es eben dieses Beispiel für sehr frühe Plünderung. Und wir wissen heute tatsächlich nicht, was mit den einzelnen Büchern passiert ist. Es gibt auch wieder nur Anekdoten darüber, dass die Bücher verschleudert wurden, also dass die Nazis das irgendwie versucht haben, zu Geld zu machen. Aber Anhaltspunkte dafür haben wir leider nicht. 

    TC 13:41 – Französisches Exil

    Sprecher:
    Weil sie nicht nach Deutschland zurückkönnen, wählen Lion und Marta ein Exil in Frankreich, den malerischen Küstenort Sanary-sur-Mer an der Cote d’Azur. Dort stranden viele deutsche und österreichische Intellektuelle auf ihrer Flucht vor den Nazis: Hermann Kesten, Bertolt Brecht, die Brüder Mann, Arnold Zweig. Lion Feuchtwanger beginnt sofort mit dem Aufbau einer neuen, der zweiten Bibliothek.

    11 ZSP Julia Schneidawind:
    Lion Feuchtwanger hat dann sozusagen da auch Sammlungen gekauft, aber natürlich auch auf antiquarische Bestände zurückgegriffen. Es gibt diese eine Aufzeichnung in seinem Tagebuch, da schreibt er von einem Besuch von einem Herrn Spier. Ich konnte leider nicht genau rekonstruieren, um welchen Herrn Spier es sich handelt, der ihm die Bibliothek anbietet, und er notiert in das Tagebuch Bibliothek von Spier gekauft. Das ist ein Beispiel dafür.

    Sprecher:
    Diese zweite Bibliothek wächst in den folgenden Jahren auf über 20.000 Exemplare an. Sie ist vor allem eine Arbeitsbibliothek. 

    MUSIK Frankreich-Exil

    Sprecher:
    Mit der Besetzung Frankreichs 1940 zieht sich auch für die deutsche Exilgemeinde die Schlinge nun zu. Lion Feuchtwanger kommt in das Lager Les Milles und später nach Saint Nicola bei Nimes. Marta, die selbst zeitweilig interniert war, gelingt es, mithilfe eines jungen Diplomaten der amerikanischen Botschaft, ihren Mann aus dem Lager zu holen – mit dem Auto, wie sie in den 1950er Jahren im Interview erzählt. Dabei bediente sie sich einer List:

    12 ZSP Archiv: Marta Feuchtwanger
    Und dann gab ich ihm einen Zettel mit, da stand nur darauf: frag nicht, sag nix, steig ein. Und daraufhin ist mein Mann in das Auto eingestiegen. Und da gab ihm der Konsul einen Mantel und ein Tuch. Und da, wenn die Wachen ihn angehalten hatten, bei der Rückfahrt, hat er immer gesagt, das ist meine Schwiegermutter.

    Sprecher:
    Nach einer abenteuerlichen Flucht über Spanien und Portugal erreichen die Feuchtwangers schließlich die Vereinigten Staaten.

    Sprecher:
    Und die Bibiliothek in Sanary-Sur-Mer? Julia Schneidawind hat den Weg der Bücher rekonstruiert. Lion Feuchtwanger kann seine Mitarbeiterin Lola Sernau noch beauftragen, die Bücher aus der Villa in Frankreich zu holen und zum Verschiffen in Kisten zu verpacken. Allerdings sollen die Kisten über Jahre im Hafen von Lissabon feststecken.

    13 ZSP Julia Schneidawind
    Es gab da Probleme eben mit dem Zoll und anderer bürokratischer Natur, und natürlich war das mit sehr hohen Kosten verbunden. Und der Zustand war nicht ganz so großartig. Und das ist tatsächlich heute aber auch der einzige Anhaltspunkt. Wir haben keine Listen, wir wissen nicht genau, welche Bücher tatsächlich damals in diesen Kisten waren.

    TC 16:22 – In der Villa Aurora

    MUSIK

    Sprecher:
    Nach wenigen Monaten in New York zieht das Paar 1941 nach Kalifornien und findet schließlich 1943 in Pacific Palisades ein neues Zuhause - ein kleiner Küstenort außerhalb von Los Angeles. Das Anwesen ist eine hochherrschaftliche Villa mit Meerblick, später „Villa Aurora“ genannt. Und – letztendlich kommen auch die Bücher aus Frankreich dort an. Sie werden zur Grundlage einer neuen, der dritten Bibliothek. Hermann Kesten, enger Freund Lion Feuchtwangers, äußert sich bewundernd über Feuchtwangers Lebensstil, der ganz den Geschlechterrollen der Zeit entspricht.

    Zitator:
    So sollten Schriftsteller wohnen, mit zwanzig Zimmern, mit 11tausend Büchern, einem hügeligen Park mit zwei acreas, einer Sekretärin und einer Frau, die kocht, gärtnert, bäckt, chauffiert und dem großen Dichter aufs Ergebenste dient, was für ein Leben.

    MUSIK

    Sprecher:
    Das Leben ist für die Exilanten unterschiedlich schwer zu meistern in den Staaten. Marta und Lion aber leben begünstigt. Von den Erlösen des eben erst veröffentlichten Romans „Die Brüder Lautensack“ können sie das Haus finanzieren. Und im Zentrum des Anwesens steht eine neue - die dritte Bibliothek Feuchtwangers. Ein weiterer Neuanfang. Das Projekt Bibliothek hilft ihm über die Frustration von Verlust und Neubeginn hinweg:

    14 ZSP Julia Schneidawind
    Also wir können bei der Sammlung in Los Angeles tatsächlich auch von einer Rekonstruktion sprechen. Er hat auf die Netzwerke zurückgegriffen, die er früher kannte, also auch sehr viele Antiquare. Jüdische Antiquare, die auch im Exil lebten, konnten ihm dann auch wieder Bücher vermitteln. Und er hat sehr viele hiesige Antiquariate besucht. Aber auch über Kataloge, die er ständig auch aus Europa noch zugeschickt bekam, hat er versucht, diese Sammlung erneut aufzubauen.

    Sprecher:
    Grundlage für die neue Bibliothek sind aber die Bestände aus Sanary-Sur-Mer, oder wenigstens, die Bücher, die es in die Staaten geschafft haben. Eine Gedulds- und Zerreißprobe für den Schriftsteller, denn erst 1941 soll er – nach vielen Verzögerungen – seinen Schatz zumindest teilweise wieder in die Regale stellen können. Ludwig Marcuse, Freund und Nachbar der Feuchtwangers, schreibt in seinen Memoiren unter dem Titel „Mein zwanzigstes Jahrhundert“:

    Zitator (Marcuse):
    Abermals Wände aus Büchern, ein drittes Mal in einer Casa auf einem abgelegenen Hügel über der pazifischen Küste. Das war ein gewaltiges Mausoleum aus den Werken der Dichter: Ich ging immer zu ihm, wenn die Bibliothek meiner Universität versagte.

    MUSIK Kalifornien

    Sprecher:
    Martha Feuchtwanger macht derweil Promotion (engl.) für ihren Mann, fungiert als geschickte Agentin. Als charmante Gastgeberin und legendäre Köchin machte sie das Exil zu einem Anziehungspunkt inmitten dieser Emigrantenkolonie. Und das Zentrum dieses intellektuellen Clubs ist die prächtige Bibliothek.

    MUSIK Kriegsende

    TC 19:30 – Die Hüter des Vermächtnis

    Sprecher:
    Nach dem Krieg löst sich die Exilgemeinde am Pazifik langsam auf. Brecht, Thomas Mann, Döblin und Werfel kehren nach Europa zurück. Lion und Marta Feuchtwanger bleiben. Wegen des angenehmen Klimas, wie der Schriftsteller in einem Interview erzählt. Aber wohl vor allem, weil er stets fürchten muss, als Staatenloser nicht mehr in die USA zurückkehren zu dürfen, sollte er einmal ausreisen.

    MUSIK Thema Erinnerung

    Sprecher:
    Lion Feuchtwanger stirbt am 21. Dezember 1958. Seine Frau Marta überlebt ihn um fast 30 Jahre. Sie überträgt schon ein Jahr nach seinem Tod die Villa samt Bibliothek der University of Southern California, behält aber das Wohnrecht. Sie wird, bis zu ihrem Tod im Jahr 1987, zur Hüterin von Feuchtwangers Vermächtnis.

    15 ZSP Marta Feuchtwanger:
    Da ich ja auch immer Führungen mache in der Bibliothek. Das sind sehr viele Inkunabeln und auch noch Manuskripte, handgeschriebene, zum Beispiel eine von Papst Innozenz dem Dritten und ganz einzigartige Ausgaben. Nach meinem Tod bleibt es aber genauso, wie es jetzt ist.

    Sprecher:
    Der Großteil der Bibliothek, etwa 20.000 Bände, befindet sich bis heute in der Villa Aurora, das mondäne Anwesen ist eine Künstlerresidenz für Stipendiaten aus aller Welt. Der Rest der Bücher ist Teil der „Lion Feuchtwanger memorial library“ an der „University of southern California“ im nahen Los Angeles.

    MUSIK, darüber

    Sprecherin:
    Eines verbindet die drei Bibliotheken, die Lion Feuchtwanger im Laufe seines Lebens aufgebaut hat: Sie waren nicht nur Werkstätten für den Schriftsteller, sondern auch Ankerplätze eines Menschen im Exil.

    16 ZSP Archiv: Lion Feuchtwanger
    Im Übrigen bin ich deutscher Schriftsteller und suche mich immer zu umgeben mit deutschen Dingen, mit deutschen Büchern und dergleichen. Wenn ich deutsche Bücher lese, dann habe ich das Gefühl, ich unterhalte mich mit dem Autor.

    MUSIK Ende

    TC 22:10 - Outro

    19 April 2024, 10:10 am
  • 22 minutes 57 seconds
    JÜDISCH-BAYERISCHE SPURENSUCHEN - Der Orientalist Karl Süßheim

    Viele Jahrzehnte lang war der jüdische Orientalist und Historiker Karl Süßheim vergessen, obwohl er Anfang des 20.Jahrhunderts in Bayern durchaus ein Mann von Bedeutung war. Seine Leidenschaft für Orientalistik und seine Sprachkenntnisse machten ihn während des Ersten Weltkrieges sogar unentbehrlich. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich sein Leben schlagartig. Doch vergessen wurde Karl Süßheim erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Warum? Und wie wurde er wiederentdeckt? Von Ulrike Beck (BR 2024)

    Credits
    Autorin: Ulrike Beck
    Regie: Christiane Klenz
    Es sprachen: Laura Maire, Stefan Merki, Christopher Mann
    Technik: Roland Böhm
    Redaktion: Thomas Morawetz
    Im Interview: Dr. Kristina Milz, Lisa D’Angelo

    Ein besonderer Linktipp der Redaktion:

    Wir bedanken uns bei der Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die uns bei dieser Folge wissenschaftlich beraten hat. Mehr Infos zum Projekt gibt es HIER.

    Literaturtipps:

    Kristina Milz (2022): Karl Süßheim Bey (1878-1947). Eine Biografie über Grenzen. Metropol-Verlag.

    Er war ein glühender bayerischer Patriot, tiefgläubiger Jude und leidenschaftlicher Orientalist: Der in Vergessenheit geratene Karl Süßheim hat die Grenzen seiner Zeit herausgefordert wie kaum ein anderer. Er wuchs in Nürnberg auf, lebte als junger Mann lange im Nahen Osten. An der Universität München unterrichtete er bekannte Wissenschaftler wie Gershom Scholem und Franz Babinger, bis die Nationalsozialisten ihn entließen. Eine sehr ausführliche und detaillierte Biografie über das Leben und Werk Karl Süßheims. Hier geht’s zum BUCH.

    Kristina Milz (2022): Karl Süßheim (1878-1947). Ein verfolgter Wissenschaftler und seine Universität. In: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung. Ausgabe 02/22, S. 64 – 72.

    Immer wieder stößt die Wissenschaft auf faszinierende bayerisch-jüdische Biografien von Menschen, die aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden sind, obwohl ihre Rolle in der Geschichte eine besondere war: Protagonisten der Geschichte wie Karl Süßheim sind nicht zufällig vergessen worden. Die Reihe „Bayerns vergessene Kinder“ porträtiert jüdische Biografien, die eine damnatio memoriae zum Opfer gefallen sind – und ihrer Wiederentdeckung harren. Hier geht’s zum ARTIKEL.

    Barbara Flemming & Jan Schmidt (2002): The diary of Karl Süssheim (1878-1947). Orientalist between Munich and Istanbul. Stuttgart: Steiner Verlag.

    The orientalist Karl Süssheim kept his Diary in Turkish – and later in Arabic – from his early years in the Ottoman Empire through the Young Turk Revolution of 1908 and after his return to Germany, through war, revolution, and the horrors of Nazi rule. This book presents selected episodes in translation from the surviving parts of Süssheim’s Diary, covering the years 1908 to 1940. In its detached style it allows the reader a remarkable insight into Süssheim’s family surroundings, his academic career at Munich University, and the eventful times he lived through. Hier geht’s zum BUCH.

    Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

    Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

    DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

    Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

    Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

    Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
    ARD Audiothek | Alles Geschichte
    JETZT ENTDECKEN

    Timecodes (TC) zu dieser Folge:

    TC 00:15 – Intro
    TC 02:48 – Orientalistik statt Hopfenhandel
    TC 04:34 – Die Zeit in Konstantinopel
    TC 08:30 - Schicksalsjahre
    TC 11:25 – Ein zweiseitiger Ruf
    TC 16:57 – Kampf ums Vermächtnis
    TC 22:03 – Outro

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    TC 00:15 – Intro

    MUSIK

    Erzähler
    Karl Süßheim. Die Historikerin Kristina Milz wird hellhörig, als sie auf den Namen stößt.

    1.O-Ton (Kristina Milz)
    Also ich habe an der LMU Magister Geschichte studiert und hab mich damit auseinandergesetzt, wie die Historiker an der LMU mit dem Nationalsozialismus umgegangen sind. Und dafür hab ich mir erstmal angeschaut, wer von 1933 bis 45 in der Fakultät überhaupt da war. Und da ist mir sein Name aufgefallen. Also er war 1933 noch da, im Sommersemester, und es war ein klar erkennbar jüdischer Name und verschwindet dann eben sang- und klanglos und man hört nichts mehr von ihm. Da war mir relativ schnell klar, er muss einer der Opfer der Rassenpolitik gewesen sein, also dieses Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Und dachte natürlich, dass sich im Historicum in der Bibliothek Literatur dazu finden lässt.

    MUSIK

    Erzählerin:
    Doch auch nach längerer Suche stellt sich heraus: Es gibt nichts.

    2.O-Ton (Kristina Milz)
    Und so bin ich dann natürlich sehr neugierig worden.

    Erzählerin
    Das Ergebnis ist eine Dissertation, die 2022 als Biografie erscheint und den Titel trägt: „Karl Süßheim Bey. Eine Biografie über Grenzen“. 
    Kristina Milz hat ihre Dissertation am Institut für Zeitgeschichte in München verfasst. Seit 2022 arbeitet sie auch für die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die sich der Erforschung und Vermittlung jüdischen Lebens in Bayern widmet.

    Erzähler 
    Während der Recherchen zu ihrer Biographie stößt Kristina Milz darauf, dass Jahrzehnte vor ihr im niederländischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt auf Karl Süßheim aufmerksam geworden sind. Und in langjähriger Kleinarbeit seine Tagebücher ins Englische übersetzt haben.

    Erzählerin
    Es sind zeitgeschichtliche Dokumente von unschätzbarem Wert, die Kristina Milz damit auf Englisch zur Verfügung stehen. Um mit den übrigen Quellen und dem Nachlass arbeiten zu können, nimmt sie Sprachunterricht am Münchner Nahostinstitut, wo der Name Süßheim ihrem Dozenten noch geläufig ist:

    3. O-Ton (Kristina Milz)
    Das heißt, ich musste tatsächlich anfangen, erst mal Türkisch zu lernen, habe auch Arabischkurse belegt und habe dann eben das Osmanische […], dafür gibt es an der LMU auch Kurse, und da bin ich auch dringesessen. Mein Osmanisch-Dozent hat auch immer gesagt: Kristina, du lernst nicht Osmanisch, Du lernst Süßheim!

    TC 02:48 – Orientalistik statt Hopfenhandel

    MUSIK

    Erzähler
    Karl Süßheim kommt am 21. Januar 1878 in Nürnberg zur Welt. Sein Vater Sigmund betreibt einen florierenden Hopfenhandel, die Mutter Clara stammt als Tochter des Fabrikanten und Politikers David Morgenstern aus sehr wohlhabenden Verhältnissen.

    Erzählerin
    Karl wächst also gemeinsam mit seinem älteren Bruder Max und seiner jüngeren Schwester Paula in einer wohlsituierten und jüdisch-liberalen Familie auf.

    Erzähler
    Sigmund Süßheim möchte selbstverständlich, dass einer seiner Söhne das erfolgreiche Geschäft übernehmen soll. Doch der Hopfenhandel interessiert weder Max, noch Karl.

    Erzählerin
    Nachdem Max nach dem Abitur seinen Weg als Jurist und späterer SPD-Politiker im Bayerischen Landtag einschlägt, entscheidet sich auch Karl gegen den Wunsch des Vaters. Er beginnt 1896, Geschichte zu studieren. Zunächst in Jena, dann in München, Erlangen und Berlin.

    Erzähler
    In Berlin besucht Karl das Seminar für orientalische Sprachen und lernt dabei junge Gaststudenten aus dem Osmanischen Reich kennen. Woher sein Interesse an dieser Region kommt, lässt sich nur rekonstruieren.

    4.O-Ton (Kristina Milz)
    Das durfte seine Familie auf keinen Fall wissen, weil die Orientalistik damals ja auch noch sehr so als Orchideenfach verschrien war. Und als Karl Süßheim dann in Berlin war, (…) war einige Jahre zuvor das sogenannte Seminar für Orientalische Sprachen gegründet worden. (…) Also in dieser Zeit muss man sich vorstellen, entsteht eigentlich die Islamwissenschaft. Es entsteht dieses Fach, das sich mit dem „zeitgenössischen Orient“, wie man damals gesagt hat, beschäftigt hat. Und das ist genau das, was Karl Süßheim dann interessiert hat.

    TC 04:34 – Die Zeit in Konstantinopel

    MUSIK

    Erzählerin
    Gleich nach der Abgabe seiner Dissertation über die „Preußischen Annexionsbestrebungen in Franken…“ zieht Karl Süßheim 1902 für einige Jahre nach Konstantinopel. Um dort seine Sprachkenntnisse im Türkischen und Arabischen zu vertiefen.

    Erzähler
    In Konstantinopel erlebt der frisch promovierte Historiker eine ganz andere Atmosphäre als im Kaiserreich.

    5.O-Ton (Kristina Milz)
    Als er zuerst nach Konstantinopel gekommen ist und sich vor allem in diesem sultanstreuen Umfeld bewegt hat, war er ja durchaus an der einen oder anderen Stelle mit Antisemitismus konfrontiert. (…) Aber bei ihm ist es tatsächlich so, dass er erstmals in seinem Leben nicht in erster Linie als Jude wahrgenommen wird. In ihm wird vor allem der deutsche Wissenschaftler gesehen, der sich diese Sprachen so gut angeeignet hat und mit dem man jetzt eben über Politik und Geschichte und dergleichen diskutieren kann. Und noch sehr viel evidenter wird das dann, wenn er sich mit den sogenannten ‚Jungtürken‘ abgibt, also der osmanischen Opposition, die sehr nach Westen ausgerichtet war, die sehr auf Modernisierung geschaut hat und auch genau das einfordern wollte vom Sultan.

    Erzählerin
    Karl Süßheim ist selbst zunächst überzeugter Konservativer und Monarchist.

    6.O-Ton (Kristina Milz)
    Als Karl Süßheim ins Osmanische Reich kam, war er politisch äquivalent eigentlich aufgestellt zu seiner Einstellung im Kaiserreich also sehr königstreu und patriotisch. Und hat dann aber eben dadurch, dass er diesen Kontakt mit den Jungtürken in Kairo hatte, zum ersten Mal die Idee des Tyrannensturzes für sich auch akzeptiert. Und war dann auch mitten im Zentrum dieser Revolution.

    Erzähler
    Die Jahre im Osmanischen Reich sind in Süßheims Leben in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt. Er, der Zeit seines Lebens kein guter Netzwerker war, sucht plötzlich die Nähe zu orientalischen Intellektuellen und knüpft Kontakte. Dabei findet er auch den Zugang zu seinem Glauben.

    7.O-Ton (Kristina Milz)
    Er macht es in seinem Tagebuch gar nicht so explizit, an welcher Stelle es dann so ist, dass er wirklich jüdisch gläubig wird. Aber man sieht, er beschäftigt sich eben mit dem Islam auch sehr intensiv. Er hat zum Beispiel Kontakt mit dem Islamgelehrten Musa Kazim, der später dann der Scheichülislam, also der Großmufti eigentlich von Konstantinopel wird. Also das ist derjenige, der Süßheim zum Islam bringen will und da wird viel diskutiert. Und als er sich dann davon wieder abgrenzt und abwendet, findet er immer mehr Kontakt, auch mit den orientalischen Juden und beschäftigt sich dann damit und kommt dann eben sehr gläubig zurück.

    MUSIK

    Erzählerin
    Karl Süßheim ist 30 Jahre alt, als er zurückkehrt und an der Uni München beginnt, seine Habilitation zu schreiben. Darin beschäftigt er sich mit der Geschichte der Dynastie vor den Osmanen: den Seldschuken.

    Erzähler
    Als frisch habilitierter Privatdozent gibt er ab 1911 an der Münchner Universität Kurse in Arabisch, Persisch und Osmanisch. Anfangs ist die Zahl seiner Studenten noch überschaubar, aber mit Beginn des Ersten Weltkrieges ändert sich das schlagartig.

    Erzählerin
    Mit dem Osmanischen Reich als Verbündeten wollen plötzlich viele Studenten Türkisch lernen. Es entsteht ein regelrechter Boom auf die Expertise des Karl Süßheim. Wobei er nicht nur an der Uni gefragt ist.

    8.O-Ton (Kristina Milz)
    Im Ersten Weltkrieg war es so, dass Süßheim nicht eingezogen wurde, weil er eben an der Heimatfront, wie man es nannte, unentbehrlich war. Das lag daran, dass er eben als einer der wenigen diese Sprachkenntnisse hatte und dann in vielerlei Hinsicht helfen konnte zu Hause. Zum einen bei der Zensur, also bei der bayrischen Militärzensur hat er gearbeitet. Er hat aber auch als Dolmetscher gearbeitet. Wenn zum Beispiel jungtürkische Delegationen zu Besuch waren, dann ist er mit denen mitgefahren und hatte eben übersetzt.

    TC 08:30 - Schicksalsjahre

    MUSIK

    Erzähler
    Ab 1919 unterrichtet Karl Süßheim als außerordentlicher Professor die Sprachen Arabisch, Persisch und Türkisch. Er ist inzwischen 41 Jahre alt und noch immer Junggeselle.

    Erzählerin
    Karl findet erst acht Jahre später die Frau, die zu ihm passt. Mit Karolina Plank, einer tiefgläubigen Katholikin. Ausgerechnet er, der als einziger in seiner Familie ein gläubiger Jude ist, lässt sich 1927 auf eine gemischt-konfessionelle Ehe mit Karolina ein.

    9.O-Ton (Kristina Milz)
    Man muss aber schon auch sagen, das war sicher für ihn ein großer Schritt zu gehen, weil er davor sehr, sehr lange explizit nach einer jüdischen Frau gesucht hat. Er hat sich dann aber von seiner Frau versprechen lassen, dass er für die religiöse Erziehung der Kinder zuständig sein wird in der Ehe. Und wir reden vom Jahr 1927. Da hat sie sich auch darauf eingelassen, weil sie auch noch überhaupt gar nicht wusste, was das für Auswirkungen haben wird.

    Erzähler
    1929 kommt Tochter Margot zur Welt, die zweite Tochter Gioconda wird 1934 geboren. Ein Jahr, nachdem sich für Karl Süßheim und seine Familie alles verändert hat.

    10.O-Ton (Kristina Milz)
    1933, kann man zweifellos sagen, dass das das allerschlimmste Jahr in seinem ganzen Leben war. Also neben der nationalsozialistischen Machtübernahme stirbt erstmal sein Bruder an einem Schlaganfall. Dann wird durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ihm seine Stelle an der Universität genommen. Und seine Mutter stirbt auch noch in diesem Jahr. Also alles passiert innerhalb eines Jahres, und da ist der Bruch zwischen der Zeit davor und diesem Jahr ganz extrem in den Quellen.

    Erzählerin
    Nach der Pogromnacht vom November 1938 wird Karl Süßheim für 16 Tage im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Er schreibt über diese Zeit auf Arabisch in sein Tagebuch und schafft damit laut Kristina Milz ein einzigartiges Dokument. In dem er nicht nur nüchtern Fakten für die Nachwelt festhält, sondern auch sehr akkurate Skizzen vom Konzentrationslager anfertigt, die er auf Arabisch beschriftet.

    11.O-Ton (Kristina Milz)
    Und man muss sich vorstellen, er war jemand, der natürlich ein relativ behütetes Leben hatte. Und plötzlich kommt er in dieses Konzentrationslager, sieht, dass Menschen erschossen werden. Sieht, dass Menschen zusammenbrechen, wird geschlagen, weil er sich nicht als Judenschwein bezeichnen will. All diese Dinge passieren ihm dort. Und nachdem er zuvor immer gesagt hat, er geht nicht aus Deutschland weg, weil das seine Heimat ist – Bayern, seine Familie lebt seit Jahrhunderten in Bayern –, denkt er dann um. Dabei muss man aber auch wissen, dass er unterschreiben musste, dass er das Land verlassen wird, als er aus dem Konzentrationslager entlassen wird.

    TC 11:25 – Ein zweiseitiger Ruf

    Erzähler
    Erst im Sommer 1941 gelingt es Karl Süßheim mit seiner Frau und den Töchtern, nach Istanbul zu emigrieren. Sie sind eine der letzten Familien in Bayern, die der Schoa entkommen sind. Ein Teil seiner Privatbibliothek wird beschlagnahmt und landet in der Bayerischen Staatsbibliothek.

    Erzählerin
    Da aber auch die Türkei zu diesem Zeitpunkt eigentlich keine deutschen Juden mehr aufnimmt, musste das türkische Kabinett eine Ausnahme für Karl Süßheim beschließen. Seine Aufenthaltsgenehmigung ist damit verbunden, dass er an der dortigen Universität unterrichtet. Damit steht er zwar unter Druck, aber auch endlich wieder im Hörsaal. Die Bedingungen an der Universität Istanbul brachten für Karl Süßheim einige Herausforderungen mit sich: Er musste um seinen Professorentitel kämpfen, seine Publikationstätigkeit war eingeschränkt. Auch in der Lehre musste er sich erst eingewöhnen.

    12. O-Ton (Kristina Milz)
    Man muss sich auch diese Situation mal vorstellen, also er hatte jahrelang während des Nationalsozialismus wenige Schüler bis gar keine Schüler. Er hatte vielleicht noch ein paar Privatstunden gegeben für die Leute, die sich das getraut haben. Und plötzlich ist er da in der Türkei und steht vor vollen Hörsälen, und alle wollen über die türkische Geschichte bei ihm lernen. Es ist auch interessant, weil in seinem Nachlass finden sich die Inskriptionslisten, wo man die ganzen Namen der türkischen Studierenden sieht, die sich für seine Vorlesungen angemeldet haben. Und es sind seitenweise Einträge.

    MUSIK

    Erzähler
    Karl Süßheim bleiben nur wenige Jahre im Exil. Er stirbt am 13. Januar 1947 mit nur 68 Jahren an den Folgen einer Nierenerkrankung. Und wird auf dem jüdischen Friedhof in Istanbul beerdigt. An seinem Grab spricht der jüdische Romanist Erich Auerbach die Worte:

    Zitator
    Auf dem Gebiet der türkischen Geschichte wird der Name Karl Süssheim nicht vergessen werden und nicht vergessen werden können.

    Erzählerin
    Was Süßheims Reputation in der Türkei angeht, sollte Auerbach Recht behalten. Doch in Deutschland passiert das Gegenteil: Der einstige Professor für orientalische Sprachen und die „Geschichte der mohammedanischen Völker“ gerät in Vergessenheit.

    Erzähler
    Nicht zuletzt, weil die Ludwig-Maximilians-Universität keinen Nachruf auf ihren einstigen Professor Karl Süßheim herausgibt. Obwohl eine Würdigung von ehemals verfolgten Wissenschaftlern in der Nachkriegszeit eigentlich zum Standard gehört.

    Erzählerin
    Und auch Süßheims Witwe wird lange ignoriert. Karolina, die nach dem Tod ihres Mannes in die USA ausgewandert ist, wendet sich 1947 mit der Bitte um eine Witwenrente an die Uni. Und muss 11 Jahre lang dafür kämpfen:

    13.O-Ton (Kristina Milz)
    Man könnte ja meinen, so wie ich auch eben damals auf ihn gestoßen bin, dass er eben einfach vergessen wurde. Man sieht aber sehr deutlich eben an den Quellen auch im Universitätsarchiv, dass das nicht der Fall war, weil die LMU fast 20 Jahre lang damit beschäftigt war, kein Geld auszugeben in der Sache Süßheim. Also diese Quellen im Universitätsarchiv, die betreffen die Universität, das Finanzministerium, das Kultusministerium und so weiter. Und man sieht daran auch, dass zum Beispiel noch mit nationalsozialistischer Gesetzgebung wirklich argumentiert wird. Also es wird dann zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, ob seine Witwe Witwenrente bekommt, mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 argumentiert.  Und es stellt sich bei ihm sehr lange nicht einmal die Frage in den Dokumenten, was denn mit ihm passiert wäre, wenn es den Nationalsozialismus nicht gegeben hätte.

    MUSIK

    Erzähler
    Erst nachdem Karolina Süßheim 1951 die United Restitution Organization bevollmächtigt, sich ihres Falls anzunehmen, fordert das Kultusministerium die Personalakte Süßheims bei der Uni an.

    Erzählerin
    Es werden Gutachten in der Causa Süßheim eingeholt. Unter anderem vom Dekan der Philosophischen Fakultät Anton Spitaler, der während der NS-Zeit Stipendiat der gleichgeschalteten Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft bei der Korankommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war. Und im Zweiten Weltkrieg der Wehrmacht in Belgien und Frankreich als Dolmetscher gedient hatte. In seinem Gutachten fällt Spitaler ein vernichtendes Urteil über seinen ehemaligen Lehrer.

    14.O-Ton (Kristina Milz)
    Anton Spitaler (…) wurde direkt gefragt, wie die Karriere von Karl Süßheim weitergegangen wäre, hätte es den Nationalsozialismus nicht gegeben. Und dieses Gutachten ist wirklich erstaunlich vernichtend. (…) Er macht seine Sprachenkenntnisse zum Beispiel sehr schlecht, sagt die wären nicht vorhanden gewesen. Das sind ganz offensichtliche Lügen, die in diesem Gutachten drinstehen. Und an einer Stelle schreibt er sogar noch, er hätte durchaus etwas von Karl Süßheim gelernt, aber das hätte er eher aus ihm herausgeholt, als dass Süßheim es ihm gegeben hätte. Das war natürlich schon sehr bezeichnend. Und man muss sich vor Augen halten, dass es zu dem Zeitpunkt ja überhaupt nicht mehr darum ging, Karl Süßheims Karriere voranzutreiben oder dergleichen, er war ja längst tot. Also es ging wirklich nur noch darum, seine Familie zu entschädigen.

    Erzähler
    Dieses Gutachten geht in die Bewertung des Falles ein. Erst 11 Jahre nach dem Tod ihres Mannes bekommt Karolina Süßheim ab 1958 eine entsprechend kleine Entschädigung. Weitere sieben Jahre später wird der Fall zu den Akten gelegt.

    TC 16:57 – Kampf ums Vermächtnis

    MUSIK

    Erzählerin
    Während in Bayern der Name Süßheim bis zu Beginn dieses Jahrhunderts in Vergessenheit gerät, machen sich im niederländischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt daran, Süßheims Tagebücher ins Englische zu übersetzen. Zeitgeschichtliche Dokumente von unschätzbarem Wert, die lange Zeit unentdeckt waren.

    15.O-Ton (Kristina Milz)
    Weil er sehr viele Handschriften gesammelt hat, im Laufe seines Forscherlebens also originale Handschriften aus dem Nahen Osten und die auch zusammengehalten hat. Seine Witwe hat diese Handschriftensammlung dann verkauft, und die ist in Teilen in Berlin und in Teilen in Washington gelandet. Und in Berlin – bei diesen Handschriften befand sich eben auch sein Tagebuch, was die Witwe bestimmt nicht gewusst hat, weil das natürlich nicht unterscheidbar war zu anderen Notizen, die er gemacht hat für sie, weil es in fremden Sprachen war. Und deswegen sind eigentlich Wissenschaftler erstmals wieder mit ihm in Kontakt gekommen, weil sie sich seine Handschriften angeschaut haben und dann das Tagebuch gefunden haben.

    Erzähler
    Die Edition „The Diary of Karl Süssheim“ erscheint 2002 und löst eine Welle der Erinnerung aus. Oder wie die FAZ damals schreibt:

    Zitator
    Erst die kommentierte Übersetzung der Tagebücher gibt Süssheim sein Leben zurück, macht aus dem Vergessenen und Unbekannten einen an allem interessierten Menschen im Wirbel des dramatischen Geschehens der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

    MUSIK

    Erzählerin
    Nicht nur die Bayerische Staatsbibliothek setzt ab 2003 ein Restitutionsverfahren ein, sondern auch die Provenienzforschung des Stadtarchivs Nürnberg wird aktiv. Und setzt sich mit der Familie Süßheim in Verbindung. Für Lisa D’Angelo, der Enkelin von Karl Süßheim, eröffnet sich damit ein ganz neuer Zugang zur eigenen Familiengeschichte:

    16.O-Ton (Lisa D‘Angelo)
    2014 hatte ein Archivar das Internet genutzt, um meine 84-jährige Tante Margot in New York ausfindig zu machen, wo sie seit über 65 Jahren lebte. Er wollte sie wissen lassen, dass das Archiv ein antikes Buch mit dem Süßheimer Exlibris besaß. Und dieses Buch war von den Nazis beschlagnahmt worden, kurz bevor mein jüdischer Großvater und meine katholische Oma und ihre beiden Mädchen nach Istanbul geflohen waren. Und als das Nürnberger Archiv mit meiner Tante Margot Kontakt aufgenommen hat, hat sich uns natürlich eine ganz neue Welt der Familie Süßheim eröffnet.

    Erzähler
    Margot Süßheim ist es, die beginnt, als Zeitzeugin über ihren Vater zu sprechen. Und auch ihrer Nichte einige Details über die Schwierigkeiten ihrer Familie während der Nazizeit zu erzählen. Allerdings erst, als Lisa erwachsen ist.

    17.O-Ton (Lisa D‘Angelo)
    Ehrlich gesagt, wusste ich nur sehr wenig über meinen Großvater. Als Kind hörte ich, dass mein Großvater ein Sprachwissenschaftler war, der etwa 15 Sprachen beherrschte. Ich hörte auch, dass seine Mutter Clara ein bisschen schwierig war. Und sie sammelte auch Dinge, die mein Großvater auch geerbt hatte. Und seine Vorliebe für das Sammeln von Büchern rettete tatsächlich die Familie, denn meine Oma verkaufte seine umfangreiche Büchersammlung an die Yale University in den USA, um die Schiffstickets zu kaufen, mit denen sie von Istanbul nach New York auswandern konnten.

    Erzählerin
    Lisa D’Angelo ist das öffentliche Gesicht der Familie Süßheim. Sie verwaltet nicht nur den privaten Nachlass ihres Großvaters, sondern reist auch nach Deutschland, um Ausstellungen zu eröffnen oder Vorträge zu halten. So wie 2022 im Münchner Literaturhaus. Da hatte sie die weite Anreise von Chicago auf sich genommen, um zur Vorstellung von Kristina Milz´ Biografie „Karl Süßheim Bey“ zu sprechen; der ersten umfassenden Biografie des bedeutenden bayerischen Orientalisten.

    MUSIK

    Erzähler
    Karl Süßheim hat ein kostbares Erbe hinterlassen. Eines, das viel zu lange im Verborgenen geblieben ist, sagt Kristina Milz:

    18.O-Ton (Kristina Milz)
    Ich finde es vor allem eben sehr wichtig, weil oftmals davon ausgegangen wird, man hätte zum Nationalsozialismus schon alles erzählt. Und gerade die Geschichte von Karl Süßheim zeigt auch mal wieder, dass wir noch lange nicht fertig sind damit, diese Zeit uns anzuschauen.

    TC 22:03 – Outro

    19 April 2024, 10:05 am
  • 22 minutes 40 seconds
    JÜDISCH-BAYERISCHE SPURENSUCHEN - Die Fischacher Laubhütte

    Sie ist das wohl weitest gereiste Schmuckstück des "Israel Museums" in Jerusalem: eine aufwendig bemalte Laubhütte aus dem bayerisch-schwäbischen Fischach. Irgendwann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab der Kaufmann Jakob Deller diese "Sukkah" in Auftrag. Mit der rituellen Nutzung einer solchen Laubhütte erinnern gläubige Jüdinnen und Juden an den Auszug aus Ägypten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Laubhütte durch einen waghalsigen Transport per Zug und Schiff nach Palästina gebracht. Von Lukas Grasberger (BR 2023)

    Credits
    Autor: Lukas Grasberger
    Regie: Kirsten Böttcher
    Es sprachen: Susanne Schroeder, Annette Wunsch
    Technik: Roland Böhm
    Redaktion: Nicole Ruchlak
    Im Interview: Rahel Sarfati, Bernhard Purin, Klaus Wolf, Bernd Päffgen, Naomi Feuchtwanger-Sarig

    Ein besonderer Linktipp der Redaktion:

    Wir bedanken uns bei der Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die uns bei dieser Folge wissenschaftlich beraten hat. Mehr Infos zum Projekt gibt es HIER.

    Linktipps:

    Die Fischacher Laubhütte im Isreal Museum, Jerusalem

    Jüdisches Leben in Fischach, Infos des Hauses der Bayerischen Geschichte

    Literaturtipp:

    Heike Specht (2006): Die Feuchtwangers. Familie, Tradition und jüdisches Selbstverständnis. Wallstein Verlag

    Sie waren Stammgäste im Hofbräuhaus, fühlten sich in den Alpen wie zu Hause, liebten die Theater und Museen der Stadt, pflegten die landesübliche Feindschaft gegenüber Preußen und in »unserem München« galt ihnen auch der Berliner Jude als Zugereister. Über drei Generationen verband die Familie Feuchtwanger eine strenge jüdische Orthodoxie mit einer ausgeprägt bayerisch-barocken Lebensweise. Die Geschichte der Feuchtwangers ist aber auch eine Geschichte von Familienzusammenhalt und Familienzwist, von arrangierten Ehen und leidenschaftlicher Liebe, von glänzenden Erfolgen und bitteren Niederlagen. Hier geht’s zum BUCH.

    Rachel Sarfati (2013): Restoring the Fischach Succa

    In early 2004 the Israel Museum presented the exhibition “Succot from around the World.” A painted wooden succa that had been part of the permanent exhibition for many years was taken apart and rebuilt in the exhibition hall. When the exhibition closed, it was decided that the succa’s being dismantled and the museum’s being closed for renovations provided a fortuitous opportunity to have the 19th-century succa sent out for restoration - this revealed an intriguing history. Hier geht’s zum ARTIKEL.

    Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:


    Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

    DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

    Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

    Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

    Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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    Timecodes (TC) zu dieser Folge:

    TC 00:15 – Intro
    TC 02:39 – Ihr sollt sieben Tage in Hütten wohnen
    TC 05:15 – Die Kunst aus Fischach
    TC 09:20 – Ein Inventar für jüdische Kultur
    TC 13:15 – Holz, das die Welt verbindet
    TC 21:50 – Outro

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    TC 00:15 – Intro

    Musik

    Erzählerin
    Der Münchner Hauptbahnhof, ein Tag im Jahr 1937. Reisende wuseln zu ihren Bahnsteigen, Abschiede allerorten, herzlich hier, wehmütig dort. Eine Mutter mit fünf Kindern und schwer beladen erregt Aufmerksamkeit. Berta Fränkel ist Jüdin – bald wird sie den Zug nach Triest besteigen, um dann per Schiff nach Palästina auszuwandern: Ob ihres sperrigen Gepäcks argwöhnisch beäugt von der allgegenwärtigen nationalsozialistischen Ordnungsmacht.

    O-Ton 1 Rachel Sarfati, Kuratorin, Israel Museum, Jerusalem engl.
    Sprecherin dt. OV
    „...und dieser Polizist beobachtete sie eine Weile, wie sie ihre Sachen in einer riesigen Holzkiste verstaute. Er ging zu ihr, und fragte Berta Fränkel: „Warum schleppen Sie diese riesige Holzkiste in die neue Heimat?“ Und sie antwortete: „Dort, in der Wüste, gibt es kaum Bäume. Ich brauche dieses Holz, um mir dort, in Israel, ein neues Haus zu bauen.“

    Musik

    Erzählerin
    Der neugierige Polizist gab sich zufrieden, und ließ ab von Berta Fränkel. Dadurch entging ihm – Überlieferungen zufolge - der wahre Charakter der vermeintlichen Frachtverpackung.

    O-Ton 2 Sarfati
    Sprecherin OV
    „Die Innenseite dieser Holzplanken war nämlich kunstvoll bemalt. Es waren die Wände einer Sukkah, einer Laubhütte. Es war sehr mutig, sie so außer Landes zu schmuggeln. Denn damals hatten die Nazis den Export von Kulturgütern bereits untersagt. Durch diese Aktion Berta Fränkels blieb die Sukkah erhalten: Als eine von ganz wenigen Laubhütten, die die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg überleben sollten. Bis heute ist die Fischacher Sukkah ein faszinierendes Ausstellungsobjekt.“

    Erzählerin
    ...sagt die israelische Historikerin Rachel Sarfati, Kuratorin am Jerusalemer Israel Museum, wohin die aus Bayerisch-Schwaben stammende Laubhütte letztlich auf abenteuerlichen Wegen gelangen wird. Mit Objekten wie der Fischacher Laubhütte beschäftigt sich auch die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in einem Teilprojekt namens „Spurensuche“.

    TC 02:39 – Ihr sollt sieben Tage in Hütten wohnen

    Musik

    Doch: Was ist das überhaupt - eine Laubhütte? Und welche Rolle spielt eine „Sukkah“ in der jüdischen Kultur und Religion?

    O-Ton 3 Bernhard Purin, Leiter Jüdisches Museum München, Teil 1
    „In der Bibel ist – unter den vielen Geboten die man dort findet – ein Gebot: „Und ihr sollt sieben Tage in Hütten wohnen“. Das soll an den Auszug aus Ägypten und die Rückkehr ins Heilige Land erinnern.“

    Erzählerin
    ...erklärt der Kulturwissenschaftler Bernhard Purin. Er leitet das Jüdische Museum München.

    O-Ton 3 Purin Teil 2
    „Darum gibt’s jedes Jahr im Herbst das Laubhüttenfest, wo man aus seinem Haus quasi auszieht, und im Garten oder vor dem Haus, am Balkon – oder wo auch immer – eine Holzhütte aufstellt, die als besonderes Merkmal hat, dass sie kein Dach hat. Sondern nur ein Gitter, auf dem Laub liegt.“

    O-Ton Bernd Päffgen NEU 1
    „Die Laubhütte wird eine Woche lang aufgestellt, vom 15. bis 21. Tag im jüdischen Herbstmonat Tischri. Hier geht es, ja, um Erntedank, vor allem aber um Gastfreundschaft. Diese einmal ganz konkret, im Kreis der eigenen Familie. Aber auch enge Freunde werden eingeladen.“

    Erzählerin
    ...ergänzt der Münchner Archäologieprofessor Bernd Päffgen, der die
     Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ leitet.

    O-Ton Päffgen NEU 2
    „Und dann gibt es aber auch den höheren Sinn: Man lädt auch Abraham, Isaak, Jakob, Moses, Aaron, Josef und David ein. Man feiert nicht nur, man besinnt sich, bekennt sich zum jüdischen Glauben.“ 

    Musik

    Erzählerin
    In der Laubhütte wird gebetet, gegessen, und zuweilen auch übernachtet. Was in unseren Breiten zuweilen empfindlich kalt werden kann – wenn das Laubhüttenfest dem jüdischen Kalender gemäß, in die zweite Oktoberhälfte fällt. Hierzulande nutzt und nutzte man daher auch Dachböden mit zum Himmel offenen Luken als Laubhütten. Doch auch die traditionellen, mobilen Holz-Sukkot waren verbreitet, erklärt Bernhard Purin. Diese boten ein Erscheinungsbild...

    O-Ton 4 Purin
    „...ähnlich wie man sich heute Gartenhütten vorstellen kann: Die außen ganz einfach waren, mit Fenster und einer Tür. Zerlegbare Hütten, die man im Garten aufgestellt hat. Die innen aber oft sehr reich bemalt waren, mit Bildern, die auf die Feiertage, auf´s Laubhüttenfest Bezug nehmen. (…) Man hat großen Wert auf diese Laubhütten gelegt – und die auch sehr schön ausgestaltet.“

    TC 05:15 – Die Kunst aus Fischach

    Erzählerin
    Wohlhabendere Juden beauftragten Maler, um die Innenseiten der Laubhütten künstlerisch auszuschmücken. Wie etwa der Kaufmann Jakob Deller aus Fischach, einem Dorf gut 20 Kilometer südwestlich von Augsburg. Dort, im ländlichen Bayerisch-Schwaben, waren Juden von christlichen Grundherren aus wirtschaftlichen Motiven angesiedelt worden, erklärt der Augsburger Mittelalter-Experte und Universitätsprofessor Klaus Wolf.   

    O-Ton 5 Klaus Wolf, Prof. für Deutsche Literatur und Sprache in Bayern, Uni Augsburg
    „Wir wissen ja, dass ab 1438/40 die Juden aus der Reichsstadt Augsburg vertrieben wurden. (…) Fischach gehörte zu Bayerisch-Schwaben, das damals natürlich kein Bestandteil von Bayern war, sondern weite Teile gehörten zum sogenannten Vorder-Österreich, waren also Habsburgisch. Und in diesen Territorien wurde es den Juden ermöglicht, sich anzusiedeln. Das hat die Obrigkeit natürlich nicht aus philanthropischen Gründen getan, sondern der steuerlichen Einnahmen wegen.“

    Musik

    Erzählerin
    Jüdische Familien eröffneten für das wirtschaftliche Leben des Ortes bedeutsame Betriebe: Bald gab es jüdische Metzger und Bäcker, dazu kamen Textilgeschäfte, Viehhandlungen – oder der Laden für Zigarren, Wein und Spirituosen des Kaufmanns Deller. Fischach wuchs und florierte. Mitte des 19. Jahrhunderts war nahezu die Hälfte der gut 500 Einwohner jüdisch. Juden engagierten sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens: In der Freiwilligen Feuerwehr, im Gemeinderat. Es gab eine israelitische Volks- und Religionsschule, eine Synagoge und auch einen jüdischen Friedhof. Und die Juden von Fischach begingen ihre Feiertage – wie das Laubhüttenfest. Die wohlhabenderen, weiß Bernd Päffgen, gaben bei örtlichen Künstlern und Handwerkern hölzerne Laubhütten in Auftrag.

    O-Ton 6 Prof. Bernd Paeffgen, Prof. für Archäologie, LMU München und Co-Sprecher der Ad hoc-AG „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“, BAdW
    „In der Biedermeierzeit, da beauftragten kurz vor 1840 Jakob und Esther Deller in Fischach einen einheimischen Schreiner mit dem Bau dieser Laubhütte. Ein schwäbischer Maler bekam den Auftrag, die Innenwände der Sukkah in diesen sehr kräftigen Farben zu gestalten. (…)
    Erzählerin
    Wie damals auch in Kunstwerken der christlichen Kultur nicht unüblich, ließ sich auch der Auftraggeber der Fischacher Laubhütte, Jakob Deller, mit seiner Frau Esther in seiner Sukkah verewigen.

    O-Ton Päffgen NEU 3
    „Zu sehen ist da eben Fischach, mit dem jüdischen Viertel und der Synagoge. Das ist gewissermaßen ein kleines Jerusalem in Bayerisch Schwaben, das da dargestellt ist. (…) Und Frau Deller steht mit weißer Kittelschürze stolz vor der Eingangstüre ihres Hauses - so als will sie gleich Gäste in Empfang nehmen. Und ein ganz vornehmer Herr mit Gehrock und Zylinder geht mit einem Jäger und Jagdhund in den westlichen Wäldern auf die Jagd.
    Erzählerin
    Klaus Wolf, Professor für Deutsche Literatur und Sprache in Bayern und Vorsitzender der Synagogenstiftung im schwäbischen Ichenhausen ergänzt:

    O-Ton 7 Wolf
    „Ja, das ist so die Zeit zwischen Wiener Kongress und 1848, und das ist hier wunderbar eingefangen. Und das ist in dieser Form, will ich sagen, einzigartig. Es ist ein ganz wichtiges Zeitdokument und auch ein wichtiges kunstgeschichtliches Dokument.“

    O-Ton 8 Naomi Feuchtwanger-Sarig, Kunsthistorikerin, Jerusalem, engl., Sprecherin dt. OV
    „Die Darstellungen sind einerseits eingebettet in die örtliche Umgebung, sehr typische Volkskunst aus dieser Region Deutschlands. Buchstäblich auf der anderen Seite der Sukkah findet man aber Bilder aus Jerusalem wie den Felsendom - oder biblische Motive wie etwa Moses auf dem Berg Sinai oder jüdische Festtage. Wie die Fischacher Sukkah solche Szenen verschmilzt: Das ist sehr besonders – und einzigartig.“

    TC 09:20 – Ein Inventar für jüdische Kultur

    Musik

    Erzählerin
    Die Einzigartigkeit der Fischacher Sukkah, von der die Kunsthistorikerin Naomi Feuchtwanger-Sarig hier spricht: Sie musste auch ihrem Großvater Heinrich Feuchtwanger bewusst gewesen sein, als er sie entdeckte. Dieser hatte vor rund hundert Jahre eine Mission: zusammen mit dem Kunsthistoriker Theodor Harburger reiste er quer durch Bayern, um jüdische Kunst- und Kulturdenkmäler zu inventarisieren.
    Von Feuchtwangers und Harburgers akribischer Arbeit profitiert der Münchner Museumsleiter Bernhard Purin für ein Editionsprojekt zu den Inventaren der bayerischen Synagogen noch heute.

    O-Ton NEU Purin
    Er hat an die 3000 Objekte schriftlich beschrieben, handschriftlich auf kleinen Zetteln, die er mit nach Palästina genommen hat. Die seit vielen Jahrzehnten in einem Archiv in Jerusalem liegen. (…) Und es ist ein Ziel von unserem Projekt, herauszufinden, welche Objekte noch erhalten sind.

    Erzählerin
    Was nach einer nüchternen schlicht bürokratischen Aufgabe klingt, war dennoch fundamental, um jüdische Kultur zu bewahren -  auch diese Fischacher Laubhütte, wie sich später herausstellen wird. Denn zu jener Zeit der Weimarer Republik lösten sich die jüdischen Landgemeinden in Bayern auf – ursprünglich mehrere Hundert an der Zahl. Da viele Juden seit dem 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert waren und auch immer mehr Landjuden in Städte wie München oder Nürnberg zogen.

    O-Ton 9 Purin
    „Und dann hat irgendwann mal im ausgehenden 19. Jahrhundert der Punkt begonnen, wo Antiquitätenhändler durchs Land gezogen sind und von den letzten Gemeindemitgliedern die Sachen abgekauft haben. Und da hat dann der Landesverband der jüdischen Gemeinden gesagt: Das müssen wir verhindern und hat Anfang der 20er Jahre die Regelung beschlossen, dass sich auflösende Gemeinden ihre Ritualgegenstände an den Landesverband geben müssen. Aber so eine Vorschrift kann man nur vollziehen, wenn man weiß, was es gibt. Und darum hat man dann den Kunsthistoriker Theodor Harburger beauftragt. Der hat über 200 Synagogen besucht und hat genaue Inventare gemacht und hat dann aber auch, wenn er an den einzelnen Synagogenorten war, sich so ein bisschen umgesehen, weil ihn das als Kunsthistoriker interessiert hat, was in Privatbesitz ist. Und so hat er dann die Fischacher Laubhütte gesehen.“

    Erzählerin
    Die bevorstehende NS-Herrschaft, die Zerstörung der jüdischen Kultur, die Shoah: Sie waren also nicht der Anlass der Bestandsaufnahme. Spätestens mit Beginn der NS-Diktatur muss Heinrich Feuchtwanger aber die existentielle Bedrohung für jüdisches Leben in Deutschland geahnt haben. Noch zu Zeiten der Weimarer Republik plante Feuchtwanger ein Museum, das die Vielfalt jüdischer Kultur und Geschichte darstellt und bewahrt – ähnlich dem jüdischen Museum, das 2007 schließlich am Münchner Jakobsplatz eröffnet wurde.
     Seine Enkelin Naomi Feuchtwanger-Sarig erinnert sich.

    O-Ton 11 Feuchtwanger-Sarig OV
    Sprecherin dt. OV
    „Er und Harburger hatten versucht, ein solches Museum in München zu etablieren, aber es kamen schreckliche Zeiten auf. Deshalb streckte mein Großvater seine Fühler zum Museum nach Palästina aus, denn dorthin hatte er bereits Kontakte. Er selber war bereits 1935 emigriert, seine Familie folgte Anfang 1936.

    Erzählerin
    Die Fischacher Laubhütte, so hatte er es geplant, sollte einen Platz im Museum in Palästina finden.

    Fortsetzung O-Ton 11
    Sprecherin dt. OV
    Doch wie sollte er jetzt die Sukkah heraus aus Deutschland bekommen? Er fragte Berta Fränkel, eine enge Verwandte, die in München lebte, und ebenfalls auf dem Sprung nach Palästina war, ob sie die Laubhütte nicht mit einpacken könnte. Und so entstand die Idee, die Laubhütte als Kisten-Verpackung zu tarnen.“  

    TC 13:15 – Holz, das die Welt verbindet

    Musik

    Erzählerin
    Es sollte noch bis 1937 dauern, bis die Fischacher Sukkah ins damals britische Mandatsgebiet Palästina gelangte. Der Transport war ein heikles Unterfangen. Denn die Nationalsozialisten hatten schon ein Auge auf die Feuchtwangersche Sammlung geworfen und bereits einige wertvolle Goldmünzen beschlagnahmt. Die Sorge, auch die Sukkah könnte den Nazis in die Hände fallen, war groß.
     
    O-Ton 13 Päffgen
    „... Man hat die einzelnen Bretter auseinandergenommen und hat daraus großformatige hölzerne Transportkisten (...) gemacht, die nach Palästina ausreisten, die bemalten Innenseiten, die hat man mit billigem Stoff bespannt, damit die nicht beschädigt wurden, aber auch nicht gesehen werden konnten. Und die Kisten wurden dann also von München nach Jerusalem verschifft. Kontrolliert wurde natürlich nur der Inhalt. An diesen Holzkisten war man natürlich nicht interessiert, und so kam die Fischacher Sukkah nach Jerusalem, da wurde sie wieder zusammengesetzt, und zunächst verwahrte sie Doktor Heinrich Feuchtwanger bei sich, in seinem Haus.“

    Erzählerin
    ...ergänzt der Archäologe Bernd Päffgen, der zur jüdischen Geschichte in Bayern forscht. Die Laubhütte aus Bayerisch-Schwaben sollte schnell zum Schmuckstück und Anziehungspunkt im Bezalel Museum werden. Der Münchner Museumsleiter Bernhard Purin schreibt es der unermüdlichen Inventarisierungs-Arbeit von Feuchtwanger und Harburger am Vorabend der Shoah zu, dass die Sukkah, zahlreiche liturgische Gegenstände, weltliche wie religiöse Kunst und Kunsthandwerk gerettet und nach Palästina gebracht werden konnten.

    O-Ton 14 Purin
    „Das gab´s nur in Bayern, an keinem anderen Ort Deutschlands. Und Harburger ist dann immer an den Ort Deutschlands gefahren, wo es Synagogengemeinden gab, (...) und Stücke, die ihm interessant erschienen, hat er dann auch fotografiert. Und wir haben schon vor fast 25 Jahren die Fotos veröffentlicht: So circa 800. Und da kann man mit Erstaunen feststellen, dass sich doch relativ viel erhalten hat.“

    Erzählerin
    Wie die Fischacher Laubhütte, deren wechselvolle Geschichte mit ihrer Ankunft in Palästina noch lange nicht zu Ende erzählt ist. Für Naomi Feuchtwanger-Sarig ist diese Geschichte auch eine Familiengeschichte. Die Sukkah aus Schwaben: Sie ist der Enkelin von Heinrich Feuchtwanger seit ihrer Kindheit präsent.

    O-Ton 15 Feuchtwanger-Sarig Teil 1
    Sprecherin OV
    „Ich erinnere mich an lebhafte Diskussionen, als ich ein kleines Mädchen war. Ich habe nicht viel verstanden – aber es ging wohl darum, ob man die Sukkah noch einmal nach Deutschland transportieren sollte. In Köln war für das Jahr 1964 eine Ausstellung von jüdischem Kulturgut geplant, bei der die Fischacher Laubhütte gezeigt werden sollte. Mein Vater – damals Kurator im Bezalel-Museum, wo diese Sukkah ausgestellt war – war vor allem aus konservatorischen Gründen dagegen, denn sie war in relativ schlechtem Zustand.

    Erzählerin
    Die Fischacher Laubhütte erneut auf Reisen nach Deutschland zu schicken – das war für Heinrich Feuchtwanger aber auch aus einem anderen Grund problematisch, sagt seine Enkelin.

    O-Ton 15 Feuchtwanger-Sarig Teil 2
    Sprecherin OV
    „Als Jude, der vor den Nazis geflohen war, war er der Meinung, dass aus Deutschland gerettete jüdische Kulturgüter nicht mehr dorthin zurückkehren sollten. Er hat sich dann letztlich doch gebeugt. Er konnte überzeugt werden davon, dass mit einer erneuten Reise dieser Sukkah nach Deutschland quasi eine verbindende Brücke gebaut werden könnte. Mein Großvater wollte dieses Zeugnis des Judentums all dem Hass, all der Entfremdung entgegenhalten, und er reiste zur Vorbereitung der Ausstellung Anfang der 60er-Jahre dann auch selber in die Bundesrepublik. Diese Reise war sehr schwer für ihn, und möglicherweise emotional zu anstrengend. Er ist kurz danach gestorben.“ 

    Erzählerin
    Heinrich Feuchtwangers Sorge um die Unversehrtheit der Fischacher Sukkah – sie sollte sich letztlich als berechtigt herausstellen.

    O-Ton 16 Sarfati
    Sprecherin OV
    „Die Ausstellungsmacher in Köln haben quasi als Dankeschön eine Restaurierung der Laubhütte vorgenommen. So kam es zu diesen, sagen wir mal, unprofessionellen Veränderungen der Fischacher Sukkah.“

    Erzählerin
    …weiß die Jerusalemer Kuratorin Rachel Sarfati.

    O-Ton 17 Safarti
    Sprecherin OV
    „Ich habe eine neue Farbschicht entdeckt, die viele Fehler enthielt. Farben wurden von Hell nach Dunkel, und von Dunkel nach Hell verändert.“

    Erzählerin
    Veränderungen, die zunächst unbemerkt blieben, sagt die Kunsthistorikerin Naomi Feuchtwanger-Sarig. Es erstaune sie, dass die „Verschlimmbesserung“ der Malereien bei einem so bekannten Objekt – das zudem als Leihgabe in anderen Museen ausgestellt war – zunächst niemandem auffielen. Naomi Feuchtwanger-Sarig veröffentlichte zwar 1988 eine Forschungsarbeit zur Sukkah aus Fischach und deren schicksalhafter Historie. Dass die Laubhütte vor Jahrzehnten unsachgemäß übermalt worden war – das fiel indes erst Mitte der 2000er-Jahre auf. Damals wurde die Sukkah abgebaut, um sie während der Renovierung des Museums routinemäßig einer Überholung zu unterziehen.

    O-Ton 19 Feuchtwanger-Sarig
    Sprecherin OV
    „Ursprünglich wollte man nur das Holz konservieren. Es war dann ein großer Schock, als man bei der Reinigung der Paneele entdeckte, dass es unter der oberen Farbschicht eine weitere gab.“

    Erzählerin
    Die weitgereiste Fischacher Laubhütte ging daher erneut auf große Fahrt. Diesmal auf Erholungsurlaub, sozusagen.

    O-Ton 20 Sarfati
    Sprecherin OV
    „Ja, die Sukkah und ich, wir haben dann eine nette Zeit zusammen in Frankreich verbracht“ (lacht). Aber im Ernst: Israel ist ein sehr junger Staat, wir haben daher keine Tradition und Erfahrung mit Holzmalerei. Deshalb haben wir ein Labor im Ausland gesucht – und eines in West-Frankreich gefunden.

    Musik

    Erzählerin
    Die Restaurierung zog sich hin. Dass die Fischacher Laubhütte in ihren Originalzustand überhaupt zurückversetzt werden konnte – das ist einem Nachfahren ihres ursprünglichen Besitzers Jacob Deller zu verdanken: Alberto Deller, der als Kind vor den Nationalsozialisten nach Ecuador floh, besuchte Israel – und wollte dort die Sukkah seiner Vorfahren besichtigen.

    O-Ton 21 Sarfati
    Sprecherin OV
    „Alberto Deller stand jedoch vor verschlossenen Türen, denn das Museum war wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Die Sukkah seiner Familie war abgebaut und im Depot zwischengelagert worden – bis wir das Geld für ihre Restaurierung auftreiben würden. Diese Geschichte war also das Einzige, womit ich aufwarten konnte. Und ich erzählte ihm von der schwierigen Finanzierung der Restaurierung. Ich wusste damals nicht, dass Deller sehr wohlhabend ist und sich bereits einen Namen als Mäzen der Hebräischen Universität hier in Jerusalem gemacht hatte. Schließlich bot er an, die Kosten für die Restaurierung zu übernehmen.“

    Erzählerin
    Nun ist die Fischacher Laubhütte wieder in ihrem Originalzustand, in ihrer alten, neuen Heimat Israel Museum.

    Musik

    Erzählerin
    Die Laubhütte von Fischach: Sie verbinde Familien und Generationen, über die Kontinente hinweg, sagt die israelische Kuratorin und Kunsthistorikerin Rachel Sarfati.

    O-Ton 23 Sarfati
    Sprecherin OV
    „Ja, es gibt Verbindungen, die sich über die ganze Welt erstrecken. Die Sukkah verbindet die Deller-Familie und ihre Nachfahren, die Sterns. Sie verbindet die Familien Fränkel und Feuchtwanger. Sie verknüpft die Kontinente und Länder: Israel, Europa – und Lateinamerika. Die Fischacher Laubhütte ist ein so seltenes und einzigartiges Stück, dass auch ich mich in besonderer Weise verbunden fühle.“  

    TC 21:50 – Outro


    19 April 2024, 10:00 am
  • 21 minutes 46 seconds
    ALTES ARABIEN - Die Nabatäer und die Felsenstadt Petra

    Es war eine Sensation, als Archäologen vor rund 100 Jahren "Petra" ausgegraben haben: eine in Fels gehauene Stadt, die den Nabatäern als Handelsmetropole diente. Ihre Blütezeit hatten die Nabatäer zur Zeit Jesu. Sie beherrschten die Weihrauchstraße und organisierten den Handel zwischen Arabien und dem Mittelmeerraum. Bis heute stoßen Archäologen immer noch auf neue Erkenntnisse. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2016)

    Credits
    Autor: Bernd-Uwe Gutknecht
    Regie: Irene Schuck
    Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Silke von Walkhoff
    Technik: Gerhard Wicho
    Redaktion: Thomas Morawetz
    Im Interview: Prof. Dr. Stephan Schmid, Jane Taylor

    Linktipps:

    Das Kalenderblatt (2013): J.L. Burckhardt entdeckt Petra (22.08.1812)

    Die Felsenstadt Petra im heutigen Jordanien war bis ins 3.Jahrhundert n. Chr. als blühende Handelsstadt der Nabatäer bekannt. Am 22. August 1812 entdeckte der Schweizer Johann Ludwig Burckhardt die sagenhaften Ruinen. JETZT ANHÖREN

    ZDFinfo (2020): Petra – Felsentempel in der Wüste

    Beeindruckende Felsformationen und mächtige Fassaden – mitten in der jordanischen Wüste fasziniert die antike Felsenstadt Petra Archäologen, Historiker und Touristen. JETZT ANSEHEN

    Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

    Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

    DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

    Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

    Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

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    Timecodes (TC) zu dieser Folge:

    TC 00:15 – Intro
    TC 01:37 – Luxus mitten im Nirgendwo
    TC 03:36 – Eine schlecht zu verteidigende Lage
    TC 05:18 – Der Nomadenstamm
    TC 08:44 -  Ein Leben wie ihre Vorfahren
    TC 12:00 – Die Wallstreet der Wüste
    TC 15:06 – Im arabischen Olymp
    TC 17:46 – Verantwortungsvoll, gut organisiert und stets bemüht
    TC 21:06 – Outro

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    TC 00:15 – Intro

    MUSIK

    ATMO 1 Aufstieg

    Erzähler:
    Der Aufstieg ist beschwerlich. Von Petra, der faszinierenden Felsenstadt unten im Canyon, hinauf zum 1.200 Meter hohen Gipfelplateau des Umm al-Bijara (sprich: Umm all Bichara), übersetzt der „Mutter der Zisternen“. Hunderte von Stufen wurden in den vergangenen zwei Jahrtausenden in den Kalk - und Sandstein geschlagen, um auf den höchsten Berg der Gegend zu gelangen.

    Erzählerin:
    Immer wieder wurde der Weg von Sandstürmen verweht, von Geröll verschüttet, von Erdbeben zerstört und ein ums andere Mal wiederhergestellt. In den vergangenen beiden Jahrhunderten von Archäologen, zuvor von Beduinen, zur Zeitenwende vom geheimnisumwitterten Volk der Nabatäer!

    ATMO 2 Archäologengespräch

    Erzähler:
    Seit den neunziger Jahren graben und forschen Archäologen der Berliner Humboldt-Universität rund um Petra. Zahlreiche Gebäudekomplexe - Tempel, Gräber, Villen aus den ersten Jahrhunderten vor und nach der Zeitenwende - haben sie bereits freigelegt und dokumentiert. Auf dem Umm al-Bijara sind sie auf eine erstaunliche Anlage gestoßen.

    ATMO 3 kratzen

    TC 01:37 – Luxus mitten im Nirgendwo

    Erzählerin:
    Eine luxuriöse Wellness-Oase auf einem Berg mitten in der Wüste: mit Marmor-Badewannen, kunstvollen Mosaiken, Steinfiguren von badenden Jünglingen. Prof. Dr. Stephan Schmid ist der Ausgrabungsleiter:

    O-Ton 1 Schmid Luxusbad:
    „Man darf sich da durchaus den damals üblichen Luxus vorstellen, der dadurch fast pervers wirkt, dass er an einem sehr unwirtlichen Ort praktiziert wird. Wir haben eine Badeanlage gefunden, die mit 20 auf 30 Metern ein ganz anständige Dimension erreicht. Da gab`s beheizbare Räume mit Boden - und Wandheizung, es gab für den Endnutzer fließendes Wasser, das kommt zwar aus den Zisternen, wird aber in Zwischentanks erst mal eingefüllt und der Endnutzer kann richtig seine Badewanne mit fließend Wasser füllen lassen und das ist natürlich für ehemalige Nomaden schon eine Leistung.“

    MUSIK
       
    Erzähler:
    Feinkeramik - und Glasscherben lassen vermuten, dass es sich die Badenden auf dem Berg gut gehen ließen. Die größte Badewanne, die mehreren Personen Platz bot, also eine Art antiker Whirlpool, ist direkt an der Felskante installiert, hinter der es Hunderte von Metern in die Tiefe geht – antike Wellness mit Nervenkitzel und einem fantastischen Panorama: Vom Plateau reicht der Blick über ganz Petra und auf der anderen Seite bis ins Jordantal, ins heutige Israel. Lage und Luxusausstattung des Berg-Bades waren vermutlich so etwas wie ein Architekturwettstreit mit Herodes dem Großen, der nebenan in Judäa pompöse Paläste bauen ließ. Ziel war es, Macht und Reichtum zur Schau zu stellen.

    MUSIK AUS

    TC 03:36 – Eine schlecht zu verteidigende Lage

    O-Ton 2 Schmid Herodes:
    „Die Nabatäer waren ja die direkten Nachbarn und auch direkt verschwägert mit Herodes dem Großen und seinen Nachfolgern, da gab`s einen regen Austausch von Heiratspolitik, man hat sich auch hin und wieder bekriegt, man kannte sich jedenfalls sehr gut. Und im Königsreich von Herodes dem Großen und seinen Nachfolgern kennen wir zahlreiche Höhenresidenzen, und unser Schlagwort ist, dass Um-el-Bijara, dieser Berg hier, die nabatäische Antwort auf Masada, die große Palastanlage von Herodes dem Großen am Toten Meer darstellen könnte.“

    Erzählerin:
    Die exponierte Position dieser Anlage, die nicht nur aus Badewannen, sondern auch aus Wohn – und Wachgebäuden bestand, hatte auch einen strategischen Grund.

    O-Ton 3 Schmid Königsberg:
    „Unsere Arbeits-Hypothese ist die, dass sich hier oben eine Königsresidenz befunden haben könnte aus folgenden Gründen: Der Berg ist der Stadtberg von Petra, der überblickt das Stadtgebiet mit 300 Metern Höhendifferenz, Umm-al-Bijara, Mutter der Zisternen, also da wurde auch Wasser in Zisternen gesammelt. Offenbar wollte man hier oben größere Menschenmengen oder Menschen mit hohem Wasserbedarf bewirtschaften können. Der andere Punkt: Der Berg ist extrem wichtig für die Kontrolle des ganzen Gebietes. Petra selbst liegt ja in einem tiefen Talkessel, da hat man keine Sicht, keine Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Und das ist ab dem Zeitpunkt, wo man aus der nomadischen in die sesshafte Lebensweise wechselt, denkbar ungünstig. Und dazu dient dieser hohe Berg, man hat hier eine perfekte Fernsicht und kann kommunizieren mit einer ganzen Reihe von Wachtürmen die sich rund ums Siedlungsgebiet von Petra  und befunden haben und diese Informationen eben mit dem Stadtgebiet eben austauschen und kommunizieren.“

    TC 05:18 – Der Nomadenstamm

    MUSIK & ATMO 5 Kelle

    Erzähler:
    Wer waren diese Nabatäer, die in solch einem unwirtlichen, labyrinthartigen Schluchtensystem ihre Hauptstadt errichteten?

    ATMO 6 Schaufel

    Erzählerin:
    Neben den Tonscherben, Münzen oder Steinreliefs, die Archäologen wie Stephan Schmid zutage fördern, haben die Forscher nur einige schriftliche antike Quellen zur Verfügung: von den Geschichtsschreibern Strabon, Flavius Josephus oder Diodorus. Von den Nabatäern selbst wurden bisher nur wenige schriftliche Zeugnisse gefunden.

    Erzähler:
    In der Bibel tauchen die Nabatäer bei Paulus auf. Und zwar in Person von König Arétas, der als König von Damaskus bezeichnet wurde. Zu Jesu Zeiten reichte das Herrschaftsgebiet der Nabatäer bis ins heutige Syrien. 

    Erzählerin:
    Zum ersten Mal wird der semitische Nomadenstamm vom griechischen Historiker Diodorus erwähnt: Im Jahr 312 v. Chr. kämpfte demnach ein griechisch-makedonisches Heer von fast 5.000 Mann gegen die Nabatäer, eroberte vorübergehend Petra und erbeutete große Mengen an Weihrauch und Myrrhe sowie 500 Talente Silber, was 70 Tonnen entspricht!

    MUSIK AUS

    O-Ton 4 Schmid Könige:
    „Die frühesten Belege stammen aus der hellenistischen Zeit, wo ein König der Araber genannt wird, der eigentlich nur Nabatäer sein kann und dann ab dem späten zweiten Jahrhundert werden sie dann auch richtig König der Nabatäer genannt. Auch auf ihren eigenen Münzen treten sie als solche auf. Zumindest nach außen muss das als monarchische Form wahrgenommen worden sein. Man kann sich gut vorstellen, dass es eine Art Scheichtum war, es gab eben einen Oberscheich und weil er der Oberscheich war, galt er für die Griechen und Römer als König.“

    MUSIK

    Erzähler:
    Aus ihrer Nomadenzeit hatten die Nabatäer die Stammesstrukturen bewahrt, auch als sie rund um Petra sesshaft wurden. Wie früher, als sie durch die Wüstengegenden im heutigen Syrien, Jordanien, Irak, Palästina und Saudi Arabien zogen, lebten sie in Großfamilien und Clans. Davon zeugen große Versammlungsräume, die in die Felswände von Petra gebaut wurden. In diesen Bankettsälen finden sich sogenannte Triklinien, abgetrennte Räume, die an drei Seiten Sitzbänke hatten. In diesen Räumen wurde rituell gekocht, es wurden Tieropfer dargebracht und es wurde beratschlagt und zu Gericht gesessen.

    Erzählerin:
    Als Nomaden hatten die Nabatäer keine eigene Schriftsprache. Sie bedienten sich des Aramäischen, also der Sprache Jesu, vor allem, wenn es um Handelsverträge, Bauinschriften etc. ging. Mythische, rituelle oder alltägliche Dinge wurden mündlich überliefert.

    MUSIK AUS

    O-Ton Schmid 5 aramäisch:
    „Da muss man offenbar unterscheiden zwischen dem, was sie gesprochen haben, das scheint wirklich Arabisch gewesen zu sein, ein Früh-Arabisch, und dem, was sie geschrieben haben. Geschrieben haben sie tatsächlich Aramäisch, das war damals die lingua franca, die in diesem Teil der antiken Welt durch das persische Achämenidenreich flächendeckend als Verwaltungssprache eingeführt wurde. In dieser Sprache schreiben die Nabatäer, das ist eigentlich schriftmäßig die Ursprungssprache des modernen Arabisch und des Hebräisch. Aramäisch ist die Sprache von Jesus und auch die Bibel ist in Aramäisch abgefasst in weiten Strecken.“

    Erzähler:
    Aus diesem frühen Aramäisch hat sich dann die Arabische Schrift entwickelt, wie wir sie kennen.

    TC 08:44 -  Ein Leben wie ihre Vorfahren

    Erzählerin:
    Und wie sie die Nachfahren der Nabatäer benutzen, die heute in den Hügeln rund um Petra leben: ohne Strom und fließendes Wasser, in Zelten aus Tierleder, einem für die Männer, einem für die Frauen.

    ATMO 7 Mörser Kardamom

    O-Ton 6 Schäferin Name over weiblich:
    „Mein Name ist Haje (sprich: Ha-je), ich bin 50 Jahre alt und ich habe sechs Kinder.“

    Erzähler:
    Die Frau sitzt auf einer staubigen Wolldecke vor dem Zelt, im Mörser zerkleinert sie Kardamom-Körner. Ihr schwarzer Umhang verhüllt den ganzen Körper, bis auf die Augen.

    O-Ton 7 Schäferin Tag over weiblich:
    „Unser Tag sieht so aus: Erst mache ich das Frühstück, meine Söhne gehen zum Wasser holen, die Töchter bringen die Ziegen zum Grasen. Wir essen Joghurt, Zwiebeln, Brot, trinken Tee. Sonst gibt`s kaum etwas. Fleisch nur, wenn Gäste kommen, dann schlachten wir eine Ziege “

    ATMO 8 Brotbacken

    Erzählerin:
    Jetzt knetet die Frau Brotteig, den sie zu Fladen formt. Statt in einen Ofen steckt sie diese Fladen einfach in den heißen Wüstensand.
    Eine Viertelstunde später ist das Brot fertig gebacken und wird mit etwas Ziegenkäse und Wildkräutern gegessen.

    Erzähler:
    Das karge Leben der Beduinen dürfte sich kaum vom Lebensstil früherer Nomaden unterscheiden. Mit Geld kommen sie selten in Berührung, vielmehr tauschen sie Lebensmittel, Tiere oder Stoffe mit anderen Beduinen.

    MUSIK

    Erzählerin:
    Auch die Nabatäer haben in ihrer Nomadenzeit wohl so gelebt. Durch ihre steigenden Handelsaktivitäten und den aufkommenden Wohlstand änderte sich aber die Gesellschaftsform.

    MUSIK AUS

    Die Nabatäer suchten ein Zuhause, ein Zentrum, und fanden es in Petra.

    ATMO 11 Markt

    Erzähler:
    Den Marktplatz von Petra muss man sich wie einen großen Souk vorstellen, wie man ihn heute noch in Jordaniens Hauptstadt Amman findet.

    MUSIK

    An den Ständen bieten die Händler Gewürze, Gemüse, Fleisch, Fisch, Kaffee und Tee sowie Gebrauchsgegenstände aller Art feil.

    Erzählerin:
    Die Hauptstraße von Petra ist noch deutlich zu erkennen: die Pflastersteine sind gut erhalten und weisen keine Spuren von Rädern auf – der Boulevard war also eine frühe Fußgängerzone! Gesäumt von Brunnen, Badehäusern, Theater, Mausoleen. Zu Zeiten der Nabatäer war diese Prachtstraße noch beeindruckender als heute. Denn die meisten Gebäude waren mit kunstvollem Stuck verziert und farbenfroh gestrichen, während die Überbleibsel sandfarben sind.

    ATMO 12 Marktschreier

    Erzähler:
    Petras Marktschreier brachten die wertvollsten Produkte der damaligen Zeit unter die Leute: Luxusgüter wie Alabaster, Elfenbein, Perlen, Purpur oder Pfeffer. Auch Aromata wie Weihrauch, Myrrhe, Balsam oder Zedernduft. Vor allem die Einkäufer aus Rom rissen sich um die Zutaten für Salben, Cremes oder Badewasser, da die römische Kanalisation zum Himmel stank und mit Düften übertüncht werden musste.

    TC 12:00 – Die Wallstreet der Wüste

    Erzähler:
    In der Hochzeit reichte der nabatäische Karawanenstaat von Damaskus im Nordosten bis nach Medina im Süden, im Westen bis zum Sinai. Auf der arabischen Halbinsel kontrollierten sie die so genannte Weihrauchstraße, die von Jemen und Oman bis zum Mittelmeer führte und auf der neben Gewürzen aus Indien auch chinesische Seide transportiert wurde.

    Erzählerin:
    In der Oase Hegra im heutigen Saudi-Arabien übernahmen die nabatäischen Kaufleute die Ware von südarabischen Händlern, brachten sie in 30 bis 40 Tagesmärschen in Kamel- und Dromedarkolonnen nach Petra oder nach Gaza, dem wichtigsten Umschlagplatz am Mittelmeer. Von dort führte die Handelsroute nach Rom oder Athen. Die wichtigsten Karawanen-Strecken waren mit bewachten Brunnen, Warendepots und Versorgungsstationen versehen.

    MUSIK AUS

    ATMO 13 Petra Sprachen

    Erzählerin:
    Kaufleute aus vielen Regionen tummelten sich in Petra, das eine Art Wallstreet der Wüste war. Statt des Touristen-Mix‘ aus Englisch, Deutsch oder Japanisch war vor 2.000 Jahren ein Sprachengemisch aus Aramäisch, Persisch und Latein zu hören. Historiker schätzen, dass zur Hochzeit etwa 30.000 Menschen in Petra lebten, darunter zahlreiche Ausländer, die auch ihre Vorlieben mitbrachten. Der Archäologe Stephan Schmid stößt bei Grabungen immer wieder auf Keramik, Glas und Marmor aus Italien oder Griechenland.

    ATMO 14 Wasserplätschern

    Erzähler:
    Ein paar Kilometer von Petra entfernt sprudelt Quellwasser aus den Felsen. Laut Bibel soll Moses hier mit einem Stock auf einen Felsblock geschlagen und so die Quelle geöffnet haben. Diese Wasserstelle garantiert seit Tausenden von Jahren die Trinkwasserversorgung.

    MUSIK

    Erzählerin:
    Die Nabatäer entwickelten ein ausgeklügeltes Kanalsystem, das Wissenschaftler heute als „Wasserbaukunst“ bezeichnen: starke Regenfälle im Winter können die Schluchten rund um Petra komplett unter Wasser setzen, im Sommer fällt nahezu kein Regen. Diese Herausforderung meisterten die Ingenieure der Nabatäer, indem sie Dutzende von Barrieren bauten, um die Fließgeschwindigkeit des Wassers im Winter zu verringern. In Dämmen und unterirdischen Zisternen wurden enorme Wassermengen gesammelt, über ein weitverzweigtes Kanalsystem verbreitet.

    Erzähler:
    Rechnungen ergaben, dass rund ums Jahr etwa 45 Millionen Liter zur Verfügung standen. Eine immense Menge an Wasser, zumal mitten in der Wüste! Damit konnten die sesshaft gewordenen Nomaden auf bewässerten Terrassen Landwirtschaft betreiben, was den Fund zahlreicher Getreidemühlen, Wein – und Ölpressen erklärt. Luftaufnahmen deuten auch auf großzügig angelegte Gartenanlagen in Petra hin. Die Nabatäer hatten sich an einem der unwirtlichsten Plätze der Region ein Paradies geschaffen.

    ATMO 15 Petra Kinder
    MUSIK AUS

    TC 15:06 – Im arabischen Olymp

    Erzählerin:
    Die Frage ist: Warum taten sie das in diesem staubigen Schluchten-Labyrinth?

    Erzähler:
    Eine Möglichkeit, die von Historikern und Archäologen diskutiert wird: Eventuell hatten die Nabatäer einen mystischen Bezug zu diesem Ort.

    MUSIK

    Jedenfalls fanden die Forscher zahlreiche Stein-Stelen, die Götter symbolisieren. Inschriften auf Reliefs lassen den Schluss zu, dass Petra nicht nur ein Handelszentrum, sondern auch eine Pilgerstätte war. Vielleicht vermuteten die Nabatäer, dass die von ihnen angebeteten Gottheiten hier zuhause sind. Petra wäre demnach eine Art arabischer Olymp gewesen.

    O-Ton 12 Schmid Duschara:
    „Die Nabatäer hatten ein relativ detailliertes Pantheon, da gibt es eine ganze Reihe von Göttern, allerdings scheint es sich ein bisschen auf einen Hauptgott zu fokussieren, also eine stark trichterförmige Verengung oder Konzentration auf einen Hauptgott. Hier in Petra ist das eindeutig Duschara, d.h. der von den Schara-Bergen. Und die Schara-Berge, das ist diese Gebirgskette, die den Übergang von der innerarabischen Hochebene in den arabisch-afrikanischen Grabenbruch, in dem auch der Jordan, das Rote und Tote Meer liegen, darstellt. Dieser Duschara war ganz wichtig, denn von den Schara-Bergen kommt das segens-und kulturbringende Wasser, von daher kommt aber auch das alles zerstörende Wasser, wenn man eben nicht aufpasst und das ein bisschen domestiziert. Lustigerweise oder interessanterweise, wenn es um die bildliche Darstellung von Duschara in Griechisch-Römischen Bildchiffren geht, dann taucht er als Dionysos oder Bacchus auf. Das gibt uns eine gewisse Vergleichbarkeit.“

    Erzählerin:
    Hauptgott Duschara wurde auch mit Vollbart, als Verkörperung des griechischen Zeus, dargestellt! So anpassungsfähig die Nabatäer in ihren Handelsstrategien waren, so flexibel waren sie mit ihrer Religion: Sie passten sich den Umständen an, lernten Gottheiten der Nachbarvölker kennen und adaptierten sie.
    Je nach Region beteten sie die lokalen Götter an, das konnten auch Flüsse, Quellen, Berge oder Bäume sein. In der Beschreibung der nabatäischen Gottheiten finden sich Merkmale arabischer, persischer und vor allem hellenistischer Götter wieder. So hatte jede Siedlung einen eigenen Hauptgott, zum Teil glaubten einzelne Familien an eigene Wesen.

    MUSIK AUS

    O-Ton 13 Jane gods OV weiblich:
    “Außerdem wissen wir von drei Haupt-Göttinnen in Petra, deren wichtigste Al-Huzza war. Ihr Name kann mit „Die Große“ übersetzt werden.

    TC 17:46 – Verantwortungsvoll, gut organisiert und stets bemüht

    Erzählerin:
    Die britische Schriftstellerin und Fotografin Jane Taylor lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Jordanien, hat mehrere Dokumentationen über die Nabatäer veröffentlicht. Neben der sehr variablen Religion beeindruckt sie auch die relativ gleichberechtigte Rolle der nabatäischen Frauen:

    O-Ton 14 Jane women OV weiblich:
    „Es gibt Hinweise, dass die Nabatäer ihre Frauen wesentlich höher ansahen als etwa die Römer oder die Juden der Epoche. Ein Anzeichen dafür ist die Tatsache, dass auf den Münzen der Nabatäer nicht nur Könige, sondern auch Königinnen abgebildet waren. Das gab`s weder bei Römern noch bei den Juden. Es ist leider sehr wenig über das Alltagsleben der Ehefrauen, Mütter, Töchter überliefert, aber wir kennen relativ viele Namen von Königinnen und auch von Königstöchtern. Und diese wurden offenbar nicht viel anders behandelt als die Königssöhne.“

    Erzähler:
    Die wenigen historischen Quellen vermitteln den Eindruck, dass die Nabatäer ein sehr verantwortungsvolles, gut organisiertes und um Frieden bemühtes Volk bildeten. Laut Geschichtsschreibern versuchten sie, mögliche Feinde eher mit Strategie und Diplomatie zu bezwingen als mit militärischer Gewalt. So führten sie ein römisches Heer fehl, damit dieses an keiner Oase vorbeikam und schließlich geschwächt ohne jeden Kampf aufgeben musste.

    MUSIK

    Als die Römer alternative Handelsrouten auf dem Seewege etablierten, verloren die Nabatäer ihr Handelsmonopol und wurden als Unterhändler quasi überflüssig. Relativ unspektakulär wurde ihr Reich von Rom geschluckt und ging in der Provinz Arabia auf. Aus Händlern wurden sesshafte Bauern.

    Erzählerin:
    Das Handelszentrum Petra geriet in Vergessenheit, stattdessen zogen die Karawanen nach Palmyra oder Aleppo.

    MUSIK AUS

    O-Ton 16 Schmid Ende:
    „Das nominelle Ende des nabatäischen Königreiches kommt 106 nach Christus, als die Römer hier einmarschieren und das Nabatäer-Reich in die Provinz Arabien umwandeln. Es ist immer noch nicht ganz klar, warum zu diesem Zeitpunkt, wenige Jahre später unternimmt der gleiche Römische Kaiser Trajan einen groß angelegten Feldzug in den damaligen Osten, das Partherreich wird bekriegt und teilweise erobert. Und möglicherweise war es für die Römische Verwaltung und Planung wichtig, in dieser Ecke der antiken Welt, wo wichtige Zufahrtsstraßen auch auf die künftigen Kriegsschauplätze hin durchführen, für Ruhe zu sorgen, prophylaktisch sozusagen.“

    Erzähler:
    In der Folge vernachlässigten die Römer Petra. Viele Bewohner zogen weg, nur einige Christen nutzten die Höhlenverstecke auf ihrer Flucht vor den Römern. Die Stadt verfiel.

    Erzählerin:
    Und erlitt im Jahr 363 nach Christus sozusagen den Todesstoß. Ein schweres Erdbeben machte den Resten eines einst blühenden Handelsreichs ein Ende. Als der Schweizer Forscher Johann Ludwig Burckhardt alias Scheich Ibrahim 1812 Petra erreichte, existierte die Stadt schon lange nicht mehr. Wüstensand überdeckte die ehemalige Metropole wie ein Mantel des Schweigens.

    TC 21:06 – Outro

    15 April 2024, 10:10 am
  • 23 minutes 2 seconds
    ALTES ARABIEN - Frühzeitlicher Fernhandel

    Lange bevor Erdöl und Erdgas die Arabischen Emirate reich machten, wurde von dort Fernhandel bis nach Indien betrieben. Gold, Perlen, Waffen im Tausch gegen Edelsteine, Hölzer, Gewürze. Die Region um Dubai war schon in der Stein-, Bronze-und Eisenzeit ein wichtiges Handelszentrum. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2023)

    Credits
    Autor: Bernd-Uwe Gutknecht
    Regie: Kirsten Böttcher
    Es sprachen: Rahel Comtesse, Thomas Birnstiel, Christian Baumann, Jenny Güzel
    Technik: Robin Auld
    Redaktion: Thomas Morawetz
    Im Interview: Christian Velde, Ali Al Mansoori, Aisha Ahmet, Mansour Boraik, Abdullah Mansouri, Abdulla Rashed Al Suwaidi

    Linktipps:

    radioWissen (2023): Das Dromedar – Überlebenskünstler und Luxusrenntier

    Dromedar oder Kamel? Die Zahl der Höcker macht den Unterschied, Dromedare sind die mit einem Höcker. Der darin gespeicherte Fettspeicher ist einer der vielen Überlebenstricks der Schwielensohler in der Wüste. JETZT ANHÖREN

    3sat (2020): Der Duft des Orient – Die Weihrauchstraße

    Weihrauch ist der Wundsaft eines knorrigen Wüsten-Baumes. Dieter Moor folgt den Spuren dieses gleichermaßen mythischen wie aromatischen Rauchs auf einer der ältesten Karawanen-Handelsstrasse der Geschichte. JETZT ANSEHEN

    Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:


    Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

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    Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

    Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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    Timecodes (TC) zu dieser Folge:

    TC 00:15 – Intro
    TC 01:59 – Mehr als Palmen, Datteln und Fisch
    TC 05:00 – Lehren aus dem Grab
    TC 07:30 – Ein Industriegebiet mitten in der Wüste
    TC 11:43 – Das Allrounder-Dromedar
    TC 14:03 – Auf der Weihrauchroute
    TC 16:57 – Die Macht der Perlen
    TC 19:06 – Äußere Einflüsse
    TC 22:20 - Outro

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    TC 00:15 – Intro

    MUSIK & ATMO 01 Geröll + ATMO Wüste

    Sprecherin:
    Er trägt immer sehr robuste Lederstiefel, denn er steht oft bis zu den Knöcheln in Haufen von scharfkantigen Muschelschalen und Knochenresten. Seit über 30 Jahren stochert der deutsche Archäologe Christian Velde in den Müllbergen der frühesten Bewohner von Ras al Khaimah,

    O 01 Muscheln:
    „Diese Hügel bezeichnen wir als Muschelhaufen, im Grunde ein Abfallhaufen, von dem, was Menschen gegessen haben. Für uns fantastisch, das ist das, was wir brauchen! Wir graben im Abfall der Menschen, die einmal gelebt haben. Man muss das nur wirklich aufheben (…) das hat ein Mensch vor drei bis vier Tausend Jahren ausgeschlürft und dann hierhin geworfen.“

    ATMO Muschelhaufen

    Sprecher:
    Austern waren wohl schon in der Vorzeit eine Delikatesse oder eher ein Grundnahrungsmittel in dem nördlichsten der Vereinigten Arabischen Emirate.

    MUSIK

    Sprecherin:
    Der Archäologe steht in einer steinigen, staubigen Ebene. Ein paar Kilometer östlich beginnen die steilen Berghänge des Hajar-Gebirges, im Westen glänzt der Arabisch-Persische Golf in der Sonne.

    Sprecher:
    Aus dem Gebirge fließt nach Regenfällen kostbares Wasser herab. Und in den bergigen Regionen können Wildtiere gejagt werden. Aus dem Meer wiederum gibt es reichlich Fische und Meeresfrüchte zu essen. Diese Lage hat die Arabische Golfküste schon sehr früh attraktiv für eine Besiedlung gemacht.

    TC 01:59 – Mehr als Palmen, Datteln und Fisch

    O 02 Steinzeit:
    „Die frühesten Nachweise, wie wir jetzt wissen, sind etwa 200.000 vor der Jetzt-Zeit. Das ist die sogenannte Alt-Steinzeit, das ist die Zeit, in der sich die ersten Wellen früher Menschen aus Afrika weiter ausbreiten und das Faszinierende ist, dass man heute annimmt, dass sie auch über die Arabische Halbinsel nach Asien gekommen sind. Man kann das wirklich nachweisen, dass von 200.000 bis jetzt Menschen in diesem Raum gelebt haben.“

    Sprecherin:
    Auf einer Insel, die zum Emirat Sharjah gehört, haben Forscher im Jahr 2022 Hinweise auf eine Siedlung aus der Altsteinzeit entdeckt, die ältesten Spuren der ganzen Region.

    Sprecher:
    Das hat die Wissenschaftler überrascht, weil in dieser Epoche lange Trockenzeiten auf der Arabischen Halbinsel vorherrschten. Offenbar waren die Menschen damals in der Lage, trotz der harschen Bedingungen zu überleben.

    Sprecherin:
    In der Jungsteinzeit, also etwa ab 10.000 vor unserer Zeitrechnung, haben sich die Lebensbedingungen erheblich verbessert. 

    O 03 Monsun:
    „Vom Neolithikum mit einer kurzen Unterbrechung bis zum dritten Jahrtausend hat es hier eindeutig mehr geregnet als heute. Und zwar deswegen, weil in dieser Zeit der Monsun, der sich heute praktisch auf Indien beschränkt, damals bis in den Norden gekommen, d.h. es hat hier im Grunde zwei Regenzeiten gegeben.“

    MUSIK

    Sprecher:
    Die Ebene, die heute auf dem Staatsgebiet von Ras al Khaimah liegt, hat sich damals zum Obst-und Gemüsegarten der Region entwickelt.

    ATMO 02 Wedel

    Sprecherin:
    Die Grabungsstätten des Archäologen Christian Velde sind eingerahmt von ausgedehnten Palmgärten.

    O 04 Datteln:
    „Wir wissen, dass es von etwa von 3000 vor bis in die Moderne hier Palmengärten gegeben hat, auch wenn wir die ersten Dattelkerne schon aus dem Neolithikum kennen.“

    ATMO 03 Palmgarten

    Sprecher:
    Einer dieser Palmgärten gehört Ali Al Mansoori (sprich: Mansuri). Weiße Haare, weißer Vollbart, weißes Scheichsgewand, so steht der Dattelbauer zwischen seinen Palmen:

    O 05 dades OV männl.:
    OV- männlich
    „Die Menschen früher hatten wenig zu essen hier, eigentlich nur Datteln und Fisch. Das Gute an den Datteln: man kann sie auch ohne Kühlschrank ein Jahr lang aufbewahren. Und sie sind auch noch gesund! Eine Palme versorgt dich mit 120 Kilo Datteln, davon kann sich eine Familie ein Jahr lang ernähren.“

    Sprecher:
    Zwischen den Palmen dringt Sonnenlicht hindurch, so können darunter zwei weitere Ebenen mit Obstbäumen und Boden-Gemüse gedeihen.

    MUSIK

    Sprecherin:
    Aber die Menschen lebten auch damals nicht nur von Datteln und Fischen. Tonscherben und Steinwerkzeuge, die in Ras al Khaimah ausgegraben wurden, deuten darauf hin, dass bereits im sechsten Jahrtausend vor Christus, in der sogenannten Obed-Zeit, Tauschhandel mit Mesopotamien betrieben wurde.

    TC 05:00 – Lehren aus dem Grab

    Sprecher:
    Im dritten Jahrtausend vor Christus lebte die Umm-an-Nar-Kultur im heutigen Emirat, im Anschluss die Wadi-Suq-Kultur. Aus dieser Epoche stammen bedeutende Funde von Christian Velde: Hunderte von Gräbern!

    Zusp. O 08 Gräber:
    „Wo wir etwas finden, ist jenseits der Palmengärten, wo die Menschen meistens ihre Toten bestattet haben und deswegen finden wir sehr häufig Gräber. Und die findet man tatsächlich in diesem Gebiet zwischen den Palmengärten, in den Schotterflächen am Rand der Berge. Das Faszinierende ist Shimal, wo sich ein gewaltiger Friedhof befindet mit mehr als 100 megalithischen Gräbern, die aus einer Zeit zu Beginn des zweiten Jahrtausends stammen, aus einer Kultur, die wir Wadi Suk-Kultur nennen, aus der Zeit zwischen 2000 und 1600 v.Chr.“

    ATMO 06 Grab

    Sprecherin:
    Blickt man über die Ebene, reiht sich Hügel an Hügel, unter jedem Hügel ruhen Gruppen-Gräber, die meist für 30 bis 60 Personen angelegt wurden. Nur einige der Grabhügel sind bisher freigelegt worden, mit teils erstaunlichen Funden:

    O 09 Hund:
    „Ein komplettes Skelett einer jungen Frau, die angehockt – das sind alles Hockerbestattungen im 2. und 3. Jahrtausend – dort bestattet worden ist und das Faszinierende an dieser Bestattung ist, dass oberhalb ihres Kopfes ein Hund bestattet war. Sie ist also scheinbar mit ihrem Hund bestattet worden. Es ist ein Hund, der nachweislich seit den Beduinen hier existiert, aber sehr wahrscheinlich schon Jahrtausende davor existiert hat.“

    Sprecher:
    Für Archäologen sind es oftmals die unspektakulären Entdeckungen, die für neue Erkenntnisse sorgen. So ergaben Untersuchungen an abgenagten Hühnerknochen, dass schon in der Bronzezeit Handel mit dem fernen Indien stattgefunden hat:

    0 10 Huhn:
    „Das Huhn ist faszinierenderweise im Industal, also in Indien domestiziert worden, die Urform des Huhns. Und tatsächlich hat man die Reste von Hühnern auch hier gefunden. Tatsächlich scheinen im dritten Jahrtausend Hühner hierher exportiert worden zu sein.“

    Sprecherin:
    Da sich abgeknabberte Hühnerknochen nicht so gut als Ausstellungsstücke für ein Museum eignen, werden im Nationalmuseum von Ras al Khaimah Steinpfannen, bemalte Becher, Bronzewerkzeuge und Waffen, etwa Dolche oder Pfeilspitzen gezeigt.

    TC 07:30 – Ein Industriegebiet mitten in der Wüste

    ATMO 07 Innenhof

    Sprecher:
    Im Innenhof des Museums hat die Museums-Führerin Aisha Ahmet gerade eine Studentengruppe verabschiedet. Für sie als Einheimische ist es etwas Besonderes, dass sich Besucher aus anderen Weltgegenden für die frühzeitliche Geschichte von Ras al Khaimah interessieren:

    O 11 map OV weibl.:
    OV- weiblich
    „Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn ich mir die alten Karten anschaue und sehe, dass mein Land schon vor sehr langer Zeit mit weit entfernten Gegenden der Welt vernetzt war. Und auch die Gäste hier im Museum - etwa die aus China oder Indien - staunen, dass unsere Länder schon in der Frühzeit Handel miteinander getrieben haben.“

    MUSIK

    Sprecherin:
    Aufgrund seiner Lage in dem schmalen Streifen zwischen Meer und Berg war das heutige Ras al Khaimah prädestiniert für frühe Siedlungen. Aber auch in den anderen Emiraten entlang der Küste des Arabisch-Persischen Golfes wurden Belege für weitreichende Handelsaktivitäten gefunden.

    Sprecher:
    Eine Zufallsentdeckung sorgte im Jahr 2002 in Dubai für Schlagzeilen: Scheich Mohammed bin Rashid Al Maktoum, der Herrscher von Dubai, erspähte während eines Helikopterfluges ungewöhnliche dunkle Schattierungen im Wüstensand. Wie Wissenschaftler kurze Zeit später analysierten, handelte es sich um Schlacke, ein Abfallprodukt von Schmelzöfen aus der Eisenzeit.  

    Sprecherin:
    Die umfangreichen Grabungsarbeiten förderten Tausende Metall-Objekte zu Tage, vor allem Waffen und Schmuck. Der Archäologe Dr. Mansour Boraik ist der Direktor des Saruq al Hadid-Museums, in dem die Exponate zu sehen sind:

    0 13 Gold OV männl.:
    OV- männlich
    „Das war ein richtiges Industriegebiet für Metallarbeiten. Vor allem Waffen wurden hergestellt: Speerspitzen, Äxte, Pfeile. Daneben haben wir aber auch analysiert, dass hier Gold zu Schmuck verarbeitet wurde. Wir haben Goldkettchen gefunden, unbearbeitetes Gold, und auch Goldschmuck mit Perlen. Das Gold kam wohl aus Saudi-Arabien und Jemen und wurde hier bearbeitet.“

    MUSIK

    Sprecher:
    Der Großteil der Fundstücke wird auf das Zeitfenster 1300 bis 800 vor Christus datiert. In den Öfen wurde Eisen geschmolzen, und aus Kupfer und Zink wurde Bronze hergestellt.

    Sprecherin:
    Für diese Prozesse sind Öfen notwendig, die auf über 1200 Grad heizen können. Für damalige Verhältnisse ein Kraftakt – mitten in der Wüste!

    Sprecher:
    Zwar gab es aufgrund höherer Niederschläge mehr Vegetation als heute, also mehr Bäume, etwa Akazien, trotzdem musste das Brenn-Holz für die Öfen aus einem weiten Gebiet zusammengetragen werden. Vermutlich holten die Arbeiter sogar aus dem Hajar-Gebirge brennbares Material.

    Sprecherin:
    Neben den industriell betriebenen Öfen waren aber auch Goldschmiede vor Ort. Das beweisen kunstvoll gestaltete Schmuckstücke, zum Beispiel Halsketten oder Armreife – besetzt mit wertvollen Steinen von weit her. Mansour Boraik:

    O 14 stones OV männl.:
    OV- männlich
    „Die Juwelen waren aus verschiedenen Edelsteinen und Halbedelsteinen gemacht: Amethysten, Achate, Karneole, Lapislazuli, Muscheln, Kristall, alles Mögliche. Das heißt, sie waren in Verbindung mit verschiedenen Handelsvölkern in Mesopotamien, Anatolien, im Industal oder Ägypten. Steine, Silber und Gold wurden weit gehandelt.“

    Sprecher:
    So spektakulär die Funde in Saruq al Hadid waren, so rätselhaft sind die Hintergründe dieser eisenzeitlichen Industriestadt: 

    O 15 mysteries OV männl.:
    OV- männlich
    „Wir haben über 20.000 Objekte ausgegraben. Aber wir stehen immer noch vor vielen Rätseln. Wir wissen nicht, wer diese Menschen waren, wohin sie gegangen sind, warum sind sie verschwunden. Warum haben sie so viele Gegenstände hier zurückgelassen? Diese Geheimnisse müssen erst noch enträtselt werden.“

    TC 11:43 – Das Allrounder-Dromedar

    ATMO 08 Kamel + ATMO Wüste

    Sprecherin:
    In der Übergangsphase von der Bronze- zur Eisenzeit ist auf der Arabischen Halbinsel etwas geschehen, was die gesamte Region massiv verändert hat: Die Menschen erkannten, dass die einheimischen einhöckrigen Kamele, also Dromedare, als Reit- und Tragetiere benutzt werden können. Für Christian Velde war das ein Quantensprung:

    0 16 Domestizierung:
    „Plötzlich haben die Menschen angefangen zu überlegen: Wir fangen die ein, packen sie in einen Pferch und haben unsere Fleischvorräte direkt bei der Hand. Damit fängt die Domestizierung des Kamels an, um 1500, wahrscheinlich als Fleischlieferant. Bis man dann entdeckt hat, die Viecher eignen sich hervorragend, um sie mit Gütern zu bepacken und durch die Gegend wandern zu lassen, weil sie ewig lange ohne oder mit sehr wenig Wasser auskommen. Und dann zweitrangig mit der Domestizierung und Nahrungsmittel-Fleisch-Lieferant Nummer 1 hat man gesehen: Mensch, das sind unsere Lasttiere!“

    Sprecher:
    Damit war der Handelsweg zu Land nach Süden, Norden und Westen frei:

    0 17 Wüste:
    „Und plötzlich ist die Wüste, die immer eine Trennung war – plötzlich konnte man die Wüste durchqueren mit diesen Kamelen. Und plötzlich, das sieht man im ersten Jahrtausend, fangen Handelskontakte mit Jemen an oder mit anderen Teilen der Arabischen Halbinsel weiter im Norden. Weil die weiten Strecken, die man durch den Sand durchgehen muss, mit sehr wenigen Wasserquellen, kann man jetzt überwinden. Das Kamel also, erst als Fleischlieferant und dann als das Lasttier, hat die Arabische Halbinsel in der Eisenzeit, also im ersten Jahrtausend v.Chr. sehr verändert.“

    MUSIK

    Sprecherin:
    Mit den Karawanen fingen Menschen an zu wandern. Beduinen, also Nomaden, die vorher nur in gebirgsnahen Gegenden mit Wasserquellen unterwegs waren, konnten jetzt weite Handlungsreisen unternehmen.

    Sprecher:
    Die Königreiche im südlichen Arabien, wie die der Sabäer und Minäer, konnten ihre Waren auf dem Kamelrücken über die ganze Halbinsel bis nach Palästina, Syrien und zum Mittelmeer transportieren. Bekanntestes Beispiel ist die Weihrauch-Route:

    ATMO Wüste

    TC 14:03 – Auf der Weihrauchroute

    O 18 Weihrauch:
    „Mit der Entwicklung des Kamels und der Karawanenwege wurde dieses Produkt ein Verkaufsschlager Jemens in der gesamten mediterranen Welt, aber auch hier im Golf und der Arabischen Welt.

    Sprecherin:
    Die Karawanen funktionierten ähnlich wie heute Aktiengesellschaften. Kleine Händler konnten sich mit ihren Produkten einkaufen und auf einen großen Gewinn beim Weiterverkauf hoffen. Bezahlt wurde zunächst mit Gold und Silber, bis sich die ersten Münzen etablierten:

    O 19 Münzen:
    „Es hat sogar in dieser Zeit tatsächlich zum ersten Mal in diesem Bereich das Prägen von Münzen gegeben. Man hat Münzen aus dieser Zeit, man hat sogar eine Prägeform oder Gießform für Münzen gefunden. Das ist also die Zeit eines Beduinenreichs und diese Beduinen haben alle vom Handel gelebt, der Handel war der Kern dieses Beduinenreichs.“

    Sprecher:
    Die Zeit von 300 vor bis 300 nach Christus war die Ära der Beduinenreiche an der Golfküste.

    ATMO Meeresbrandung

    Sprecherin:
    Da die Technik der Bootsbauer voranschritt und die Schiffe immer weiter segeln konnten, entwickelte sich ein wahrer Fernhandel. Die frühesten Seefahrer konnten mit ihren Schilfbooten nur überschaubare Distanzen zurücklegen.

    Sprecher:
    Die für den Arabisch-Persischen Golf typischen Holz-Dhaus kamen dann bis nach Indien und China.

    ATMO 10 Werft 1 + ATMO 11 Werft 2

    Sprecherin:
    Dhaus, wie sie in der Werft von Abdullah Mansouri in Ras al Khaimah noch heute fabriziert werden:

    0 20 Bootsbauer OV männl.:
    OV- männlich
    „Mein Großvater und mein Vater haben auch schon Dhaus gebaut. Sie haben es mir beigebracht, als ich 13 Jahre war. Seitdem bin ich jeden Werk-Tag hier in der Werft. Wir verwenden ausschließlich Holz, was Anderes kommt für mich nicht in Frage. Die Inspiration für die Boote hole ich mir aus alten Büchern.“

    ATMO 11 Werft 2 + ATMO 12 Werft 3

    Sprecher:
    Gewürze aus Indien, Keramik aus China, Silber aus Anatolien, Marmor aus Ägypten, Weihrauch aus Jemen - wo heute Dubai, Katar, Bahrain oder Ras al Khaimah globale Handelszentren bilden, waren auch in den Jahrhunderten vor unserer Zeitenwende schon Verkehrs-Knotenpunkte.

    O 22 Händler:
    „Es war sowohl in der islamischen als auch in der vorislamischen Zeit immer ein Handelsmittelpunkt- und Schwerpunkt und Händler ziehen immer andere Religionen, andere Sprachen an, also es dürfte hier immer multikulturell gewesen sein, auch im dritten und zweiten Jahrtausend v.Chr. und in den späteren Perioden auch. Händler sind immer offen, Händler nehmen alles auf, sind tolerant gegenüber allen Religionen, Völkern, Kulturen. Denn das Wichtigste ist für sie, Geld und Handel zu machen und nicht, irgendwelche Ideologien zu verbreiten.“

    MUSIK

    TC 16:57 – Die Macht der Perlen

    Sprecherin:
    Das wertvollste Handelsgut, das Ras al Khaimah zu bieten hatte, waren: Perlen. In den von Mangroven gebildeten sandigen Lagunen entlang der Küste haben Austernmuscheln ideale Lebensbedingungen.

    Sprecher:
    Früher mussten Perlentaucher ohne technische Hilfsmittel auf mühsame und lebensgefährliche Art und Weise am Meeresboden nach den Muscheln suchen. Im 20. Jahrhundert ist die Zucht von Perlenaustern aufgebaut worden. 

    Sprecherin:
    Die älteste Austern-Perle wurde in Abu Dhabi an einer Halskette als Grabbeilage einer Frau aus der Jungsteinzeit gefunden. Auch im Gilgamensch-Epos aus dem dritten Jahrtausend vor Christus werden Perlen erwähnt. Und der römische Geschichtsschreiber Plinius der Ältere lobte die Perlen aus dem Arabisch-Persischen Golf als die feinsten der Welt.

    ATMO 13 Perlen

    Sprecher:
    Abdulla Rashed Al Suwaidi (sprich: Su-wa-i-di) betreibt in einer der Lagunen in Ras al Khaimah eine Perlausternfarm und demonstriert dort, wie die Perlen aus den scharfkantigen Muscheln gelöst werden.

    O 23 pearls OV männl.:
    OV- männlich
    „Wenn man wilde Austernmuscheln vom Meeresboden aufpickt, findet man in einer von 100 Muscheln eine Natur-Perle. Also etwa eine Quote von einem Prozent. Wenn man also 1000 öffnet, hat man zehn und davon sollte zumindest eine so groß und wertvoll sein, um die Ausgaben dafür zu begleichen. Es ist kein einfacher Job!“

    ATMO 13 Perlen

    Sprecherin:
    Die weißen Naturperlen landeten und landen bis heute in Kronen, Zeptern oder kostbaren Schmuckstücken.

    O 24 power OV männl.:
    OV- männlich
    „Wer hat Perlen getragen? Könige, Sultane, Prinzen, Maharadschas, Kaiser, begehrten Perlen. Egal ob im alten Persien, in Indien, in China. Warum waren sie so angetan von Perlen? Weil sie Symbole sind für Geld und Vermögen und daraus resultiert: Macht. Perlen zeigten also ihre Macht!“

    TC 19:06 – Äußere Einflüsse

    ATMO Meeresbrandung

    Sprecher:
    Durch die Erreichbarkeit und die Handelsaktivitäten wurde die Arabische Golfküste, die bis dato nahezu unbehelligt von Feinden war, für andere Völker attraktiv.

    MUSIK

    Sprecherin:
    Im vierten Jahrhundert vor Christus versuchte Alexander der Große, Fuß zu fassen an der Küste, starb allerdings auf dem Weg ins südliche Arabien in Babylon. Einer seiner Feldherren schaffte es bis zum nordwestlichen Ufer des Golfes. Erst Alexanders Nachfolger, die Seleukiden, konnten ihr Reich bis zu den heutigen Arabischen Emiraten ausweiten, wurden aber schon im zweiten Jahrhundert vor der Zeitenwende von den Parthern abgelöst.

    Sprecher:
    Mit den verschiedenen Völkern kamen immer auch unterschiedliche Religionen an die Golfküste. Einige der lokalen Gottheiten waren über die Grenzen bekannt und wurden Jahrhunderte lang verehrt. Etwa die Göttinnen Allat und Aluzza, die von Gläubigen in Mekka genauso angebetet wurden wie im nabatäischen Petra. Es existierten auch jüdische Gemeinden auf der Arabischen Halbinsel und später kamen christliche Gruppierungen dazu:

    O 25 Christen:
    „Man darf nicht vergessen, dass die Arabische Halbinsel vor der Islamisierung sehr stark christianisiert war. Es gab viele christliche arabische Stämme in allen Teilen Arabiens. Es gab auch jüdische Stämme, der Jemen war zwischendurch ein jüdisches Königtum. Und man weiß inzwischen auch, dass es Christen hier an der Küste gegeben hat, gerade vor kurzer Zeit ist eine Kirchenanlage, vielleicht ein Kloster, vielleicht eine Kirche und Kloster gleichzeitig, ausgegraben worden, eine sensationelle Neuentdeckung! 5. bis 7. Jahrhundert. Sehr wahrscheinlich sind das alles nestorianische Christen.“

    ATMO 15 Strandfußball

    Sprecherin:
    An Stränden wie dem in Ras al Khaimah, wo heute Kinder Fußball spielen, landeten um 300 nach Christus persische Streitkräfte und setzten sich für mehrere Jahrhunderte fest:

    O 26 Sassaniden:
    „Die Sassaniden, die letzte große vorislamische Dynastie Persiens, die auch Mesopotamien beherrscht hat, die etwa genauso groß und mächtig gewesen sind wie die Römer. Und die haben vom 4./5. Jahrhundert an auch diese Seite des Golfes dominiert, sind mit ihren Schiffen und Truppen rübergekommen. Wir haben z.B. sassanidenzeitliche Überreste gefunden von einer größeren Gebäudestruktur, die eventuell ein Verwaltungsgebäude dargestellt hat. Denn wir wissen, dass die Sassaniden hier saßen und versucht haben, den Oman zu erobern. Das Ganze ist dann relativ abrupt zu Ende gekommen mit dem Beginn des Islam.“

    MUSIK

    Sprecher:
    Im siebten Jahrhundert schließlich bewegten sich muslimische Truppen von Medina und Mekka aus über die gesamte Arabische Halbinsel. Auch an der Golfküste übernahmen sie die Macht von den Sassaniden – der Beginn einer neuen Zeitrechnung.

    MUSIK hoch und aus

    TC 22:20 - Outro

    15 April 2024, 10:05 am
  • 22 minutes 37 seconds
    ALTES ARABIEN - Als Spanien arabisch war

    Fast 800 Jahre lang herrschten auf der Iberischen Halbinsel arabische Fürsten, Emire, Kalifen. Diese Epoche wird Al Andalus genannt. Al Andalus war eine Glanzzeit für Kultur und Naturwissenschaften. Aber nicht nur das: Christen, Juden und Muslime lebten in dieser Epoche lange meist friedlich mit- und nebeneinander. Aber ab dem 12. Jahrhundert kam es zu immer mehr gewalttätigen Auseinandersetzungen. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2013)

    Credits
    Autor: Bernd-Uwe Gutknecht
    Regie: Martin Trauner
    Es sprachen: Alex Wostry, Friedrich Schloffer, Katja Schild
    Technik: Christiane Gerheuser-Kamp, Michael Zöllner
    Redaktion: Brigitte Reimer
    Im Interview: Isabel Martínez-Richter, Prof. Juan Pedro Monferrer-Sala, Georg Bossong, Antonia Alcántara Luque, Carlos López-Obrero, Manuel Vinuelas, Daniel Grammatico, Sebastián de la Obra

    Eine besondere Link-Empfehlung der Redaktion:

    SWR (2024): Geisterjäger

    Gibt es das Unerklärliche wirklich? Hans Bender ist der größte Geisterjäger der deutschen Geschichte. Mehr als drei Jahrzehnte lang reist der Parapsychologe als Experte für Unerklärliches durch die Republik und untersucht ein merkwürdiges Phänomen nach dem anderen. Bender ist überzeugt: Spuk, PSI-Kräfte, Hellsehen und Telekinese sind echt. Angeblich hat er das sogar bewiesen. Aber kann das wirklich sein? Die Psychologie-Podcasterin Verena Fiebiger geht zusammen mit ihrem Team auf Spurensuche in der Welt des Paranormalen.
    HIER GEHT’S ZUM PODCAST

    Linktipps:

    SWR Kultur (2022): Al-Andalus heute – Spanien muslimisches  Erbe

    Bis 1492 stand Andalusien unter muslimischem Einfluss. Heute vermarktet die Region rund um Granada und Cordoba ihr arabisches Erbe, marokkanische Einwanderer verdienen Geld mit orientalischen Souvenirs und Teestuben für Touristen. Nicht alle finden das gut, manche sprechen von einer schleichenden erneuten Eroberung. Denn heute ist den meisten Spanierinnen und Spaniern die arabische Kultur fremd, die 800 Jahre lang auch ihre war. Immerhin: Die junge Generation hat mit der Rückbesinnung auf die muslimische Vergangenheit begonnen. JETZT ANHÖREN

    Deutschlandfunk (2022): Mit der Aufhebung des „Alhambra-Edikts“ endete offiziell die Verbannung der Juden

    Am 1. April 1992 widerrief der spanische König Juan Carlos das „Edikt von Alhambra“ – mit ihm waren genau 500 Jahre zuvor im Zuge der Reconquista die sephardischen Juden aus Spanien verbannt worden. De facto galt das Edikt zwar schon seit 1869 nicht mehr, aber für die Juden war es eine historische Wiedergutmachung. Zum Beitrag geht es HIER

    Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte

    Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

    DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

    Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

    Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

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    Timecodes (TC) zu dieser Folge:

    TC 00:15 – Intro
    TC 02:00 – Wie eins zum anderen kam
    TC 04:44 – Die Kunst der Sprache
    TC 07:16 – Florierendes Handwerk
    TC 11:47 – Ein tragisches Ende
    TC 15:40 – Die Leidenszeit der jüdischen Gemeinde
    TC 17:28 – Drei Religionen und eine Stadt
    TC 21:41 - Outro

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    TC 00:15 – Intro

    ATMO 1 Glocken

    MUSIK

    Zusp. 1 Moschee-Kathedrale:
    „Es ist, denke ich, eines der faszinierendsten Bauwerke der Geschichte. So was gibt es sonst nirgends. Wir haben diesen neuen Namen Moschee-Kathedrale geprägt, der etwas verwirrend ist. Der Bischof ist damit überhaupt nicht einverstanden. 80 Prozent dieses Gebäudes sehen noch immer aus wie Moschee. 20 Prozent des Gebäudes wurden im frühen 16. Jahrhundert zerstört, um inmitten dieser Gebetshalle der Muslime eine Kirche zu verankern. Das gesamte Gebäude wurde geweiht mit dem Datum der Reconquista schon 1236 und ist entsprechend hochheiliges Gotteshaus.“

    MUSIK  UND ATMO ENDE

    ATMO 2 Kathedrale Gesang

    Erzähler:
    Córdoba: Die Kunsthistorikerin Isabel Martínez-Richter steht in der Mezquita Catedral und blickt hoch zum Gewölbe. Islamische Hufeisenbögen, die auf über 800 Säulen ruhen, unterteilen den riesigen Gebetssaal in 19 Seitenschiffe. Die Moschee-Kathedrale ist einer der größten Sakralbauten weltweit. Wie ein notgelandetes Ufo haben die christlichen Herrscher im 16. Jahrhundert ein Kirchenschiff mitten in die Moschee gepflanzt - Rache der katholischen Könige an den Muslimen, die in den vier Jahrhunderten zuvor Córdoba dominiert hatten. Noch heute ist die Moschee-Kathedrale ein Symbol für das Mit- bzw. Gegeneinander von Muslimen und Christen in Spanien.

    ATMO ENDE

    Erzähler:
    Maurische Einwanderer hatten im Jahr 785 auf dem Fundament einer westgotischen Kapelle ihre Moschee errichtet. Der Bauherr war Abd ar-Rahman I., ein Emir, der für die erste Glanzzeit der Araber in Andalusien steht. Die Moschee von Córdoba wurde rasch zu einer der wichtigsten islamischen Gebetsstätten in der westlichen Welt.

    MUSIK

    TC 02:00 – Wie eins zum anderen kam

    Erzähler:
    74 Jahre zuvor - 711 - war ein Invasionsheer von Arabern und Berbern in der Nähe des heutigen Gibraltar gelandet, angeführt hatte es Tariq ibn Ziyad, im Auftrag des Kalifen von Damaskus. Ohne besondere Mühe besiegte es die Truppen des Westgoten-Königs Roderich. Es folgte ein siebenjähriger Feldzug, an dessen Ende die Iberische Halbinsel fast komplett arabisch besetzt war. Juan Pedro Monferrer-Sala, Professor für Arabistik und Islamwissenschaften an der Universität von Córdoba:

    MUSIK ENDE

    Zusp. 2 Prof. ocupacion:
    VOICEOVER (männlich)
    „Als die islamischen Truppen ankommen, ist die Iberische Halbinsel militärisch ziemlich desorganisiert. Es gibt keine Staatsgewalt. Als die Berber-Soldaten an Land gehen, ist der Weg frei für sie. Sie treffen auf keinerlei Hindernisse. Insofern muss man von einer Besetzung sprechen und nicht von einer militärischen Eroberung.“

    Erzähler:
    Eine wichtige Voraussetzung: Die vielen jüdischen Bewohner waren von den Westgoten schlecht behandelt worden. Für sie konnte die Lage nur besser werden, zumal sie in Bagdad, Damaskus oder Kairo gute Erfahrungen mit den Muslimen gemacht hatten. Also öffneten sie den Mauren Tor und Tür. So begann die fast 800 Jahre dauernde Epoche al-Andalus: 929 ernannte sich Abd ar-Rahman III. zum Kalifen und damit zum direkten Nachfolger des Propheten Mohamed. Aus dem Emirat Córdoba wurde ein Kalifat, das auf einer Stufe mit den Kalifaten in Bagdad und Kairo stand. Córdoba war auf dem Weg, die wichtigste und auch modernste Stadt Europas zu werden.

    MUSIK 3 – Suhail Ensemble

    Erzähler:
    Der orientalische Palast des Kalifen hatte weit angelegte Säulengänge, Innenhöfe, Kuppeldächer, Gartenanlagen. Auf teuren Marmorböden lagen kostbare Seidenteppiche; Diwane und andere Möbel waren aus edelsten Hölzern, man dinierte auf kunstvoller Keramik, trank aus feinem Glas, die Luft war erfüllt von exotischen Düften. Insgesamt lebten 6000 Frauen am Hof: Haremsdamen, Dichtersklavinnen, Tänzerinnen, Köchinnen. Sie waren in eigenen Häusern für Bedienstete untergebracht. Der Hofstaat, also die Fürsten, ihre bis zu vier Ehefrauen, die Kinder, die engsten Vertrauten, Berater und Gäste bewegten sich mit handbetriebenen Aufzügen, damit die feinen Damen und Herren nicht Treppensteigen mussten. In Schreibstuben wurden wissenschaftliche, religiöse und literarische Werke aus diversen Sprachen für die Bibliothek des Kalifen übersetzt und kopiert:

    MUSIK ENDE

    TC 04:44 – Die Kunst der Sprache

    Zusp. 3 Sprache:
    „Dabei muss man sich vor Augen führen, dass das Vordringen des Islam, die Ausbreitung des Islam ganz wesentlich ein Sprachereignis war. Das heißt: Der Koran ist nicht nur etwas, das man mit dem Kopf aufnimmt als Inhalt, sondern eben auch ein gewaltiges Sprach¬kunstwerk von einem überwältigenden Klang und das hat die Menschen überall in Bann gezogen. Insofern kam es in dieser ersten Zeit zu einem Nebeneinander nicht nur der drei Religionen, sondern auch der Sprachen, der jeweiligen Sprachen, und das Arabische spielt dabei eine beherrschende Rolle.“

    Erzähler:
    Der Sprachwissenschaftler Georg Bossong von der Universität Zürich hat mehrere Abhandlungen über al-Andalus veröffentlicht. Besonders fasziniert ist er vom intellektuellen Austausch, der damals stattfand:

    Zusp. 4 Übersetzer:
    „Wir haben ja heute die Tendenz, eine strikte Trennung zwischen Orient und Okzident zu ziehen. Das Mittelmeer als eine Scheidelinie. Das war ja in der Antike überhaupt nicht der Fall. Ägypten gehörte genauso zum Römischen Reich wie Tunesien. Das war das Mare Nostrum auf dem Südufer genauso wie auf dem Nordufer. Und es war eine der vornehmsten Aufgaben der frühen Kalifen, die Quellen der griechischen Weisheit ins Arabische zu übersetzen. Diese Fülle der antiken Wissenschaft und Philosophie ist dann via al-Andalus nach Europa weitergegeben worden.“

    Erzähler:
    Historische Quellen sprechen von 400.000 Büchern in der Bibliothek von Córdoba - es war vermutlich die umfangreichste Sammlung der Zeit. Die Stadt am Guadalquivir war Europas Kultur-Hauptstadt. Sogar bürokratische Mitteilungen oder buchhalterische Aufstellungen aus dem neunten und zehnten Jahrhundert waren hin und wieder in Versform geschrieben. Beamte mussten zum Teil in Reimen Bericht erstatten. Talentierte Poeten wurden mit Minister-Ämtern belohnt. Einer der berühmtesten Hof-Poeten, Ibn al-Chatib, dichtete so blumig, dass er seinen Zuhörern ein Wörterbuch mitbrachte, damit sie ihn verstanden.

    Zusp. 5 Sprachkunst:
    „Man kann sich das eigentlich in unseren Breiten kaum vorstellen, wie sprach-begeistert, ja, ich möchte sagen sprachverrückt die Araber sind oder sein können oder in der Vergangenheit immer waren. Sprachliche Schönheit ist etwas, was die Menschen so verzückt hat, dass es Anekdoten gibt, dass sie vor lauter Begeisterung über diese Schönheit einfach gestorben sind. Sie hat quasi der Schlag getroffen.“

    MUSIK

    TC 07:16 – Florierendes Handwerk

    ATMO 4 Straße

    Erzähler:
    Die Bewohner sprachen Arabisch, Hebräisch, Koptisch, Aramäisch, Persisch, Romanisch-Spanisch, Latein. In einer Zeit, in der London oder Paris noch Dörfer waren, wohnten in Córdoba 200.000 Menschen. Als erste europäische Stadt hatte es gepflasterte Straßen mit Laternen, 300 Moscheen sind bekannt, 50 Krankenhäuser, Hunderte öffentlicher Bäder. Neben Hygiene und Poesie brachten die Araber Vieles auf die Iberische Halbinsel, was den Lebensstil der Einheimischen deutlich verfeinerte: Papier, Seide, Keramik, Schmiede- und Glaskunst sowie eine spezielle Lederwarenherstellung. Der Lederhandwerker Carlos López-Obrero aus Cordoba:

    Zusp. 7 Leder:
    VOICEOVER (männlich)
    „In Córdoba geht die Lederverarbeitung auf die arabische Zeit zurück: Truhen, Koffer, Schatullen, Wandbehänge, alles aus Pferde-Leder. Der Córdoba-Stil ist wegen seiner einzigartigen Gerb-Technik berühmt geworden. Nur hier wurde das Leder mit dem Sumach-Pflanzensaft gegerbt. Das macht das Leder besonders weich. So entstand der Begriff „cordovan-Leder“!“

    MUSIK

    ATMO 8 Alhambra Springbrunnen

    Erzähler:
    Die Mauren brachten ausgeklügelte Bewässerungssysteme ins trockene Andalusien und ließen die Liebe zur Gartenkunst aufblühen. Granada entwickelte sich zu einer Gartenstadt, deren eindringlichster Ort die Alhambra mit ihren weiten Parkanlagen ist. Die Burg erstreckt sich über eine Bergkette, umfasst Dutzende von kunstvoll verzierten Gebäuden. Zur Hochzeit der Sultane von Granada galt die Alhambra als „Irdisches Paradies“. Ein Traum aus 1001 Nacht - aus Marmor, Alabaster, aus Zedern- und Ebenholz, vor der imposanten Kulisse der schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada. Daniel Grammatico schreibt als Architektur-Journalist viel über die Bauwerke aus der al-Andalus-Zeit. Er deutet auf gut erhaltene arabische Schriftzüge an der Wand in einem der Alhambra-Säle:

    MUSIK

    Zusp. 9 Alhambra Sternenhimmel:
    VOICEOVER (männlich)
    „Für mich ist das die luxuriöseste Poesie, die jemals veröffentlicht wurde … (rezitiert auf Arabisch) … das hier bedeutet: Besucher, bewundert diesen Palast, schaut diese Kuppel über euch an, in diesem Thronsaal, der in einem Turm untergebracht ist! Jedes Stück Holz bildet einen Stern und alle zusammen das Firmament. Und wir sind die Töchter, die kleinen Kuppeln!“

    Erzähler:
    Tausende von blauen Mosaiksteinchen und vergoldeten Holzplättchen zierten einst die Decken der Alhambra. Viele sind wunderbar erhalten bzw. restauriert. Ibn Zamrak, ein Hofdichter, schwärmte im 14. Jahrhundert: „Die Sterne selbst sehnen sich danach, in ihr zu verweilen, anstatt am Himmel endlos zu kreisen!“

    MUSIK ZU ENDE
    ATMO 8 Alhambra Springbrunnen

    Zusp. 10 Alhambra naturalezza:
    VOICEOVER (männlich)
    „Diese Architektur manifestiert sich mit drei Stoffen: nicht mit den wertvollen Keramiken, nicht mit dem teuren Marmor, nicht mit den edlen Hölzern, sondern mit: Licht, Wasser und Natürlichkeit. Die Natur und die Natürlichkeit sind existentiell für alle Häuser und die Innenhöfe in al-Andalus. Das Haus verwandelt sich quasi in einen Garten.“

    MUSIK

    Erzähler:
    Lustgärten mit Pavillons, Terrassen mit Blick auf die Stadt und die Berge, Bassins, kleine Kanäle, Springbrunnen umschmeicheln die Alhambra. Das Wasser wird aus den umliegenden Bergen zur Burg und weiter in die Wohnviertel geleitet. Trotz der langen trockenen Sommer blüht es überall:

    MUSIK

    Zusp. 11 Alhambra Wasser:
    VOICEOVER (männlich)
    „Wasser ist Leben, Wasser schläft nie. Die Araber kamen mit hochentwickelter Hydraulik; was sie hier gemacht haben ist eine grüne Revolution. Mit Hilfe von Bewässerungssystemen und Kanälen. Sie nutzten das Wasser für das Hamam, für die Hygiene, aber auch für die berühmten Gärten, die sie hier zu Füßen des Alhambra-Hügels kultiviert haben.“

    TC 11:47 – Ein tragisches Ende

    ATMO 10 Trompeten

    Erzähler:
    Die Alhambra war auch der Ort, an dem die Epoche al-Andalus theatralisch zu Ende ging: Der letzte arabische Herrscher Boabdil musste 1492 mit seinem Tross die Burg verlassen, da christliche Truppen in Überzahl vor den Toren standen. Nachdem Boabdil mit den Seinen die Alhambra verlassen hatte, soll seine Mutter gesagt haben: „Weine nicht wie ein Weib, da du als Mann die Burg nicht verteidigen konntest!“ Boabdils Seufzer auf dem letzten Hügel, von dem aus die Alhambra zu sehen ist, gab dieser Stelle den bis heute gebräuchlichen Namen „El suspiro del moro“, der Seufzer des Mauren.

    MUSIK

    Erzähler:
    Wie war es dazu gekommen? Das Reich der Mauren auf der Iberischen Halbinsel war nie vereint. Es bestand all die Jahrhunderte aus Emiraten, Fürstentümern sowie dem großen Kalifat Córdoba. Waren unfähige arabische Herrscher an der Macht, zerfielen die Reiche. Außerdem versuchten christliche Heere immer wieder, Territorien zurückzugewinnen. Im 11. Jahrhundert war Andalusien in Dutzende Taifas - autonome Fürstentümer - zerstückelt. Womöglich lenkte ihre Prunk- und Genusssucht die muslimischen Herrscher vom Regieren ab.

    MUSIK & ATMO 11 Trommeln

    Erzähler:
    Der katholische König Ferdinand I. entwickelte besonders viel Energie im Kampf gegen die Mauren: 1064 eroberte er mit Unterstützung der päpstlichen Heere die symbolträchtige Festung Barbastro zurück. Tausende arabische Soldaten wurden getötet, 1500 junge Frauen versklavt.

    Erzähler:
    Mittelalter bedeutete für al-Andalus: Raubzüge, Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Entführungen. Soldaten wurden zu Legenden, wie der „Cid“, eigentlich Rodrigo Diaz de Vivar, berühmtester Ritter und erfolgreichster Feldheer der Epoche. Immer wieder wechselte er die Seiten, verdingte sich als Söldner mal für christliche Könige, mal für muslimische Fürsten:

    MUSIK & ATMO 11 Trommeln

    Zusp. 12 Prof. cid:
    VOICEOVER (männlich)
    „This is business würde man heute sagen: Der Cid muss wirtschaftlich überleben, er muss sein Geschäft vorantreiben. Er wird immer wieder an und über die Grenzen seines Landes gedrängt, was typisch ist für diese Zeit: Die Menschen wechseln ihre Kultur, ihre Zugehörigkeit, je nachdem, wo sie gerade am besten ihr Auskommen finden. So war auch der Cid mal auf der einen, mal auf der anderen Seite.“

    Erzähler:
    Christliche Heere aus den nördlichen Provinzen Galizien, Asturien und Kantabrien, aus dem Baskenland und aus Portugal rückten im 11. Jahrhundert nach Süden vor. Die muslimischen Taifa-Könige, wie der Dichterkönig Al Mutamid von Sevilla, konnten ihre Provinzreiche nicht alleine verteidigen und riefen strenggläubige Berber-Krieger aus Nordafrika zu Hilfe: die berüchtigten Almoraviden, denen später die ebenso orthodoxen Almohaden folgten. Diese Kriegermönche besiegten die katholischen Armeen, wandten sich aber danach gegen die maurischen Klein-Könige selbst, deren dekadenten Lebensstil sie verabscheuten. Der Sprachwissenschaftler Georg Bossong von der Universität Zürich:

    Zusp. 13 Lotterleben:
    „Es ist allerdings so, dass dieses „Lotterleben“ in al-Andalus, dieses schöne Leben ein jähes Ende fand, als Ende des elften Jahrhunderts auf der einen Seite die Christen Toledo erobert haben, denn die hatten für dieses Lotterleben im Süden auch nichts übrig, und auf der anderen Seite dann eben die Taifa-Könige, diese kleinen Königreiche, die kampferprobten und rauen Krieger aus Afrika, die Almoraviden, um Hilfe gebeten haben. Und diese Almoraviden, die kamen dann, aber die Geister, die man rief, wurde man dann nicht mehr los.“

    TC 15:40 – Die Leidenszeit der jüdischen Gemeinde

    Erzähler:
    Die Dekadenz hatte ein Ende, der Glanz an den Höfen, aber auch die Toleranz zwischen den unterschiedlichen Konfessionen. 1128 erließen die Almoraviden eine Fatwa: Die Juden wurden ausgewiesen! Es begann die lange Leidenszeit der großen jüdischen Gemeinde in Andalusien. Sebastián de la Obra ist der Direktor des Sephardischen Hauses, eines jüdischen Museums in Córdoba:

    Zusp. 14 persecuciones:
    VOICEOVER (männlich)
    „Judenverfolgungen gab es in der Römischen Zeit, unter den Westgoten, während der Herrschaft der Almoraviden und Almohaden, aber vor allem mit dem Beginn der spanischen Inquisition. Dieser spezielle spanische Anti-Judaismus dauert bis zum 19. Jahrhundert und wird dann zu einem Teil des europäischen Antisemitismus.“

    Erzähler:
    Synagogen wurden zerstört, Tribunale eingerichtet, Scheiterhaufen angezündet. Hunderttausende flohen. Von denen, die blieben, wurden viele ermordet. Für die grausame Inquisition entschuldigte sich erst Papst Johannes Paul II. 500 Jahre später in seiner Ansprache „Mea culpa“:

    Zusp. 15 judio memoria:
    VOICEOVER (männlich)
    „Das christliche Erbe in Südspanien ist immens. Das maurische Erbe ist wunderschön und einzigartig. Das jüdische Erbe dagegen ist unsichtbar. Das Erbe der jüdischen Diaspora steckt in den Köpfen der Menschen, in ihrer kulturellen Entwicklung. Wenn die Leute fragen: Was ist denn von den Juden noch zu sehen, muss man antworten: Die Kultur der Juden findet sich nicht in Bauwerken und Steinen, sondern in Erinnerungen.“

    MUSIK

    TC 17:28 – Drei Religionen und eine Stadt

    Erzähler:
    Ab dem 13. Jahrhundert ging al-Andalus seinem Ende entgegen. Den Berberkriegern fehlten das bürokratische und das diplomatische Geschick, um ein europäisches Reich zu beherrschen, aber auch die Unterstützung im Volk. Die christlichen Heere rückten immer weiter vor, gewannen eine Schlacht nach der anderen. Am 2. Januar 1492 wurde auf der Alhambra der Halbmond durch ein großes silbernes Kreuz ersetzt. Die letzte arabische Bastion auf spanischem Boden war gefallen. Die Eroberer, die so genannten „Katholischen Könige“, ließen sich als Befreier Europas feiern:

    Zusp. 16 Granada capilla terminar:
    VOICEOVER (männlich)
    „Das war eine dynastische Hochzeit zwischen Isabella, der Königin von Kastilien, die sie auch Isabella die Katholische nannten, und Ferdinand, dem König von Aragon. Sie vereinten ihre Kräfte und beschlossen, die Präsenz der Muslime hier zu beenden. Sie besiegelten das Ende der knapp 800 Jahre al-Andalus in Granada.
    Wir sind jetzt in der Königlichen Kapelle, wo die „Reyes católicos“ beerdigt sind. Zehn Jahre lang dauerte ihr Kampf, oder besser ihr Kreuzzug gegen die Araber. Granada war die letzte muslimische Bastion. Der letzte arabische Herrscher, der berühmte Boabdil, wurde aus der Stadt vertrieben und übergab symbolisch beim Hinausreiten aus dem Haupttor den Schlüssel zur Stadt.“

    Erzähler:
    1492 ist auch das Jahr, in dem der genueser Seemann in spanischen Diensten Christoph Kolumbus nach Amerika segelte. Spanien war auf dem Weg zur Weltmacht. Über die „reconquista“, die Rückeroberung durch die Christen, streiten spanische Historiker noch heute:

    Zusp. 17 Identität: (Bossong)
    „Es gab und es gibt in Spanien eine Auseinandersetzung über die historische Bedeutung dieser muslimischen Geschichts-Epoche. Es gibt auf der einen Seite ein Lager von Konservativen, die der Auffassung sind, das war ein fremdes Element, das von außen gekommen ist und das nie in Spanien heimisch wurde; und die eigentliche Essenz des Spaniertums ist römisch, katholisch, christlich. Auf der anderen Seite gibt es Historiker, die der Auffassung sind, dass das semitische Element, und zwar sowohl das arabischsprachige als auch das hebräischsprachige jüdische Element, zum spanischen Nationalcharakter unauflöslich dazugehören.“

    Erzähler:
    Nirgendwo sonst lebten Muslime, Christen und Juden so eng zusammen, hatten so intensive Beziehungen. Nicht ohne Probleme, nicht ohne Gewalt, dennoch einigermaßen gleichberechtigt. Das lange Zeit friedliche Zusammenleben, die „convivencia“ war keine Utopie, sondern vorübergehende Realität.

    Zusp. 18 Prof. tolerancia:
    VOICEOVER (männlich)
    „Sie leben gemeinsam, aber jeder in seinem Viertel. Wir wissen von jüdischen, christlichen und muslimischen Stadtteilen. Kontakte bestehen durchaus: auf dem Markt oder auf dem Stadtplatz. Man trifft sich, aber bei der Religionsausübung bleibt man unter sich, die Andersgläubigen müssen draußen bleiben! Toleranz ist deshalb der falsche Ausdruck, denn Toleranz bedeutet auch religiöse Freiheit und die existiert hier erst im 19. Jahrhundert.“

    MUSIK

    Erzähler:
    Auch wenn al-Andalus kein Paradies auf Erden war, die Epoche brachte weitreichende Veränderungen in Politik, Kultur, Wissenschaft und Religion mit sich. Für viele Historiker wie Professor Bossong bleibt die maurische Ära im westlichen Europa ein Vorbild:

    Zusp. 19 Konflikt:
    „Natürlich bin ich auch fasziniert von der aufscheinenden Möglichkeit, der aufscheinenden Chance eines friedlichen Zusammenlebens der drei monotheistischen Religionen, die sich leider meistens unversöhnlich gegenüberstehen. Das Zusammenleben von Muslimen und Juden kann Wunder hervorbringen, ihre Konfrontation führt zu den Konflikten, die wir alle kennen!“

    MUSIK ENDE

    TC 21:41 - Outro

    15 April 2024, 10:00 am
  • 23 minutes 30 seconds
    ARKTIS - Der Polarforscher Fridtjof Nansen

    Er ist einer der großen Polarforscher, doch das wird dem Leben von Fridtjof Nansen nicht einmal ansatzweise gerecht: Ende des 19. Jahrhunderts durchquert der Norweger als Erster das eisige Innere Grönlands, bald darauf gelingt ihm eine Expedition fast bis zum Nordpol. Später, während des ersten Weltkriegs, organisiert er umfangreiche Hilfen gegen die Hunger- und Flüchtlingskatastrophen. 1922 hilft er staatenlosen Flüchtlingen mit dem von ihm erdachten ?Nansen-Pass?. Von Sebastian Kirschner (BR 2020)

    Credits
    Autor: Sebastian Kirschner
    Regie: Eva Demmelhuber
    Es sprachen: Rahel Comtesse, Réne Dumont, Carsten Fabian, Christian Schuler
    Technik: Chris Schimmöller
    Redaktion: Nicole Ruchlak
    Im Interview: Carl Emil Vogt, Geir Klover

    Linktipps:

    Das Kalenderblatt  (2019): 05.07.1922 – Der „Nansen-Pass“ wird eingeführt

    Staatenlos, nirgendwo hingehören und auch nirgendwo bleiben können - für Flüchtlinge zu allen Zeiten ein Problem. Fridtjof Nansen löst es, indem er einen ganz besonderen Pass einführt. ZUM PODCAST

    Radiowissen (2022): Von Amundsen bis Hapag-Lloyd – Geschichte der Antarktis-Eroberung

    Die ersten Entdecker der Antarktis waren waghalsige Abenteurer, unter widrigsten Bedingungen und ohne aufwändige technische Hilfsmittel kämpften sie sich durch das unendliche Eis: Roald Amundsen, Robert Scott, Ernest Shakleton. Auf den frühen Expedition verloren viele ihr Leben, nur wenige konnten den Ruhm als Held und Entdecker tatsächlich genießen. Heute ist die Antarktis immer noch ein wüster Ort - aber längst kein leerer mehr. (BR 2011). JETZT ANHÖREN


    Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

    Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

    DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

    Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

    Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

    Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
    ARD Audiothek | Alles Geschichte
    JETZT ENTDECKEN

    Timecodes (TC) zu dieser Folge:

    TC 00:15 – Intro
    TC 01:54 – Ein Mann, der auffällt
    TC 06:24 – 49 Tage Wanderung
    TC 08:00 – Mindestens eine Portion Eitelkeit
    TC 11:15 – Auf ins nächste Abenteuer
    TC 15:24 – Die zweite Karriere als Diplomat
    TC 19:30 – Zwischen Mentor und Rivale
    TC 22:53 – Outro

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    TC 00:15 – Intro

    SPRECHER/IN
    Als Fridtjof Nansen 1887 seine Pläne vorstellt, halten seine Kollegen ihn für verrückt. Die Idee des Norwegers klingt aberwitzig: Im Sommer des nächsten Jahres will er das eisige Grönland durchqueren. Niemand hat bisher diesen Weg geschafft. Keiner weiß, was die Insel im Inneren birgt – einer der letzten weißen Flecken der Landkarte.  Ein solches Risiko, nur um zu beweisen, dass Grönland
    mit Eis bedeckt ist?

    ZITATOR 2
    „Sollte Nansens Plan in der gegenwärtigen Form in die Tat umgesetzt werden, […] stehen die Chancen zehn zu eins, dass er […] sein Leben und möglicherweise das anderer völlig sinnlos wegwirft“.

    SPRECHER/IN
    … urteilt damals die dänische Zeitschrift „Ny Jord“ über die Idee des Wissenschaftlers. Und das nicht ohne Grund, sagt Geir Klover [sprich Gaïr Klöwer]. Er ist Direktor des Nansen-Museums schlechthin: dem Fram Museum in Oslo, benannt nach dem späteren Forschungsschiff Nansens.

    01_ZUSPIEL Geir Klover
    There's quite a few that have attempted to cross Greenland before Nansen. And all of them had tried from the inhabitant West Coasts. And probably Greenland was steeper and colder and more difficult than they thought. So there it was quite easy for them to turn back. So Nansen thought his idea to cross Greenland was to go to the east coast to Greenland where there was no population and his ship left. And the only way to survive is to cross over to the west side.

    01_ Voice-Over
    Etliche hatten vor Nansen versucht, Grönland zu durchqueren. Sie alle waren von der bewohnten Westküste aus gestartet. Wahrscheinlich aber war Grönland steiler, kälter und unwirtlicher als erwartet. Mit den Siedlungen im Rücken konnten sie aber recht einfach umkehren. Nansens hatte die Idee, von der Ostküste Grönlands aus zu starten, wo es keine Bevölkerung gibt. Und der einzige Weg zu überleben ist der durchs Landesinnere zur Westseite.

    TC 01:54 – Ein Mann, der auffällt

    SPRECHER/IN
    Fridtjof Nansen ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Der junge Mann fällt auf, wenn er durch die Straßen geht. Er trägt sogenannte Dr. Jäger-Gesundheitswäsche: eine Art frühe Funktionskleidung, schlicht, leicht, bestehend aus festen Wollhosen mit einer kurzen Jacke, zugeknöpft auf der rechten Körperhälfte. Und: Anders als die meisten Männer der Zeit ist er nahezu glatt rasiert und ohne Kopfbedeckung unterwegs. Noch als Student der Zoologie heuert er für ein fünfmonatiges Praktikum auf einem Robbenfänger an, um seine Abenteuerlust gegenüber den Eltern zu legitimieren – und findet so seine Bestimmung:

    ZITATOR 1
    Das Eismeer ist etwas für sich, nichts anderem vergleichbar und vor allem nicht dem, was man sich gern darunter vorstellt. Flaches, treibendes Eis in wogenden Schollen, bald grünlichblaue See, dann Nebel und Sonnenschein, Sturm und Stille. Das ist es, was ich fand.

    SPRECHER/IN
    … schreibt Nansen damals in sein Tagebuch. Als ihn der Drang zur Polarforschung packt, ist Nansen gerade dabei, sich erste wissenschaftliche Lorbeeren zu verdienen. Mit einer Doktorarbeit über das Zentralnervensystem wirbelloser Meerestiere wird er sich einen Namen machen – als Pionier in der noch jungen Disziplin der Neurologie. Nansens Abschlussprüfung für seine Dissertation liegt erst vier Tage zurück, als er am 2. Mai 1888 nach Grönland aufbricht. Und er konnte nur vermuten, was ihn und seine Mannschaft in den kommenden Monaten erwartet, sagt Geir Klover:

    02_ZUSPIEL Geir Klover
    There was no previous experience really in Norway for doing that type of expedition. So you had to use common sense. They barely made it you know almost starving.

    02_ Voice-Over
    In Norwegen gab es bis dahin keine wirklichen Erfahrungen mit derartigen Expeditionen. Man war auf gesunden Menschenverstand angewiesen. Beinahe verhungert haben sie es gerade so geschafft.

    SPRECHER/IN
    Dabei hat Nansen sich intensiv vorbereitet. In Expeditionsberichten hatte Nansen von den Strapazen seiner Vorgänger gelesen, Bilder gesehen, auf denen sich feine Herren mit Melonen auf dem Kopf und Gamaschen an den Füßen durch den Tiefschnee mühen. Der junge Forscher will planvoller vorgehen. Seine Mannschaft ist klein, aber wohl ausgesucht: ein Spezialistenteam von nur fünf Mann. Ein jeder zäh, ausdauernd und verlässlich. Nansen verwendet für seine Expedition eigens entworfenes Material, hat etwa spezielle Schlitten bauen lassen.

    MUSIK

    SPRECHER/IN
    Fast scheint es, als hätten schon seine Kindheit und Jugend Nansen auf diese Reise vorbereitet. Ihn prägt die ländliche Idylle seines Elternhauses nahe Kristiania. Der Sohn einer bürgerlichen Oberschichtfamilie liebt es zu fischen, zu jagen und tagelang durch die ausgedehnten Wälder zu streifen. Seine Mutter, eine geborene Baronesse Wedel-Jarlsberg, begeisterte den Jungen früh für Sport und die Natur, sagt der norwegische Historiker und Nansen-Biograf Carl Emil Vogt:

    03_ZUSPIEL C.E. Vogt
    She loved nature, skiing etc. So I think that he had his very strong and independent character from his mother actually and his mother's family because his father was more of a pedantic correct Protestant, civil servant and lawyer. So I think the combination of the very protestantic ethos of the duty to do what you have to do etc. and the extremely independent and artistic and nature loving sentiments from his mother, I think that combination of them is very important actually.

    03_ Voice-Over
    Sie liebte die Natur, das Skifahren usw. Ich denke, dass er seinen starken und unabhängigen Charakter von seiner Mutter und ihrer Familie hatte. Sein Vater war mehr ein pedantischer, korrekter Protestant, Beamter und Anwalt. Also einerseits das sehr protestantische Pflichtbewusstsein, das zu tun, was zu tun ist, und andererseits die äußerst unabhängigen, künstlerischen und naturverbundenen Gefühle seiner Mutter: Ich glaube, dass diese Kombination sehr wichtig war.

    SPRECHER/IN
    Eigenschaften, auf die es in der Eiswüste Grönlands ankommt. Nansen will sein Ziel unbedingt erreichen, sein Motto lautet: die Westküste oder der Tod. Nach einer abenteuerlichen Odyssee auf Eisschollen entlang der Küste beginnt der Aufstieg über das bis zu 3200 Meter hohe Inlandeis. Auf dem Plateau reist die Expedition nachts. Dann ist es kälter, die Skier und Schlitten gleiten besser.
    Geschlafen wird tagsüber – jeweils zu dritt in einem Schlafsack. Das spart Gepäck. Am 8. September 1888 notiert Nansen in sein Tagebuch:

    ATMO Windgeheul

    TC 06:24 – 49 Tage Wanderung

    ZITATOR 1
    Der Weg ist unglaublich beschwerlich, schlimmer denn je, obwohl er hart ist; dieser Schnee ist widerspenstig wie Sand. Wir arbeiten gegen den Wind und Schneetreiben an. – Und weiter am 9. September: Es wurde im Laufe des Tages schlimmer mit dem Schneefall, und der Weg wurde schlechter und schlechter 

    SPRECHER/IN
    Hunger und entsetzlicher Durst plagen die Männer. Erst am 26. September erreichen sie die Westküste. 49 Tage Wanderung, 560 Kilometer und harte Entbehrungen liegen hinter ihnen. Zum ersten Mal ist der grönländische Eispanzer in Ost-West-Richtung bezwungen. Doch zurück nach Europa kommen sie vorerst nicht: Wegen des nahenden Winters fährt von Godthåb kein Schiff mehr ab. Einen Eilboten der Inuit kann Nansen noch beauftragen, mit dem Kajak 300 Kilometer nach Süden zu fahren, um dem letzten Transportschiff in Ivigtût ihre Erfolgsnachricht mitzugeben. Bis zum nächsten Frühjahr müssen sie bei den Inuit überwintern – aus Sicht von Geir Klover der eigentliche Erfolg der Expedition:

    04_ZUSPIEL Geir Klover
    I think changed his mentality and also became more prepared for a future in exploring Polar Regions. It was the starkest initiation as a polar explorer.

    04_ Voice-Over
    Ich glaube, das hat in gewisser Weise seine Mentalität verändert, es hat ihn auf eine Zukunft in der Polarforschung vorbereitet. Das hat ihn auf seinem Weg zum Polarforscher wohl am stärksten geprägt.

    TC 08:00 – Mindestens eine Portion Eitelkeit

    SPRECHER/IN
    Die Nachricht von der Grönland-Querung läuft in der Zwischenzeit in großen Schlagzeilen um die Welt. Bei Nansens Rückkehr am 30. Mai 1889 empfängt ihn in Kristiania die jubelnde Menge. Tausende wollen Norwegens neuen Helden sehen. Dabei ist Fridtjof Nansen nicht nur der Held und soziale Mensch, als den ihn die meisten seiner Zeitgenossen und seine Nachwelt später gern stilisieren. In seinem Buch „Auf Schneeschuhen durch Grönland“, 2016 in der Edition Erdmann wieder aufgelegt, notiert er, was einer seiner Begleiter ihm vorwirft:

    ATMO Windgeheul unterlegen

    ZITATOR 1
    Hungern müssten sie und würden obendrein wie die Hunde behandelt, es werde mit ihnen herumkommandiert, sie müssten den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend arbeiten, schlimmer als Tiere - nein, das wäre nicht zum Aushalten.

    SPRECHER/IN
    Seine Mannschaft betrachtet ihn als selbstsüchtig, arrogant und launisch. Für Geir Klover nicht ohne Grund:

    05_ZUSPIEL Geir Klover
    Its priority was more of the science and survival. Nansen didn’t care very much with his men. Every time he was always right. Whatever debate, whatever dialogue – he was always right. And basically I think he felt superior to them. So he did not accept anyone else's input than his himself.

    05_ Voice-Over
    Vorrang hatten für ihn die Wissenschaft und das Überleben. Nansen interessierte sich kaum für seine Männer. Er hatte immer Recht. Egal welche Debatte, welches Gespräch – er hatte Recht. Grundsätzlich fühlte Nansen sich ihnen überlegen. Er akzeptierte keine andere Meinung als die eigene.

    SPRECHER/IN
    Eine Portion Eitelkeit gehörte zu Nansens Persönlichkeit, notiert auch seine Tochter Liv in ihren Erinnerungen. Angesichts der späteren Erfolge und des Jubels, der Nansen zurück in Norwegen überall entgegenschallte, muss es für ihn auch schwer gewesen sein, nicht an den eigenen Mythos zu glauben. Denn aus Sicht von Geir Klover war Nansen geradeheraus, ein Typ, der sich nur schwer verstellen konnte:

    06_ZUSPIEL Geir Klover
    Those people have difficulty relating to the feet, to spend a year and a half away, surviving a winter, eating polar bears and shooting Walrus. And then coming back to safety, it was quite unheard of at that time. He was very elegant.

    06_ Voice-Over
    Solche Menschen tun sich schwer, auf dem Boden zu bleiben: anderthalb Jahre weg zu sein, einen Winter zu überleben, indem man Eisbären isst und Walrosse jagt. Und wieder sicher zurückzukehren – das war etwas nicht Dagewesenes.

    SPRECHER/IN
    Hochgewachsen, blond, gutaussehend, ein exzellenter Skifahrer und Redner. Mit seinen blauen Augen scheint Nansen immerzu in die unbekannte Ferne zu blicken – und dort zieht es ihn schon bald wieder hin. Knapp drei Monate nach seiner Rückkehr von Grönland heiratet der 27-Jährige die vier Jahre ältere Sängerin Eva Sars. Er nennt sie liebevoll »die beste weibliche Skifahrerin Norwegens«. Ausgerechnet Nansen, der sich lange als entschiedener Gegner der Ehe gezeigt hatte. Er liebt seine Frau, er baut ein Haus, hat fünf Kinder mit ihr – aber eigentlich ist er unfähig zu einem Zusammenleben. Der Polarforscher erweist sich als tyrannischer, launischer Ehemann und Vater – der erstmal nicht für die Familie, sondern seine Arbeit lebt.

    AKZENT

    TC 11:15 – Auf ins nächste Abenteuer

    SPRECHER/IN
    In Nansen reift bereits der Plan zu einer nächsten Expedition. Der Forscher ist sicher, den bis dahin unentdeckten Nordpol erreichen zu können – mithilfe der Eisdecke, die seiner Ansicht nach mit der Strömung nach Norden driftet. Dazu lässt Nansen eigens ein Schiff konstruieren, das dem Druck der Eismassen standhalten soll: die „Fram“. Mit ihr lässt Nansen sich und seine Mannschaft im Herbst 1893 im arktischen Packeis einfrieren.

    ATMO leichtes Windgeheul unterlegen

    ZITATOR 1
    Montag, 9. Oktober. Nachmittags – wir saßen gerade müßig und plauderten – entstand ganz plötzlich ein betäubendes Getöse und das ganze Schiff erzitterte: Es war die erste Eispressung. Alle Mann stürzten an Deck, um zuzusehen. Die »Fram« verhielt sich wundervoll, wie ich es von ihr erwartet hatte. Mit stetigem Druck schob sich das Eis heran, musste jedoch unter uns durchgehen und wir wurden langsam in die Höhe gehoben. Diese Pressungen wiederholten sich den ganzen Nachmittag und waren manchmal so stark, dass die »Fram« mehrere Fuß gehoben wurde; aber dann konnte das Eis sie nicht länger tragen und brach unter ihr entzwei. Es scheint hier ziemlich viel Bewegung im Eise zu sein.

    SPRECHER/IN
    … schreibt Nansen darüber in seinem Buch „In Nacht und Eis“. Das Schiff driftet und wird von den Eismassen nicht zerquetscht. Trotzdem verläuft die Mission anders als geplant. Nach zwei Wintern im Eis zeichnet sich ab, die Fram würde den Pol verpassen. Nansen fasst einen waghalsigen Entschluss:

    ATMO leichtes Windgeheul unterlegen

    ZITATOR 1
    Noch immer muss ich warten und die Drift beobachten; aber wenn sie die verkehrte Richtung einschlagen sollte, dann werde ich alle Brücken hinter mir abbrechen und alles auf einem Marsch nach Norden über das Eis wagen.

    Ich weiß nichts Besseres zu tun. Es wird gefährlich sein, eine Frage um Leben oder Tod; aber habe ich eine andere Wahl?

    SPRECHER/IN
    Mit Hjalmar Johansen, einem seiner Begleiter, verlässt Nansen im März 1895 die Fram. Auf Skiern und Hundeschlitten machen sie sich auf den Weg, den Pol zu erreichen. Zum Schiff werden die beiden nie zurückfinden. Doch auch sein Ziel, den Nordpol, muss Nansen knapp über dem 86. Breitengrad aufgeben. Zu beschwerlich ist der Weg:

    ATMO Windgeheul unterlegen

    ZITATOR 1
    Wir wissen weder, wo wir sind, noch wissen wir, wie das enden soll. Inzwischen schwinden unsere Vorräte und mit ihnen unsere Hunde. Werden wir Land erreichen, solange wir noch zu essen haben – ja, werden wir es überhaupt erreichen? Bald wird es unmöglich, gegen dieses Eis und den Schnee noch weiter anzukämpfen.

    SPRECHER/IN
    Dennoch schafft der Norweger wieder das damals nahezu Unmögliche: Nansen und seine gesamte 12-köpfige Mannschaft kehren nach drei Jahren unversehrt zurück. Nansen und Johansen hatten sich zu Fuß und in Kajaks bis in den Süden von Franz-Joseph-Land durchgeschlagen. Mit einem Versorgungsschiff gelangten sie schließlich zurück Richtung Norwegen. Die Fram hatte derweil die Eisdrift fortgesetzt und nordwestlich von Spitzbergen wieder offenes Wasser erreicht. Im August 1896 kommt es im norwegischen Tromsø zum großen Wiedersehen. Auch wenn Nansen den Nordpol nicht erreicht, so beweist er seine Theorie zur Meeresströmung und kommt dem Pol so nahe wie niemand zuvor. Nansen ist zu diesem Zeitpunkt erst 35. Seine Erfolge machen ihn zu einem der angesehensten Männer des Landes. Gleichzeitig drängen sie den Forscher immer mehr in politische Ämter – auch weil er offensiv für die Unabhängigkeit Norwegens eintritt, sagt Carl Vogt:

    TC 15:24 – Die zweite Karriere als Diplomat

    08_ZUSPIEL C.E. Vogt
    Norway was in a union with Sweden. It was a loose and liberal union. We had only the king, the foreign policy in common but it became more and more clear during the century that Norway wanted its full independence. So these nationalist sentiments were stronger and stronger and Nansen became one of the most important national heroes in Norway. So I guess that was why Norwegian governments started to use him as some kind of an informal foreign minister so to speak.

    08_ Voice-Over
    Norwegen existierte in einer Union mit Schweden. Zwar einer lockeren, liberalen Union – wir hatten nur den König, die Außenpolitik gemeinsam. Aber im Laufe des Jahrhunderts wurde immer deutlicher, dass Norwegen seine volle Unabhängigkeit wünschte. Diese nationalistische Empfindung wurde immer stärker, gleichzeitig wurde Nansen einer der wichtigsten Helden des Landes. Wohl deshalb hat die norwegische Regierung ihn sozusagen als informellen Außenminister eingesetzt.

    SPRECHER/IN
    Als solcher handelt Nansen ab 1906 in London die Souveränität seines Landes mit aus. Doch die große Wende in seinem Leben stand Fridtjof Nansen noch bevor: Im Jahr 1907 stirbt seine Frau Eva infolge einer schweren Lungenentzündung. Sechs Jahre später stirbt nach langer Krankheit auch sein jüngster Sohn Asmund. Für Carl Vogt ein Auslöser für Nansens nun folgenden radikalen Karrierewechsel:

    09_ZUSPIEL C.E. Vogt
    He had lost a son in 1913 so this was some kind of a personal crisis for him. Then came the war and he really had become too old to do this Arctic or polar explorations anymore.

    09_ Voice-Over
    Er hatte 1913 einen Sohn verloren. Das war für Nansen eine Art persönliche Krise. Dann kam der Krieg und er war einfach zu alt geworden für Polarexpeditionen.

    SPRECHER/IN
    Die Schrecken des Ersten Weltkriegs und eine drohende Hungersnot in Schweden veranlassen Nansen, sich für einen Platz Norwegens im neu geschaffenen Völkerbund einzusetzen. Dieser beauftragt Nansen im Frühjahr 1920, sich um den Austausch hunderttausender Kriegsgefangener zu kümmern. Auch wenn die Ausgangslage dafür denkbar schlecht war: Bis 1922 können etwa eine halbe Million Kriegsgefangene aus rund 30 Nationen dank Nansen nach Hause zurückkehren. Auch aufgrund eines speziellen, von Nansen erdachten Dokuments, dem später so genannten „Nansen-Pass“. Denn was vielen Flüchtlingen fehlt, ist eine Staatszugehörigkeit. Und das bringt massive Probleme mit sich:

    11_ZUSPIEL C.E. Vogt
    You do not have citizens’ rights. That's the most basic. But you also have a lot of problems in your daily life. Without paper it is very hard to get a place to live. It is impossible to marry, to baptize your children for instance. And often impossible to have a work and pay taxes. You have a lot of bureaucratic problems in your life. So this is the reason why it became necessary to help these people have a legal status.

    11_ Voice-Over
    Sie haben keinerlei Bürgerrechte. Das ist das Grundlegendste. Aber sie haben auch viele Probleme im Alltag. Ohne Papiere ist es sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Sie können nicht heiraten oder ihre Kinder taufen. Und oft ist es unmöglich, normal zu arbeiten und Steuern zu zahlen. Sie haben viele bürokratische Probleme. Deshalb war es notwendig, diesen Menschen zu einem legalen Status zu verhelfen.

    SPRECHER/IN
    … sagt Historiker Carl Vogt. Fridtjof Nansen hat seine erste Aufgabe für den Völkerbund kaum angetreten, als man ihn bittet, zusätzlich eine Hilfsaktion für Russland zu leiten. Krieg, Revolution, Bürgerkrieg und zuletzt anhaltende Trockenheit haben das Land ausgedörrt. Knapp 30 Millionen Menschen droht der Hungertod. Doch politisch traut der Sowjetregierung niemand, wieder steht Nansen, als Hoher Kommissar für Flüchtlingsfragen, am Rednerpult des Völkerbunds:

    ZITATOR 1
    Die Nahrungsmittel liegen in Amerika, aber niemand findet sich, sie zu holen. Kann denn Europa ruhig dasitzen und nichts dafür tun, diese Nahrungsmittel herüberzubringen und die Völker auf der anderen Seite zu retten?

    SPRECHER/IN
    Aber der Völkerbund verweigert seine Hilfe, politische Interessen überwiegen. Für Nansen eine schwere Niederlage. Trotzdem kann er private Spender und einen Kredit Norwegens organisieren, um den Hungernden zu helfen. Nicht zuletzt für diesen Einsatz erhält Nansen 1922 den Friedensnobelpreis. Seinem Einsatz für Flüchtlinge bleibt Nansen weiter treu: Nach Ende des griechisch-türkischen Kriegs 1922 setzt er sich für griechische Flüchtlinge ein. Ab 1925 bemüht er sich darum, die in der Türkei verfolgten Armenier in der Sowjetunion anzusiedeln.

    TC 19:30 – Zwischen Mentor und Rivale

    Zu den ihm nachfolgenden Polarforschern – Robert Falcon Scott, Roald Amundsen, Ernest Shackleton – hat Nansen bis zuletzt ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits ist er ihr Mentor, sie alle suchen seinen Rat. Andererseits bleibt Nansen immer ihr Rivale. Er hatte selbst Überlegungen für eine Südpolexpedition angestellt. Und doch überlässt Nansen seinem Landsmann Amundsen für eine Polarexpedition „seine“ Fram. Als Amundsen bei einer Rettungsmission 1928 in der Arktis umkommt, ist Nansen tief betroffen. Die folgenden Zeilen einer Rede in Erinnerung an Amundsen sind Teil der wohl einzigen Originaltonaufnahme, die sich von Fridtjof Nansen erhalten hat. Diese Zeilen könnten auch auf Nansen passen:

    12_ZUSPIEL Nansen
    Aus der großen, weiten Stille wird aber sein Name im Glanz des Nordlichts durch die Jahrhunderte für die Jugend Norwegens leuchten. Es sind Männer mit Mut, mit Willen, mit Kraft wie seiner, die uns mit Glauben an das Geschlecht und mit Zuversicht in die Zukunft erfüllen. Die Welt ist noch jung, die solche Söhne erzieht.

    SPRECHER/IN
    In seinen Gedanken an Roald Amundsen verneigt sich Nansen vor dessen Leistungen. Für Historiker Carl Vogt liegen die wahren Leistungen bei Fridtjof Nansen selbst:

    13_ZUSPIEL C.E. Vogt
    His most dangerous expedition was not the one to the North Pole. Of course he could have died there as well. But in 1921 he really went to the famine areas in Russia in the Volga valley and at least one or two of his travel companions died from typhoid fever they had caught on the train with Nansen. So he could easily have died from his engagement actually. So I mean it was really heroic.

    13_ Voice-Over
    Seine gefährlichste Expedition war nicht die zum Nordpol. Natürlich hätte er dort auch sterben können. Aber 1921 ging Nansen wirklich in die Hungerregionen in Russland im Wolgatal. Und mindestens ein oder zwei seiner Reisebegleiter starben an Typhus, den sie sich während der Zugfahrt mit Nansen geholt hatten.
    Er hätte also leicht durch sein Engagement sterben können. Das war wirklich heldenhaft.

    SPRECHER/IN
    Am 13. Mai 1930 weilt Nansen auf dem Balkon seines Hauses in Lysaker. Im Liegestuhl genießt er den Frühling und den Besuch seiner Familie; mit einem Stapel Arbeit vor sich erholt Nansen sich gerade von einer langwierigen Venenentzündung. Seine Schwiegertochter Kari will ihm einen Tee bringen, als Nansen einem Herzinfarkt erliegt. Als Fridtjof Nansen mit 68 Jahren stirbt, hat er sie allesamt überlebt: Scott, Amundsen, Shackleton... Als Einziger endet er nicht auf einer Expedition. Und doch bleibt der Polarpionier, Diplomat und Friedensnobelpreisträger bis zuletzt unerfüllt und mürrisch, denkt, er habe sich nie im Leben zurechtgefunden.

    TC 22:53 – Outro

    29 March 2024, 9:10 am
  • 22 minutes 32 seconds
    ARKTIS - Die Legende vom Sannikow-Land

    Über 100 Jahre lang prangt das Sannikowland auf den Arktis-Karten - obwohl es nie gefunden wird. Einige lassen bei der Suche nach diesem Land ihr Leben, doch keine der Expeditionen kann die Existenz einer warmen Insel im Eis bestätigen. Bis die technische Entwicklung nach und nach die Wahrheit über das Sannikowland ans Licht bringt. Von Fiona Rachel Fischer (BR 2023)

    Credits
    Autorin: Fiona Rachel Fischer
    Regie: Frank Halbach
    Es sprachen: Laura Maire, Christian Baumann, Sven Hussock
    Technik: Josef Angloher
    Redaktion: Thomas Morawetz
    Im Interview: Prof. Andreas Renner

    Linktipps:

    Deutschlandfunk (2020): Expeditionen ins Eis – gestern und heute

    Wie fühlt es sich an, bei klirrender Kälte, vom Eis umschlossen in tiefster Dunkelheit festzusitzen? Was treibt Polarforscher an, die unwirtlichen Regionen am Nord- und Südpol zu erkunden? Welche Eindrücke und Erkenntnisgewinne wiegen die enormen Risiken ihrer Abenteuer auf? Drei aktuelle Sachbücher liefern Antworten. JETZT ANHÖREN

    NDR (2024): Geister der Arktis

    Die preisgekrönte Extremtaucherin Christina Karliczek Skoglund begibt sich auf eine Expedition in die eisigen Tiefen der Arktis, um die geheimnisvollen Eishaie zu filmen. Die Tierfilmerin möchte nicht nur mit einem der "Methusalems der Meere" tauchen, sondern mit führenden Eishaiforschern über bahnbrechende neue Entdeckungen diskutieren. In Folge zwei stößt Christina immer weiter ins nördliche Grönland vor, um die "Einhörner des Meeres" zu finden. Die bedrohten Narwale leben das ganze Jahr über in Packeisnähe und sind durch den Klimawandel extrem bedroht. Ein mitreißender Doku-Zweiteiler. JETZT ANSEHEN


    Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

    Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

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    Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

    Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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    Timecodes (TC) zu dieser Folge:

    TC 00:15 – Intro
    TC 03:55 – Ein Kaufmann auf Expedition
    TC 05:54 – Der Arktis Hype des 19. Jahrhundert
    TC 08:45 – Auf der Suche bis in den Tod
    TC 11:40 – Stoff für einen Science-Fiction-Roman
    TC 17:20 – Ewiger wissenschaftlicher Mythos
    TC 21:55 – Outro

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    TC 00:15 – Intro

    MUSIK & ATMO Geschrei von Wildgänsen, Eisiger Wind, Eisberggeräusche

    SPRECHERIN 1:
    Folgt man den sibirischen Wildgänsen gen Norden in das ewige Eis, so entdeckt man bald hinter der Kotelny-Insel einen bläulichen Schimmer am Horizont. Beim Näherkommen wird er dunkler und dunkler, bis er sich zu einer schroffen Bergkette verfestigt.

    SPRECHER 2:
    In der unerbittlichen arktischen Kälte ist der Aufstieg an den steilen Berghängen mühsam. Doch zieht man sich an der letzten Kante hoch, wird man Wunderbares erblicken: Das satte Grün der Wiesen und Bäume. Heiße Geysire, die aus der fruchtbaren Erde sprudeln. Die wilden Mammuts, die durch die urzeitliche Flora streifen, und die blau tätowierten Gesichter eines verschollenen Indigenenstamms.

    SPRECHERIN 1:
    Das Sannikowland. Eine mystische Arktisinsel mit Atlantis-Charakter. Gefunden wurde dieser wundersame Ort schließlich nie.

    ZITATOR 1:
    Hat dieses Land überhaupt existiert? Ich bin überzeugt, daß es existiert hat.

    SPRECHER 2:
    So der Geologe und Autor Wladimir Afanasjewitsch Obrutschew in seinem Roman „Sannikowland“. Zitiert mit freundlicher Genehmigung des Verlags Neues Leben in der Eulenspiegel Verlagsgruppe Berlin.

    SPRECHERIN 1:
    Die Existenz des Sannikowlands ist eine von vielen Mythen, die sich im Zarenreich des 18. und 19. Jahrhunderts um die Arktis spinnen.

    SPRECHER 2:
    Zu dieser Zeit ist die Arktis ein weißer, also ein unausgestalteter Fleck auf der Landkarte. Im faszinierenden Unbekannten des ewigen Eises wird eine Nordostpassage entlang der eurasischen Nordküste vermutet, dass der Nordpol möglicherweise eisfrei sei, und irgendwo im Eismeer soll der achte Kontinent Arctica zu finden sein. Auf unentdeckten Inseln sollen große Reichtümer schlummern.

    MUSIK ENDE

    O-TON:
    Es gibt ja diese Insel-Mythen in der Kulturgeschichte zuhauf, dass man vermutet, irgendwo im Ozean hat sich eine Insel gehalten mit glücklichen Menschen. Also diese Insel-Utopien gehen bis in die Antike zurück. Denken Sie an Atlantis oder konkreter für die Arktis haben Sie die Hyperboreer, also diese Vorstellung, dass es irgendwo fernab der Zivilisation glückliche Menschen gibt, die warum auch immer, mal abgeschieden wurden. […] Und dann projiziert man einfach diese Vorstellung, die es schon gibt, auf diese Insel.

    SPRECHERIN 1:
    Professor Andreas Renner vom Lehrstuhl für Russland-Asien-Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

    SPRECHER 2:
    Es sind die Indigenen der sibirischen Küste, die bereits seit Jahrhunderten mit ihren flachen Booten das Eismeer befahren. Im 17. Jahrhundert gibt es erste Erkundungsfahrten von russischer Seite und es sind zunächst Entdecker und Eroberer, die von einer Flussmündung über das Meer zum nächsten großen Fluss fahren. Hierbei entstehen die ersten Karten dieser Region. Sie sind allerdings nur zum Navigieren gedacht und nicht einmal mit Längen- und Breitengraden versehen.

    SPRECHERIN 1:
    Wissenschaftliche Fahrten beginnen in den 1730er Jahren mit der Großen Nordischen Expedition, angestoßen von Marineoffizier Vitus Bering und beauftragt von Zarin Anna Iwanowna. Ganze 10 Jahre dauert sie. Die Karten, die die Forscher entwickeln, bleiben jedoch unvollständig.

    ZITATOR 1:
    Man wollte es kennenlernen, die Tiefe und die Temperatur der verschiedenen Wasserschichten messen und die Zusammensetzung des Wassers sowie die darin lebenden Tiere und Pflanzen, den Meeresgrund, die Richtung der Strömungen usw. erforschen.

    TC 03:55 – Ein Kaufmann auf Expedition

    SPRECHER 2:
    Doch es gibt noch eine weitere Gruppe, die Interesse an den arktischen Gewässern hat: Kaufleute, die mit Pelzen und Elfenbein handeln.

    MUSIK

    SPRECHERIN 1:
    Ein solcher Händler ist auch der Namensgeber und „Entdecker“ des Sannikowlands. Jakov Sannikow aus Jakutsk sammelt die Stoßzähne von Walrössern oder lässt sie erlegen, um das Elfenbein teuer zu verkaufen. Doch dann findet er eine noch lukrativere Einnahmequelle im ewigen Eis:

    O-TON:
    Mammutelfenbein. Also er hatte entweder Glück oder Gespür für. Es gibt auf den nordsibirischen Inseln sehr viele Mammutkadaver. Es hält sich in Nordostsibirien ungefähr bis 1500 oder 2000 vor der Zeitrechnung, also das letzte Refugium des Mammuts, und sie können dort nicht weg, sondern sie sterben dann tatsächlich zu Hunderten auf diesen Inseln mit dem Anstieg des Meeresspiegels. Und Sannikow ist einer der ersten, der systematisch diese Mammute sucht und ihnen die Stoßzähne wegnimmt und sie dann teuer verkauft. Also ein sehr erfolgreiches Business, und er ist tatsächlich dann wegen seiner Ortskenntnisse an einer wissenschaftlichen Expedition im Jahr 1809 beteiligt, die diese Neusibirischen Inseln vermessen soll.

    SPRECHER 2:
    Mit Mattias Hedenström, einem verbannten Beamten aus Riga, bricht Sannikow im Namen des Zaren zu der Mission auf.

    ATMO SCHIFF

    SPRECHERIN 1:
    Das Leben auf einer solchen Expedition ist hart: Die flachen Schiffe mit niedrigem Tiefgang, mit denen man im Eismeer navigieren kann, haben oft keine Kajütenaufbauten. Es ist dort eng, kalt und nass. Viele Menschen, die sich in die Arktis wagen, sterben an Erschöpfung, Hunger, Kälte oder Skorbut.

    MUSIK

    SPRECHER 2:
    Doch wer erfolgreich zurückkommt, den erwarten oft Ruhm oder Reichtum. So auch Sannikow, der nicht nur eine neue Insel entdeckt, sondern gleich noch eine zweite – wie er denkt.

    TC 05:54 – Der Arktis Hype des 19. Jahrhundert

    SPRECHERIN 1:
    Im Jahr 1811 erblickt der Händler nordwestlich der Kotelny-Insel eine unbekannte Landmasse. Diese ist für die Expedition allerdings unerreichbar. Hedenström trägt die gesichtete Insel dennoch in die Karte ein – unter dem Namen Sannikowland.

    SPRECHER 2:
    Damit setzt er ihrem Entdecker ein Denkmal, doch eine Sensation ist es noch lange nicht. Denn schließlich sind viele Inseln zu dieser Zeit unerreicht. Zehn Jahre später schickt die zarische Admiralität eine neue Expedition los, um die Karten weiter auszuarbeiten.

    MUSIK ENDE

    ZITATOR 2:
    [S]päter schien es, als seien die Angaben Sannikows widerlegt worden: Leutnant Anjou, der vom Marineministerium den Auftrag erhalten hatte, die von Sannikow gesehenen Länder aufzusuchen, kehrte 1824 mit der vollen Überzeugung zurück, daß die angeblich in Norden von den Neusibirischen Inseln gelegenen Landmassen wohl nur auf einer Täuschung beruhten.

    SPRECHER 2:
    –  schreibt Arktisforscher Baron Eduard von Toll später über diese Expedition.

    O-TON:
    Das ist auf jeden Fall eine Arktis-Expedition, die kreuz und quer um den Archipel und am Archipel entlangfährt, aber dieses Sannikowland nicht findet. Also man geht systematisch auch an die Stellen zurück, von denen die gesichtet wurde, und kann diese Entdeckung nicht bestätigen, lässt die Insel aber trotzdem auf den Karten stehen, weil es ja weder bestätigt noch widerlegt ist.

    SPRECHERIN 1:
    Diese Expedition soll die arktischen Inseln kartografieren, aber auch nach einer Landverbindung zu dem Kontinent Arctica suchen – den es freilich gar nicht gibt. Aber die Entdecker tragen immerhin eine neue Insel auf ihrer Karte ein: die Wrangelinsel, die erst knappe 100 Jahre später wirklich entdeckt und erforscht wird.

    SPRECHER 2:
    Auch jetzt ist die Küstenlinie nur bruchstückhaft kartografiert, denn der Eisgang verhindert das Durchkommen. Und das Sannikowland, das nordwestlich der Kotelny-Insel auf der Karte eingezeichnet ist, bleibt eine bloße Vermutung.

    MUSIK & ATMO Geschrei von Wildgänsen

    SPRECHERIN 1:
    Solche weißen Flecken auf der Karte, wie unentdeckte Inseln und der bisher unerreichte Nordpol reizen aber auch die westlichen Staaten, ihre Überlegenheit zu demonstrieren.

    MUSIK ENDE

    O-TON:
    Es gibt so einen, heute würde man sagen, so einen Arktis-Hype oder so ein Pole-Hype. Das hat einerseits einfach mit der technischen Entwicklung zu tun. Im neunzehnten Jahrhundert kann man eigentlich alle paar Jahre bessere Expeditionsschiffe bauen und dann kommen dampfgetriebene Schiffe. Die Schiffe werden stärker und eigentlich alle größeren europäischen Staaten beginnen Arktisexpeditionen, auch Deutschland, auch Österreich. Und das hat viel auch mit diesem kulturellen Wettkampf zwischen den europäischen Nationen zu tun. Es ist Prestigedenken, dann geht es gar nicht mehr so darum, Land im Besitz zu nehmen, sondern als Erster dort zu sein.

    TC 08:45 – Auf der Suche bis in den Tod

    MUSIK

    ZITATOR 2:
    An klaren Sommertagen sieht man von der Nordspitze der Insel Kotelny unter 76° n. Br. vier Berge, die sich kaum über den nördlichen Horizont emporheben — das ist das Sannikow-Land, ein noch nie betretenes Gebiet.

    SPRECHER 2:
    Es ist der 18. August 1886. Der deutsch-baltische Arktisforscher Eduard Gustav von Toll erblickt bei einem Aufenthalt auf der Kotelny-Insel am Horizont vier Berge am Horizont.

    ZITATOR 2:
    Die Berge des Sannikow-Landes erinnern in ihrer Form lebhaft an die abgestumpften Basaltkegel des Swätoi Noß, wie sie dem Auge von der Südküste der Gr. Ljächow-Jnsel erscheinen.

    SPRECHERIN 1:
    Und das an genau derselben Stelle, wie Sannikow 75 Jahre zuvor.

    SPRECHER 2:
    Meint Toll. Aber es ist eben nicht genau dieselbe Stelle. Doch Toll ist davon überzeugt, das Sannikow-Land gesichtet zu haben. Er stellt einen Antrag an die Russische Akademie der Wissenschaften mit der Bitte, eine Expedition auszurüsten und ihn auf die Suche nach der unerreichten Insel zu schicken.

    ATMO Geschrei von Wildgänsen & Musik ENDE

    SPRECHERIN 1:
    Im Jahr 1899 bewilligt die Akademie 180 000 Rubel für die Expedition. Im Juni des darauffolgenden Jahres sticht Eduard von Toll mit dem Motorschiff Sarja, der Morgenröte, von Kronstadt aus in See.

    MUSIK

    SPRECHER 2:
    Doch die Expedition verläuft nicht wie geplant. Das Eis verhindert, dass die Sarja nahe genug an die mutmaßliche Lage des Sannikowlands herankommt. Schließlich friert das Schiff auch noch nahe der Kotelny-Insel im Packeis ein. Im Juni 1902 beschließen Toll und einige andere schließlich, die Sarja zurückzulassen. Auf Hundeschlitten machen sie sich auf in Richtung Nordosten, um das Eiland auf eigene Faust zu suchen.

    SPRECHERIN 1:
    Sie werden nicht wieder zurückkehren. Ein Suchtrupp findet 1903 Tolls Tagebuch, doch die Arktisforscher bleiben verschollen.

    SPRECHER 2:
    Das dramatische Ende dieser Expedition bedeutet die endgültige Mythisierung des Sannikowlands.

    MUSIK ENDE

    O-Ton:
    Weil er das Unglück hat, von seiner Reise nicht zurückzukehren. Also man startet in Kronstadt und fährt dann durch Arktisschmelze eine sehr, sehr schwierige Route. Toll ist tatsächlich erst der dritte, dem es überhaupt gelingt, hier diese Passage von Europa bis ins ostsibirische Meer zu machen. […] Aber gerade weil er so verschwunden ist und es auch nicht eine gewisse Prominenz hat als Arktis Forscher, dann fängt es eben an, dass man ihn mit diesem Sannikowland verbindet, also die Suche nach dieser Insel.

    TC 11:40 – Stoff für einen Science-Fiction-Roman

    SPRECHERIN 1:
    Dieser abenteuerliche Stoff inspiriert schließlich den Science-Fiction-Autor Wladimir Obrutschew zu seinem Roman „Sannikowland“, der 1926 erscheint. In erster Linie ist Obrutschew jedoch Geologe: Sowohl im Zarenreich als auch später in der Sowjetunion forscht er zur Geologie Sibiriens, zu Gletscherbildung, Permafrost und Vulkanismus. Dafür wird er mit vielen Ehrentiteln ausgezeichnet und erhält fünf der renommierten Leninpreise.

    SPRECHER 2:
    Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse verarbeitet Obrutschew in insgesamt drei utopisch-phantastischen Romanen. Damit trifft er genau den Zeitgeist, denn die optimistische Aufbruchsstimmung der jungen UdSSR zeigt sich auch in einem allgemeinen Enthusiasmus für Wissenschaft. Die Bevölkerung soll gebildet, das wirtschaftliche Potential der Bodenschätze mithilfe der Wissenschaft maximiert werden. Dazu dient Science-Fiction-Literatur wie die von Obrutschew. Ihre Aufgabe ist es, ein breites Interesse an der Wissenschaft zu wecken und Forscher zu neuen Versuchen und Funden zu inspirieren – wie die Entdeckung von neuen Inseln im Eismeer!

    SPRECHERIN 1:
    Denn auch in den 1920ern gibt es noch genug Raum für Spekulationen, genug unerreichte Inseln. Es ist das letzte Jahrzehnt, in dem die Arktis als Raum des Abenteuers und des Entdeckertums gilt. Als die Wrangelinsel endlich erforscht wird, ist es eine Sensation. Eine große Inspiration für Obrutschew:

    MUSIK

    ZITATOR 1:
    Das ist ein Traumland!

    SPRECHERIN 1:
    In Obrutschews Roman machen sich drei verbannte Studenten zusammen mit zwei sibirischen Händlern auf den Weg. Im Auftrag eines Mitglieds der Akademie der Wissenschaften reisen sie zum Sannikowland.

    ZITATOR 1:
    Dieses geheimnisvolle Land zog die beiden nicht minder an als unsere drei Freunde, und sie waren froh, daß ihnen das glückliche Los zugefallen war, es als erste aufzusuchen.

    ATMO Geschrei von Wildgänsen

    SPRECHERIN 1:
    Den Zug der Wildgänse gen Norden sehen sie als Beweis für die Existenz einer warmen Insel im Eismeer.

    ZITATOR 1:
    Wohin sollten dann aber diese dummen und lebensmüden Vögel fliegen?

    SPRECHER 2:
    Zum Sannikowland!

    MUSIK ENDE

    SPRECHERIN 1:
    Wohin die fünf Abenteurer den Wildgänsen folgen. Sie finden die lang gesuchte Insel ohne Probleme und staunen nicht schlecht, als sie entdecken, dass das Sannikowland ein riesiger Vulkankrater ist, in dessen Wärme urzeitliche Flora und Fauna gedeihen.

    ZITATOR 1:
    Aber wer konnte ahnen, daß das Sannikowland ein zoologischer, oder richtiger – ein paläontologischer Garten ist!

    SPRECHERIN 1:
    Auch dem verschollenen –

    SPRECHER 2:
    – natürlich fiktiven –

    SPRECHERIN 1:
    Indigenenstamm der Onkilonen begegnen die Forschungsreisenden dort. Sie werden gastfreundschaftlich aufgenommen und erforschen eine Weile ungestört das Sannikowland.

    O-TON:
    Warum das funktioniert, das ist tatsächlich, glaube ich, die größte Caldera, die er da mal locker ins Polarmeer setzt, um halt eben zu erklären, dass es dort heiße Quellen gibt und Vegetation. Und dass diese Tiere, die woanders schon ausgestorben sind, also Mammute, Wollnashörner, sich eben auf Sannikow Land gehalten haben.

    SPRECHER 2:
    Obrutschew betont selbst im Vorwort, dass die fiktionale Schilderung auf dem wissenschaftlichen Forschungsstand seiner Zeit fuße. Im Roman finden sich lateinische Gattungsbezeichnungen, wissenschaftliche Daten werden dargelegt und die Forschungsreisenden diskutieren ihre Beobachtungen und Messungen ausführlich.

    ZITATOR 1:
    Ist der Talkessel der verschüttete Krater eines Vulkans, dann ist auch die üppige Vegetation unter diesem Breitengrad erklärt. […] Doch wollen wir uns vorläufig noch nicht festlegen, sondern abwarten, was weiter geschieht.

    SPRECHERIN 1:
    Diese Wissenschaftlichkeit verbindet der Autor mit der mythologischen Vorstellung einer warmen Insel im Eis, wo Menschen abgeschnitten vom Rest der Welt ein glückliches Leben führen.

    SPRECHER 2:
    Doch kaum sind im Roman die Forschungsreisenden auf der Insel angekommen, erfahren sie, dass das Glück der Onkilonen in Gefahr ist.

    ZITATOR 1:
    Die Geister des Himmels haben dem Schamanen verkündet, daß dem Volk der Onkilonen große Nöte bevorstehen.

    MUSIK

    ZITATOR 1:
    So weit das Auge reichte – überall stand Wasser, sämtliche Wiesen hatten sich zu Seen verwandelt, die Wälder hoben sich als schwarze Inseln oder Landzungen im weiten Rund des Wasserspiegels ab. Im Lichte der aufgehenden Sonne schimmerte das Wasser wie funkelndes Silber.

    SPRECHER 2:
    Das System der Insel gerät aus dem Gleichgewicht. Die Temperatur sinkt, das Wasser verschwindet zunächst aus dem heiligen See der Onkilonen, nur um den gesamten Talkessel zu überschwemmen.

    ZITATOR 1:
    Aus der Erde schossen feurige Kugeln bis in das hohe Rauchdach, Funkelgarben sprühten nach allen Seiten.

    ...

    29 March 2024, 9:05 am
  • 23 minutes 48 seconds
    ARKTIS - Die Suche nach der Franklin-Expedition

    Expedition in die Arktis: Im Jahr 1845 soll Sir John Franklin einen Seeweg durch das Polarmeer nach Asien finden. Unter seinem Kommando: die Schiffe HMS Erebus und die HMS Terror. An Bord: 129 Seeleute und Proviant für mehrere Jahre. Doch bald fehlt von der Expedition jede Spur - Was war geschehen? Erste Suchtrupps machen sich auf, um das Schicksal der Expedition zu klären. Bald finden sich erste Spuren, Gerüchte machen die Runde. Von Georg Florian Ulrich (BR 2024)

    Credits
    Autor: Georg Florian Ulrich
    Regie: Sabine Kienhöfer
    Es sprachen: Stefan Wilkening, Katja Amberger, Andreas Neumann, Frank Manhold, Sabine Kienhöfer
    Technik: Michael Krogmann
    Redaktion: Thomas Morawetz
    Im Interview: Prof. Roger Byard

    Linktipps:

    SWR (2024): Expedition in die Arktis

    Das "ewige Eis" in der Arktis schwindet. Welche Folgen hat das für unser Klima und unsere Zukunft? MOSAiC - die größte Arktis-Expedition aller Zeiten - soll genau das klären. Ein ganzes Jahr ließ sich eine internationale Crew von Wissenschaftler*innen mit dem Forschungseisbrecher "Polarstern" im Meereis nahe dem Nordpol einfrieren. Eine Expedition der Extreme begann: zwischen Eisbärangriffen, in monatelanger Dunkelheit und bei Temperaturen weit unter null Grad. Die gewonnenen Klimadaten vom Nordpol sollen jetzt helfen, die Prognosemodelle für den Klimawandel zu verbessern. JETZT ANSEHEN

    Deutschlandfunk (2005): Die Heldenmacher

    Vor 175 Jahren wurde die Royal Geographical Society gegründet. Tausende Expeditionen hat sie seither betreut: Von der tragisch endenden Suche John Franklins 1854, einen Weg durch das nördliche Eismeer, westwärts bis nach Indien zu finden bis zur erfolgreichen Erstbesteigung des Mont Everest im Jahr 1953. Inzwischen hat die altehrwürdige Gesellschaft ihr Herz für Anfänger entdeckt: Sie unterhält ein Expeditionsberatungszentrum. ZUM BEITRAG


    Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

    Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

    DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

    Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

    Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

    Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
    ARD Audiothek | Alles Geschichte
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    Timecodes (TC) zu dieser Folge:

    TC 00:15 – Intro
    TC 01:56 – Keine Kosten und Mühen gescheut
    TC 06:58 – Die Suche nach Lebenszeichen
    TC 11:40 – Eine Witwe gibt nicht auf
    TC 16:42 – Forschung nach Todesursachen
    TC 21:00 – Durchbruch
    TC 23:06 – Outro

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    TC 00:15 - Intro

    Musik & Atmo alte Stadt

    Sprecher:
    London, 1848. Seit mehr als drei Jahren gibt es keine Neuigkeiten von den beiden Schiffen. Kein Brief, keine Nachricht von der HMS Erebus und der HMS Terror erreicht die Admiralität in London. Niemand hat die zwei Schiffe gesehen, die ins arktische Eismeer gesegelt sind. Die Unruhe in der Admiralität wächst. Dabei hatte die Leitung der Royal Navy große Hoffnungen in die Expedition gesetzt – und eine Menge Geld. Man entschließt sich zu handeln.

    Zitator: (Ausrufer/Steckbrief)
    „20.000 Pfund Belohnung für jeden, der Hinweise zur Auffindung der Schiffe unter dem Kommando von Sir John Franklin geben kann!“

    Atmo Polarwind

    Sprecher:
    Eine Suchaktion von weltumspannenden Ausmaßen beginnt: Während ein Schiff von Großbritannien aus Kurs auf Grönland nimmt, fährt ein anderes die Küste im Norden von Alaska ab. Immer Ausschau haltend nach den beiden Schiffen der Franklin-Expedition. Gleichzeitig bahnt sich ein Suchtrupp im äußersten Norden Kanadas über Land einen Weg gen Norden, hin zu den Eisfeldern der Arktis. Irgendwo in dieser riesigen Region müssen sie abgeblieben sein. Drei Jahre zuvor, im Jahr 1845, hatten sie sich aufgemacht.

    Sprecherin:
    Ziel der Expedition: Die Nordwestpassage. Der erhoffte, aber bislang unentdeckte Seeweg von Europa nach Asien durch das arktische Meer.
    Wenn es eine solche Passage gäbe! Für die britische Seefahrt wäre es ein Riesengewinn.

    TC 01:56 – Keine Kosten und Mühen gescheut

    Sprecher:
    Will ein britischer Händler Anfang des 19. Jh. Ware aus Asien importieren, etwa Porzellan aus China, muss er an die 24.000 Kilometer Seeweg zurücklegen. Erst ganz Afrika umschiffen, den sturmgepeitschten indischen Ozean durchqueren, schließlich durch die Straße von Malakka, in der Piraten lauern. Erst dann kann er in China vor Anker gehen. Und auf dem Rückweg das Gleiche noch einmal.

    Musik

    Sprecherin:
    Die Nordwestpassage verspricht die Möglichkeit, all diese Gefahren zu umgehen. Und natürlich: Schneller wäre die Route auch: 8000km Umweg ließen sich so sparen. Wenn man sie denn findet: Denn bislang ist die Gegend zwischen Grönland und dem nördlichen Kanada ein weißer Fleck auf der Landkarte. Zu widrig waren die eisigen Temperaturen für die Entdecker des 17. Und 18. Jahrhunderts.

    Sprecher:
    Doch seit den Tagen der ersten Entdeckungsreisen in die Arktis hat sich das technische und geographische Verständnis der Briten enorm verbessert.

    Musik

    Die Industrielle Revolution ist in vollem Gang: In Großbritannien fahren bereits regelmäßig Eisenbahnen, neue Erfindungen wie die Konservendose oder die Nutzung der Elektrizität beginnen das Leben der Menschen zu verändern. Mit diesen technischen Errungenschaften, ist man sich sicher, auch den harten Bedingungen der Arktis trotzen zu können.

    Sprecherin:
    Deshalb hatte sich die Admiralität in London entschieden, zwei Schiffe auf eine Expedition in die Arktis zu schicken. Sie sollen endlich die Nordwestpassage finden. Die Wahl fällt auf die HMS Erebus und
    HMS Terror. Bombardenschiffe, sie sind schwer gepanzert – wie geschaffen, um Packeis zu durchbrechen. Bereits 1839 haben sie sich bei Expeditionen in die Antarktis bewährt.

    Atmo Fabrik im Dampfzeitalter

    Für die Expedition werden keine Kosten und Mühen gescheut. Die Schiffe werden generalüberholt, die schon dicken Rümpfe zusätzlich mit Eisenplatten verstärkt. Zwei neuartige Dampfmaschinen werden verbaut, um den Schiffen zusätzlichen Antrieb zu liefern. Möglich macht das die Schiffschraube, die erst wenige Jahre zuvor erfunden wurde.

    Sprecher:
    Die Dampfmaschinen versorgen zudem eine Zentralheizung, die trotz arktischem Wetter für angenehme Wärme an Bord sorgen soll. Auch für reichlich Proviant ist gesorgt.

    Zitator: (begeisterter Reporter)
    Die Vorkehrungen, die für den Komfort der Offiziere und der Besatzung getroffen wurden, sind ausgezeichnet: Die an Bord genommenen Vorräte sind beträchtlich und bestehen aus Konserven, einer großen Menge Tee und extra starkem westindischen Rum.

    Sprecherin:
    Dazu kommen 7 Tonnen frisch abgekochtes Fleisch, verpackt in den neuen, modernen Konservendosen, 14 Tonnen Salzfleisch, 4740 kg Kartoffel- und Gemüsekonserven und 4200 Liter Zitronensaft. Er soll gegen Skorbut helfen, die gefürchtete Seefahrer-Krankheit. Sogar eine beträchtliche Bibliothek mit mehr als 1000 Büchern wird an Bord genommen. Einer mehrjährigen Expedition in die Arktis steht nichts mehr im Wege.

    Musik

    Sprecher:
    Für Das Oberkommando wird schließlich Sir John Franklin auserkoren. Er ist zu diesem Zeitpunkt fast 60 Jahre alt, seine letzte Arktisexpedition fast 20 Jahre her. Manche Zeitgenossen äußern Bedenken wegen seines Gesundheitszustands. Dennoch soll diese Expedition das Glanzstück werden, das Franklins Karriere abschließt. Zudem stehen ihm erfahrene Männer zur Seite: Unter seinem Kommando steht auch Captain Francis Crozier, der bereits in der Antarktis mit der Terror unterwegs war.

    Sprecherin:
    Dann endlich! Mai 1845: Unter großem Beifall legen die Schiffe ab. Sie stechen unter guten Vorzeichen in See, die Besatzung ist optimistisch.

    ATMO knarzendes Segelboot, See

    Vor der Küste Grönlands werden die letzten Vorräte an Bord genommen, dann machen sich die Schiffe auf ins Eis – in bisher unbekannte Gefilde.

    Musik

    Sprecher:
    Auf ihrem Weg in den Lancastersund begegnen sie zwei Walfängern. Man besucht sich gegenseitig, tauscht Informationen aus. Es ist das letzte Mal, dass die beiden Schiffe von anderen Seeleuten gesehen werden.

    Atmo/Musik hoch

    Sprecherin:
    Es vergeht ein Jahr ohne jegliche Nachricht von der Expedition. Dann noch eins. Schließlich ein drittes.

    Sprecher:
    Über Jahre nichts von einer Expedition in die Arktis zu hören, ist in dieser Zeit erstmal nicht ungewöhnlich. Die Expedition von James Clark Ross zum Beispiel saß vier Jahre im Eis fest. Sie ernährten sich von ihrem Proviant und Robbenfleisch, bis auf drei Seeleute kehrten alle wohlbehalten zurück. Doch Franklins Mannschaft ist deutlich größer, seine Vorräte nur für zwei, maximal drei Jahre ausgelegt.
     
    TC 06:58 – Die Suche nach Lebenszeichen

    Sprecherin:
    Nachdem dann auch im dritten Jahr von der Expedition keinerlei Nachricht eintrifft, wird die Admiralität nervös. Wo sind die HMS Erebus und Terror? 1848 beginnt die Suche nach den verlorenen Schiffen. Drei Suchexpeditionen werden losgeschickt - erfolglos. Keine Spur findet sich von den beiden Schiffen. Die Lage ist ernst. Mit jedem Monat, der vergeht, sinken die Chancen, Franklin und seine Leute lebend zu finden.

    Sprecher:
    Im Jahr darauf werden ganze 14 Expeditionen ausgestattet. Die beiden Schiffe müssen doch irgendwo zu finden sein! Dass die Rettungsaktion so umfangreich ausfällt, liegt auch an der Ehefrau von John Franklin, Lady Jane. Sie nutzt ihren öffentlichen Einfluss, um Druck auf die Admiralität auszuüben.

    Atmo Wind

    Sprecherin:
    Endlich finden sich erste Zeichen der Expedition. Doch sie geben eine düstere Vorahnung, auf das, was kommt. Auf Beechey Island, einer kleinen Insel am Lancastersund, findet man die Überreste eines Winterlagers. Und: Drei Gräber. Die Namen auf den Grabsteinen sind gut lesbar.

    Zitator:
    John Torrington, 20 Jahre. William Braine, 32 Jahre. John Hartnell, 25 Jahre.

    Sprecherin:
    Besatzungsmitglieder der Franklin-Expedition. Alle drei gestorben im Jahr 1846, beerdigt hier auf Beechey Island. Die Erebus und Terror müssen hier Station gemacht haben. Woran starben sie? Gab es eine Krankheit an Bord? Die Insel wird genauestens untersucht, doch außer leeren Konservendosen und anderem Abfall findet sich nichts. Kein Logbuch, keine Nachricht wurde hinterlassen. Die Suche läuft weiter.

    Sprecher:
    Inzwischen erhitzen sich in London die Gemüter: ein Schuldiger wird ausgemacht. Der jüdische Kaufmann Stephan Goldner. Er hatte die Expedition mit Konservendosen versorgt. In nur 7 Wochen hatte Goldner den Großauftrag bewältigt. Jetzt häufen sich Vorwürfe, die Konserven seien von minderwertiger Qualität gewesen. Ging die Franklin-Expedition mit verdorbenem Proviant auf Reisen? Verhungerten die Seeleute trotz voller Vorratsschränke? Ein Bericht in der Times legt das nahe. Der Vorwurf ist haltlos, wie sich bald herausstellt. Eine offizielle Untersuchung spricht Goldner frei, doch sein Ruf ist ruiniert.

    Musik

    Sprecherin:
    Bei der Suche in der Arktis geraten inzwischen die Suchtrupps selbst in Not. Mehrere Schiffe bleiben im Eis stecken. Es dauert mehrere Jahre, bis die Expeditionen zurückkehren. Tatsächlich leisten sie mit ihren Reisen wichtige Beitrag zur Erkundung der Arktis. Aber außer den Gräbern auf Beechey Island können sie keine Hinweise über Franklins Schicksal liefern.

    Sprecher:
    Dennoch - die Hoffnung auf Neuigkeiten bleibt. Und tatsächlich finden sich neue Hinweise: Der Arzt und Polarforscher John Rae trifft auf seinen Arktis-Reisen auf Inuit, die ihm von düsteren Ereignissen berichten. Rae fasst ihre Berichte zusammen:

    Musik

    Zitator:
    Etwa vierzig weiße Männer wurden gesehen, wie sie in Begleitung eines Offiziers über das Eis nach Süden wanderten und ein Boot und Schlitten mit sich zogen. Sie sahen aus, als ob ihnen der Proviant ausgegangen wäre. Sie kauften von den Eingeborenen eine kleine Robbe oder ein Stück Robbe. Der Offizier wurde als ein großer, kräftiger Mann mittleren Alters beschrieben.

    Sprecherin:
    Handelt es sich bei dem Offizier um Franklin? Hat er seine Schiffe verlassen, und seine Mannschaft über Land weitergeführt? Doch die Inuit haben Rae noch mehr zu berichten:

    Zitator:
    Später hat man die Leichen von etwa dreißig Personen, einige Gräber auf dem Festland und fünf Leichen auf einer Insel in der Nähe entdeckt.
    Einige der Körper befanden sich in Zelten. Andere lagen unter einem Boot, das sie als notdürftige Unterkunft umgedreht hatten, einige verteilt um das Lager herum. Bei einem vermuteten die Inuit, dass es sich um einen Offizier handelte, da er ein Fernrohr über die Schultern geschnallt hatte und sein doppelläufiges Gewehr unter ihm lag.

    Sprecherin:
    Die Inuit zeigten Rae Gegenstände, die nur von Bord der Erebus und der Terror stammen konnten. Laut ihren Schilderungen waren die Männer in einer ausweglosen Situation.

    Musik

    TC 11:40 – Eine Witwe gibt nicht auf

    Zitator:
    Aus dem Zustand vieler Leichen und dem Inhalt der Kessel war ersichtlich, dass unsere unglücklichen Landsleute zum letzten Mittel gezwungen waren, um ihr Leben zu erhalten.

    Sprecherin:
    Kannibalismus – als letztes Mittel gegen den Hunger. Eine für die viktorianische Zeit unerhörte Unterstellung.  Als die Nachricht London erreicht, ist die Empörung groß. Die Witwe von Sir John Franklin, Lady Jane, lässt auf ihren Ehemann und dessen Expedition nichts kommen.

    Sprecher:
    Sie bekommt prominente literarische Unterstützung. Charles Dickens, ein Freund der Familie, steht ihr bei. In einer Zeitschrift wettert der berühmte Autor gegen die Inuit, weist ihre Berichte als unglaubwürdig zurück. Für ihn sind sie nichts weiter als:

    Zitator: Zitat Charles Dickens
    „Das Geschwätz einer groben Handvoll unzivilisierter Menschen, die in Blut und Walfett zuhause sind!“

    Sprecher:
    1854 werden alle Expeditionsmitglieder für tot erklärt.

    Musik

    Lady Jane Franklin will jedoch Gewissheit. Zwei Jahre später finanziert sie erneut eine Expedition unter dem Kommando von Francis McClintock.

    Sprecherin:
    Tatsächlich gelingt es McClintock als erstem, eine handfeste Nachricht von der Expedition zu finden. In einem kleinen Steinhügel auf King William Island stößt er auf einen Brief der Franklin-Expedition. Versteckt in einem Bleizylinder, wasserdicht geschützt. Der erste Eintrag weckt Hoffnungen:

    Zitator:
    Mai 1847: Von 1846-47 überwintert bei Beechey Island. Sir John Franklin befehligt die Expedition. Alle wohlauf.

    Sprecherin:
    Der Beginn der Expedition scheint gut verlaufen zu sein. Doch an den Rand des Briefes gequetscht finden sich weitere Zeilen. Jemand muss den Bleizylinder zu einem späteren Zeitpunkt wieder geöffnet, den Brief erneut beschrieben haben. Die zittrige Handschrift lässt sich schwer lesen.

    Musik

    Zitator:
    April 1848 - "Terror" und "Erebus" wurden am 22. April verlassen. 105 Seelen unter dem Kommando von Capitain Crozier landeten hier im September 1848. Sir John Franklin ist am 11. Juni 1847 gestorben, Gesamtverlust durch Todesfälle bis heute: 9 Offiziere und 15 Männer. Wir brechen morgen zum Back's Fish River auf.

    Atmo Eiswind, Schritte

    Sprecherin:
    Franklin ist also definitiv tot. Mit ihm 24 weitere Besatzungsmitglieder – eine ungewöhnliche hohe Todesrate, selbst für Arktisexpeditionen.
    Das Ziel der Überlebenden, der Back’s Fish River, liegt mehrere hundert Kilometer Fußweg entfernt. Durch kaum wegbares Packeis, danach durch eine felsige Tundra, in der es im Frühjahr kaum Nahrung gibt.

    Sprecher:
    McClintock fährt mit seinem Hundeschlitten den Weg ab, den die Überlebenden genommen haben müssen. Er stößt auf ein seltsames Relikt: ein Beiboot eines der Schiffe. Scheinbar auf den Kopf gestellt, um einen provisorischen Unterschlupf zu bieten.

    Zitator:
    Im Boot befand sich etwas, das uns in Ehrfurcht erstarren ließ. Es waren Teile von zwei menschlichen Skeletten. Das eine das eines schmächtigen jungen Menschen, das andere das eines großen, starken Mannes mittleren Alters, vielleicht ein Offizier. Große und kräftige Tiere, wahrscheinlich Wölfe, hatten einen Großteil dieses Skeletts zerstört.

    Sprecher:
    Doch die Gegenstände, die McClintock und seine Kameraden rund um das Boot finden, werfen noch mehr Fragen auf: Kämme, Haarbürsten, Taschenbücher. Und sogar eine ganze Ladung Silberbesteck. Nichts, was man auf einem Marsch um Leben und Tod erwarten würde. Zudem finden sich neben etwas Tee ca. 18kg Schokolade. McClintock vermutet, dass die beiden Männer mit dem Boot und der Schokolade als letztem Proviant zurückgelassen wurden, als sie zu schwach geworden waren, um weiter zu ziehen. McClintock kehrt nach Großbritannien zurück. Er ist überzeugt, dass alle Mitglieder der Franklin-Expedition verstorben sind.

    Musik

    Sprecherin:
    Lady Franklin gibt jedoch bis zuletzt nicht auf, das Schicksal ihres Ehemanns zu klären. Noch mit 82 Jahren finanziert sie eine Expedition in die Arktis. Sie stirbt, noch während sie auf die Rückkehr des Schiffs wartet. Die Expedition endet ergebnislos. Auch eine letzte Expedition wenige Jahre später fördert keine neuen Erkenntnisse zutage.

    Atmo Eiswind Heulen

    TC 16:42 – Forschung nach Todesursachen

    Sprecher:
    Doch das Rätsel um das Verschwinden der Erebus und Terror zieht die Menschen weiter in seinen Bann. Anfang der 1980er Jahre, gut 100 Jahre nach der letzten Expedition, macht sich ein Team von Forschern der University of Alberta auf, das Rätsel um die Expedition zu lösen. Die kanadischen Forscher stoßen die Reste des Beiboots, das McClintock gefunden hatte. Sie dokumentieren die Fundstelle, sammeln die menschlichen Knochen ein. Im Labor stoßen sie auf Überraschendes: Neben Anzeichen für Skorbut weisen die Knochen der Mitglieder von Franklins Expedition einen zehnmal höheren Bleigehalt auf, als die der Inuit, die in der Gegend beerdigt wurden.

    Musik

    Sprecherin:
    Nun wollen die Forscher der Sache auf den Grund gehen. Zwei Jahre später machen sie sich auf nach Beechey Island, zu den Gräbern die die Franklin-Expedition dort zurückgelassen hatte. Für ihre Expedition brauchen sie eine besondere Genehmigung: Sie wollen die Gräber öffnen, die Leichen der Crewmitglieder untersuchen. Professor Roger Byard von der University of Adelaide ist Pathologe und hat sich eingehend mit den Forschungen zur Franklin-Expedition beschäftigt.

    OV Prof Roger Byard Beschreibung Blei
    OVERVOICE männlich
    They dug up John torringtons body…
    Die haben die Leiche von John Torrington ausgegraben, einem der Besatzungsmitglieder, die auf Beechey Island beerdigt wurden. Und dabei fanden sie einen sehr hohen Bleigehalt. Und deshalb sagte man: Aha, die Expedition benutzte diese neumodischen Blechdosen, die mit Blei verlötet waren, das ans Essen abgegeben wurde. Und deshalb meinte man, dass sie an einer Bleivergiftung gestorben sind.

    Musik

    Sprecherin:
    Eine Bleivergiftung tötet nicht direkt, sondern schadet über längere Zeit dem Nervensystem. Erste Symptome: Erschöpfung, Reizbarkeit. Dann: Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme. Am Ende greift die Vergiftung auf das Gehirn über: Verwirrtheit, Orientierungsprobleme, Charakterstörungen. Starben die Männer, weil ihre bleiverseuchten Vorräte sie in den Wahnsinn trieben? Es würde ihre merkwürdigen Entscheidungen erklären: weshalb sie etwa Silberbesteck und anderen wertlosen Tand einpackten, als sie ihre Schiffe verließen.

    Sprecher:
    Lange gilt diese Erklärung als einer der Hauptgründe für das Scheitern der Expedition. Doch inzwischen gilt sie als überholt. Prof. Byard weiß warum.

    OV Prof Roger Byard Multifaktoren
    Overvoice männlich
    Over the years the looked at graves of similar vintage…
    Im Laufe der Jahre hat man bei Gräbern ähnlicher Jahrgänge von Marineangehörigen festgestellt, dass die Bleikonzentrationen bei allen sehr hoch sind. Damals gab es Bleirohre auf den Schiffen und alle möglichen anderen Dinge. Die Bleivergiftung war also nicht der Grund. Also stand man wieder am Anfang bei der Frage nach der Todesursache. (…) Aber ich denke, dass es viele Gründe gab, dass man sich im Grunde genommen einfach abnutzt. Es ist also ein additiver Effekt einer ganzen Reihe von Faktoren. (…) The fact that you’re miserable as hell…Die Tatsache, dass man sich verdammt elend fühlt und weiß, dass man nie wieder nach Hause kommen wird. Das ist wirklich nichts, was einen dazu anspornt, zu versuchen, zu überleben. Aber sie waren jahrelang dort, also waren sie unglaublich stoische Männer.

    Sprecher
    Hinweise für eine Vielzahl an Belastungen finden sich in den menschlichen Überresten: Die Lungen der Männer auf Beechey Island sind von Tuberkulose zerfressen. Die verstreuten Knochen auf den anderen Inseln zeigen Zeichen von Skorbut. 

    Musik

    Sprecherin:
    Doch die Knochen geben auch Aufschluss über ein weiteres Rätsel: Forensiker in den 1990ern Jahren entdecken gerade Schnitte an den Knochen, die am Boot gefunden wurden: Spuren von Klingen. Hier wurde Fleisch von Knochen gelöst. Spätere Studien zeigen: Die Knochen wurden sogar aufgebrochen, über Stunden gekocht, um an das Mark zu gelangen. Eindeutige Beweise für Kannibalismus unter den letzten Überlebenden. Genauso, wie die Inuit es den ersten Suchtrupps im 19. Jahrhundert geschildert hatten. Nach Jahrzehnten der Verleumdung zeigt sich: Die Inuit hatten Recht.

    TC 21:00 – Durchbruch

    Sprecher:
    Die Forscher fangen an, die Berichte der Inuit in ihre Untersuchungen miteinzubeziehen. Und so gelingt im Jahr 2014 ein großer Durchbruch.

    Atmo Eisbrecher und Sonar

    Ein Suchboot, ausgestattet mit einem Sonar, durchfährt eine Bucht nahe der King-William Insel. Laut Schilderungen der Inuit ist hier vor mehr als 150 Jahren ein großes Holzschiff gesunken. Plötzlich erscheint auf dem Radar ein Bild, das eindeutiger nicht sein könnte: Es ist ein Schiff, der Bug liegt zertrümmert am Meeresboden, doch der Rest ist deutlich erkennbar.

    Sprecherin:
    Es ist die HMS Erebus. Nach mehr als 150 Jahren ist sie wieder da, in ihrer ganzen Pracht. Doch sie liegt einsam am Meeresgrund. Wo ist ihr Schwesterschiff, die HMS Terror?

    Sprecher:
    Es dauert noch zwei weitere Jahre, bis auch dieses Rätsel gelöst wird. Etwa 100 Kilometer weiter südlich, vor der Küste der Adelaide-Halbinsel. Inuit hatten in dieser Gegend schon öfters angeschwemmte Wrackteile gefunden, doch den entscheidenden Hinweis gibt ein Inuk-Jäger. Vor einigen Jahren war er mit seinem Schneemobil auf der zugefrorenen Bucht unterwegs. Dabei stieß er auf einen Holzpfahl, der aus dem Eis aufragte. Jetzt führt er das kanadische Forschungsteam an die Stelle. Der Pfahl, der aus dem Wasser aufragte - Es ist der Mast der HMS Terror. In nur 11m Tiefe liegt das Wrack des Schiffs.

    Musik

    Sprecherin:
    Spätere Tauchgänge zeigen: Das eiskalte Wasser hat das Wrack in außergewöhnlicher Qualität erhalten. Glasflaschen und kostbares Porzellan liegen unversehrt in den Regalen, Gewehre hängen an der Wand. Als ob die Mannschaft sie gerade erst verlassen hätte.
    Das Team der Unterwasserarchäologen hofft, in Zukunft vielleicht sogar eines der Logbücher bergen zu können. Vielleicht kann so die Geschichte um die Expedition zu Ende erzählt werden.

    TC 23:06 - Outro

     

    29 March 2024, 9:00 am
  • 22 minutes 52 seconds
    GEFÄHRLICHE NACHBARN - Taiwan im Konflikt der Mächte

    Der Inselstaat Taiwan gehört zu den politischen Pulverfässern der Welt. Die Führung betont regelmäßig die Eigenständigkeit Taiwans, das offiziell Republik China heißt. Die kommunistische Volksrepublik China aber betrachtet das Land als abtrünnige Provinz und fordert den Anschluss an die Volksrepublik. Dies wollen die USA aber unbedingt verhindern, denn das Südchinesische Meer und die Taiwanstraße sind wichtige Routen für den Welthandel. Zudem ist die hochentwickelte Halbleiterindustrie Taiwans für zahlreiche Industriestaaten von immenser Bedeutung. Von Claudia Steiner (BR 2023)

    Credits
    Autorin: Claudia Steiner
    Regie: Sabine Kienhöfer
    Es sprachen: Christian Baumann, Rahel Comtesse, Andreas Dirscherl
    Technik: Roland Böhm
    Redaktion: Nicole Ruchlak
    Im Interview: Prof. Dr. Christine Moll-Murata, Anna Marti

    Linktipps:

    BR (2024): Notizen aus Taiwan und China – Unabhängigkeit oder Wiedervereinigung 

    Taiwan war nie Teil der Volksrepublik und stand nie unter Kontrolle der Kommunistischen Partei Chinas. Dennoch beansprucht Peking die demokratisch regierte Insel als eigenes Territorium. Die meisten Taiwaner können sich keinen Zusammenschluss mit dem autokratisch regierten China vorstellen. Zum Beitrag geht es HIER.

    Deutschlandfunk (2024): Taiwans polarisierte Medienlandschaft

    Am 13. Januar wählt Taiwan einen neuen Präsidenten. Das schwierige Verhältnis des Inselstaats zu Festlandchina spiegelt sich auch in einer polarisierten Mediendebatte wider: pro- und anti-chinesische Medien berichten teils komplett konträr. JETZT ANHÖREN

    phoenix (2023): Taiwan – Angst vor der Invasion

    Taiwan wird oft als eine der gefährlichsten Regionen der Welt bezeichnet. Aber: Nicht das Land selbst, sondern die politischen Umstände machen die Lage vor Ort so gefährlich. Film von Michael Müller JETZT ANSEHEN


    Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:


    Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

    DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

    Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

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    Timecodes (TC) zu dieser Folge:

    TC 00:15 – Intro
    TC 01:54 – Der Ausgangspunkt
    TC 05:01 – Von offizielle und inoffiziellen Beziehungen
    TC 08:41 – Das Problem der „Wiedervereinigung“
    TC 11:00 – Ein Land im Konflikt zweier Atommächte
    TC 14:24 – Umbruchsdenken
    TC 17:28 – Der Weiße Terror
    TC 19:46 – Ein Leben mit militärischer Spannung
    TC 22:10 – Outro

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    TC 00:15 – Intro

    ATMO Nachrichtenticker

    Einspielung 1 (COLLAGE, 09.10.2021, 05.08.2022, 27.5.2022, gerne übereinander legen und/oder mit Ticker trennen)

    MUSIK: Z8031117101 HOT NEWS 0‘45

    SPRECHER 2 UND NACHRICHTENSPRECHER
    Chinas Präsident Xi Jinping hat erneut die Wiedervereinigung Taiwans mit der Volksrepublik gefordert. Bei einer Feierstunde zum 110. Jahrestag der Revolution von 1911 sagte Xi, die Wiedervereinigung müsse und werde definitiv verwirklicht werden.… /
    Die Taiwan-Krise führt auch zu Spannungen zwischen China und Deutschland. Die chinesische Botschaft in Berlin hat nun Außenministerin Baerbock Unterstellungen und eine Einmischung in innere Angelegenheiten vorgeworfen. …
    Ein chinesischer Flugzeugträger ist durch die Meerenge bei Taiwan gefahren. Er wurde laut Verteidigungsministerium in Taipeh von zwei weiteren Schiffen der chinesischen Armee begleitet. Als Reaktion hätten Taiwans Streitkräfte Luftpatrouillenflugzeuge, Marineschiffe und Raketensysteme aktiviert…

    ATMO Nachrichtenticker (bricht ab)

    MUSIK

    SPRECHER
    Die Nachrichten zeigen deutlich: Der Status von Taiwan ist kompliziert und konfliktbehaftet. Der Inselstaat, der offiziell Republik China heißt, liegt zwischen Japan und den Philippinen, 180 Kilometer östlich der Volksrepublik China. Die riesige, autoritär geführte, kommunistische Volksrepublik China betrachtet das kleine, demokratische Taiwan als abtrünnige Provinz und fordert den Anschluss an Peking. Die Führung in der taiwanesischen Hauptstadt Taipeh betont dagegen ihre Eigenständigkeit. Aber politisch ist das Land relativ isoliert. Von den meisten Ländern wird Taiwan nicht als souveräner Staat anerkannt, auch nicht von Deutschland. Dabei war Taiwan nie Teil der 1949 von Mao Zedong gegründeten Volksrepublik China. Und Chinesen waren auch nicht immer Bewohner der Insel. Ein Rückblick:

    Musik

    TC 01:54 – Der Ausgangspunkt

    SPRECHER
    Ursprünglich war die Insel von indigenen Bevölkerungen besiedelt. Über die Jahrhunderte gab es unterschiedliche Einflüsse: So kamen am Ende der chinesischen Ming-Dynastie Mitte des 17. Jahrhunderts chinesische Einwanderer nach Taiwan. Ebenfalls im 17. Jahrhundert bauten Holland und Spanien koloniale Stützpunkte auf der Insel auf. Die Kolonialmächte wurden aber von chinesischen ming-loyalen Truppen vertrieben.  Von 1895 bis 1945 stand Taiwan schließlich unter japanischer Herrschaft. Doch mit der Kapitulation Japans nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Friedensvertrag von San Francisco am 28. April 1952 gab Japan alle Rechte an ehemaligen Kolonien, und damit auch an Taiwan auf. Doch der genaue Status der Insel war unklar. Christine Moll-Murata ist Professorin für Geschichte Chinas und Leiterin der Taiwanforschungsstelle an der Ruhr-Universität Bochum.

    O-TON 1 (Moll-Murata, 2.32)
    Aufgegeben hat es das zwar, aber es ist nicht deutlich formuliert worden, an wen. Weder die Repräsentanten der Volksrepublik China, die inzwischen 1949 gegründet worden war, noch die Repräsentanten der Republik China, die sich jetzt im Exil befanden seit 1949 auf Taiwan, also weder die einen noch die anderen waren anwesend.

    MUSIK

    SPRECHER
    Das heißt: Keine der beiden Seiten waren in den Friedensvertrag involviert, weder die Kommunisten auf dem Festland, noch die Nationalisten im Exil. Beide Seiten war sich zuvor in einem blutigen Bürgerkrieg gegenüber gestanden. Die Kommunisten gingen daraus als Sieger hervor, die Nationalisten zogen sich nach Taiwan zurück – der Ausgangspunkt des heutigen Konflikts. Anna Marti, Leiterin des Taipeher Büros der FDP-nahen Friedrich Naumann Stiftung.

    O-TON 2 (Marti, 2.19)
    Und Mao Zedong hat am 1. Oktober 1949 in Peking die Volksrepublik ausgerufen. Der vorher existierende Staat, also nach dem Ende des Kaiserreichs, vor der Volksrepublik, war aber die Republik China und die Leute, die damals in Amt und Würden waren, Macht hatten, das ganze Militär, die gesamte Flugzeugflotte und die gesamte Marine sind geflohen vor den Kommunisten, die haben ja eben verloren. Und die haben sich nach Taiwan zurückgezogen. 

    SPRECHER
    Die nationalistische Regierung unter der Führung von Chiang Kai-shek von der Kuomintang-Partei flüchtete also mit ihren Truppen auf die Insel – mitsamt der Goldvorräte und wertvoller Kulturschätze aus der „Verbotenen Stadt“, der Palastanlage im Zentrum Pekings. Im nationalen Palastmuseum in Taipeh sind seit 1965 Hunderttausende dieser Schätze ausgestellt und gelagert: Wertvolle Stücke aus Jade, Porzellan und Vasen, Gemälde und Bronzen. Für die Volksrepublik China sind es Beutestücke. Willkommen waren die Nationalisten auf der Insel erst einmal nicht: Die damalige Bevölkerung in Taiwan betrachtete die Ankunft der Soldaten vom Festland als Invasion.
     
    MUSIK

    TC 05:01 – Von offizielle und inoffiziellen Beziehungen

    SPRECHER
    International wurde die Republik China auf Taiwan zunächst als Vertreter Gesamtchinas anerkannt. So hatte das kleine Taiwan zum Beispiel einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – obwohl es de facto nur die Insel Taiwan und einige wenige Inseln vor dem chinesischen Festland kontrollierte. Dies änderte sich 1971. Damals wollte die US-Regierung unter Präsident Richard Nixon die Beziehungen zur Volksrepublik China neu aufstellen In der Resolution 2758 heißt es:

    ZITATORIN
    „Die Vollversammlung der Vereinten Nationen […] beschließt, all die Rechte der Volksrepublik China instandzusetzen und die Vertreter ihrer Regierung als die einzigen legitimierten Vertreter Chinas in den Vereinten Nationen anzuerkennen und von nun ab die Vertreter Chiang Kai-sheks von dem Platz zu entfernen, den sie zu Unrecht in den Vereinten Nationen und all ihren Organisationen einnehmen.“

    SPRECHER

    Der Beschluss, der die gesamte Macht-Konstellation änderte, er gilt bis heute. Vor allem Länder des globalen Südens stimmten zu. Doch der Beschluss war nicht im Sinne aller Staaten - die USA etwa wollten, dass sowohl die Volksrepublik China als auch die Republik China im Sicherheitsrat vertreten sein sollen, konnten sich mit dieser Haltung aber nicht durchsetzen. Und so nahmen 1979 die USA diplomatische Beziehungen zur flächenmäßig deutlich größeren Volksrepublik China auf und brachen die offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Taiwan ab. Aber eben nur die offiziellen diplomatischen Beziehungen. Zugleich verpflichtete sich Washington mit dem Taiwan Relations Act, Taiwan verteidigungsfähig zu halten. Auch viele andere Staaten haben bis heute keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Taiwan. Denn um mit China zusammenarbeiten zu können, müssen Länder die Ein-China-Politik anerkennen. Peking versteht sich als Rechtsnachfolger der Republik China. Anna Marti:

    O-TON 3 (Marti, 7.01)
    Das heißt, dass Peking darauf besteht, dass es nur ein einziges China gibt. Und in ihrer Sichtweise ist das eben die Volksrepublik. Und wer mit China, also wer mit Peking diplomatische Beziehungen unterhalten möchte, der muss das akzeptieren. Das heißt, man kann nicht gleichzeitig mit Peking und mit Taipeh diplomatische Beziehungen unterhalten.

    Musik

    SPRECHER
    Zu den wenigen Ländern, die heute Taiwan offiziell anerkennen, gehören unter anderem Haiti, Guatemala, Paraguay und der Vatikan. Doch auch wenn es offiziell keine Anerkennung gibt, arbeiten viele Länder – auch Deutschland - eng mit Taipeh zusammen. Es ist diplomatisches Fingerspitzengefühl gefragt. Anna Marti. 

    O-TON 4 (Marti, 7.37 /24.21) 
    Was aber wichtig ist: Nur, weil man keine Botschaft in Taipeh hat, heißt das nicht, dass es keinerlei Austausch gibt. Die heißen dann hier anders. Also die deutsche Vertretung heißt da nicht hier die deutsche Botschaft, sondern das ist das Deutsche Institut. /
    Es gibt einen taiwanischen Pass, der auch anerkannt wird und der in manchen Gebieten auch wirklich sogar besser ist als der chinesische Pass. Also ganz konkret können Leute mit einem taiwanischen Pass in den Schengenraum einreisen, ohne vorher ein Visum beantragen zu müssen. Und das ist bei Menschen, die einen Pass aus der Volksrepublik haben, ist es nicht möglich. Und das ist natürlich ein gewisser Pragmatismus. Es wirkt erstmal merkwürdig, dass zum Beispiel Deutschland, das Taiwan nicht als Staat anerkennt, den Pass aber anerkennt. Aber es gibt zum Beispiel auch ein Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Taiwan und Deutschland.
     
    TC 08:41 – Das Problem der „Wiedervereinigung“

    SPRECHER
    Die Eigenständigkeit Taiwans wird auch in anderen Punkten deutlich: So hat das Land eine eigene Währung, den Taiwan-Dollar, und ein eigenes Militär. Doch zwischen der Volksrepublik China und der Republik China herrscht ein starkes Machtgefälle: Das Militär von China zählte 2023 rund zwei Millionen aktive Soldaten, das Militär von Taiwan rund 170.000. China ist Taiwan in militärischer Hinsicht über alle Waffengattungen hinweg deutlich überlegen. 

    MUSIK

    SPRECHER
    Der Status Taiwans ist also seit Jahrzehnten umstritten, die politische Kluft zwischen der Republik und der Volksrepublik China tief. Beide Seiten beharren auf ihren Positionen. Die Führung in Peking betrachtet das 23 Millionen Einwohner zählende Taiwan – welches im Vergleich zu den 1,4 Milliarden Menschen auf dem Festland winzig ist - als Teil der Volksrepublik. Peking strebt eine „Wiedervereinigung“ an und droht mit einer militärischen Eroberung der Insel, sollte sich Taiwan als unabhängig erklären. Immer wieder gibt es militärische Machtdemonstrationen: Chinesische Kriegsschiffe patrouillieren regelmäßig in der Nähe der taiwanesischen Küste, Flugzeuge verletzten den Luftraum. Oder es werden wie im Sommer 2022 bei Manövern Raketen abgefeuert und stürzen in der Nähe der Insel ins Meer – kurz zuvor hatte die damalige Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi Taiwan trotz Warnungen aus Peking besucht. Die Sprecherin des Außenministeriums in Taipeh erklärte damals kämpferisch: 

    Einspielung 2 (China startet großangelegtes Militärmanöver... ab 27. Sek, chin. O-Ton. Overvoice.)
    Unsere Regierung ist noch entschlossener, die Souveränität und territoriale Integrität unserer Nation zu schützen. Angesichts des aktuellen Szenarios wird unsere Regierung nicht nur ihre Selbstverteidigungsfähigkeiten aktiv stärken, sondern auch enge Beziehungen zu gleichgesinnten Ländern wie den Vereinigten Staaten pflegen. Gemeinsam werden wir die auf Regeln basierende internationale Ordnung verteidigen, eine weitere regionale Eskalation vermeiden und gleichzeitig die Sicherheit der Straße von Taiwan sowie die Freiheit, die Offenheit, den Frieden und die Stabilität in der indopazifischen Region energisch schützen. 

    TC 11:00 – Ein Land im Konflikt zweier Atommächte

    SPRECHER
    Das Engagement der USA für Taiwan hat vor allem geopolitische Gründe. Die Insel im Pazifik ist ein Land im Konflikt zweier Atommächte, China und den USA. Die USA hat zudem wichtige Militärbasen im Pazifik. Anna Marti:

    O-TON 5 (Marti, 15.18)
    Die USA haben große Militärstützpunkte in Japan und in Guam. Und da sind auch wichtige Teile der Pazifikflotte, zum Beispiel auch der Flugzeugträger, die zum Teil dann hier auch durch die Taiwan-Straße fahren, in sogenannten Freedom of Navigation-Routen. Also ganz konkret bedeutet das, dass man da durch die Taiwan-Straße durchfährt, um eben zu zeigen, dass das ein internationales Gewässer ist und nicht, wie von der Volksrepublik beansprucht, ein nationales Gewässer.

    Musik

    SPRECHER
    Eine Eroberung Taiwans durch China wäre ein weiterer Schritt für die Großmacht-Ambitionen Pekings, denn dies würde dem Land zu mehr Macht im Pazifik verhelfen. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine befürchten Beobachter, dass China auf ähnliche Art und Weise versuchen könnte, Taiwan zu erobern. Spätestens seit Peking die Demokratiebewegung in Hongkong niederschlagen ließ, ist klar, dass die Volksrepublik auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Die USA – als Schutzmacht - beliefern Taiwan deshalb mit Waffen. US-Präsident Joe Biden bezeichnete es als „Verpflichtung“, Taiwan zu verteidigen – wie dieses Engagement außer Waffenlieferungen genau aussehen könnte, ließ er offen. Die Bochumer Taiwan-Expertin Christine Moll-Murata:

    O-TON 6 (Moll-Murata, 7.10)
    Natürlich gibt es auch wirtschaftliche Interessen der USA, aber in erster Linie ist es eben geopolitischer Art. Und das hat, ja, eben auch mit dem Verhältnis von USA zu China zu tun. In letzter Zeit, also seit den letzten fünf, sechs Jahren, spricht man von Decoupling, also von einer Loslösung oder von einer Entflechtung der amerikanischen Wirtschaft von der chinesischen Wirtschaft. Und da spielt eben Taiwan eine wichtige Rolle.

    SPRECHER
    Ein militärischer Konflikt hätte massive Auswirkungen, auch auf die Weltwirtschaft. Das kleine Taiwan - die Insel ist etwa so groß wie Baden-Württemberg - gilt als Tigerstaat Südostasiens, also als eine besonders dynamische Wirtschaft.

    MUSIK

    Zwar taucht Taiwan wegen seines unklaren Status meist nicht in offiziellen Rankings auf, doch mit einem geschätzten Bruttoinlandsprodukt für 2023 von knapp 800 Milliarden US-Dollar, liegt Taiwan weltweit etwa auf Platz 20. Besonders wichtig für viele Branchen ist vor allem die Chip- und Halbleiterindustrie. Dort ansässige Unternehmen wie die „Foxconn Technology Group“ oder die „Taiwan Semiconductor Manufactoring Company, Limited“ produzieren Elektronik- und Computerteile, Chips und Halbleiter unter anderem für Marken wie Apple, Nintendo, Microsoft und Sony. Anna Marti von der Friedrich Naumann Stiftung in Taipeh.

    O-TON 7 (Marti, 16.52)
    Es ist ganz klar: Die Welt ist abhängig von diesen Chips, die hier in Taiwan produziert werden. Und wenn die Lieferketten unterbrochen werden oder wenn es zu einem größeren Konflikt kommen sollte, dann wäre die Weltwirtschaft insgesamt betroffen, nicht nur wegen den Chips, aber natürlich auch wegen den Routen, den Schiffsrouten, die hier auch in nächster Nähe vorbeigehen und die Falle eines Konfliktes da natürlich betroffen wären.

    TC 14:24 - Umbruchsdenken

    SPRECHER
    Es mag erstaunlich klingen: Trotz des politischen Konflikts mit Peking hat Taiwan enge wirtschaftliche Beziehungen mit der Volksrepublik. Die Volksrepublik China ist Taiwans größter Handelspartner. Im Jahr 2022 gingen rund 40 Prozent aller taiwanischen Exporte nach China, inklusive der Sonderverwaltungsregion Hongkong. Taiwanesische Firmen wie Foxconn haben zudem auch Filialen auf dem chinesischen Festland – doch das scheint sich langsam zu ändern, sagt Professor Moll-Murata.

    O-TON 8 (Murata-Moll, 10.41) 
    Ich habe jetzt bei einem Besuch in Taiwan vor Kurzem gehört, dass sich einfach auch in Taiwan bemerkbar macht, dass viel mehr Unternehmen, die vorher auf dem Festland ansässig waren, eben versuchen, sich herauszuziehen und dann in Südostasien oder in Indien ihre Produktionsstätten neu aufzubauen - wegen der Unsicherheit, die der Produktion in China und auch natürlich aus geopolitischen Gründen. Ja, und aus Gründen, dass der Standort China für taiwanische Unternehmen eben mehr und mehr gefährlich zu sein scheint.

    MUSIK

    SPRECHER
    Nicht nur wirtschaftlich, auch gesellschaftlich findet ein Umdenken statt: Auch wenn die Amtssprache Mandarin, also Chinesisch ist – es werden zudem unter anderem Taiwanisch und Hakka gesprochen -, sieht sich die Mehrheit der vor allem jüngeren Menschen in Taiwan inzwischen als Taiwanerinnen und Taiwaner und nicht als Chinesinnen und Chinesen. Christine Moll-Murata:

    O-TON 9 (Moll-Murata, 19.47)
    Die taiwanische Identität, also dieses Identitätsbewusstsein Taiwaner zu sein und nicht Chinese, das hat in den vergangenen Jahren immer stärker zugenommen. Das ist ganz klar. Das heißt aber übrigens nicht, dass nicht die Bevölkerung auch bei Wahlen durchaus zum Ausdruck bringen kann, dass sie an einer größeren Annäherung oder an einer Entspannung gegenüber China großes Interesse hat.

    SPRECHER
    Dass viele Menschen in Taiwan zumindest den Status quo beibehalten möchten, liegt sicher auch am politischen System. Taiwan gilt als eine der stabilsten Demokratien Asiens mit freien Wahlen, einem funktionierenden Rechtssystem, Meinungs- und Pressefreiheit sowie einer liberalen Gesellschaft. So legalisierte der Inselstaat 2019 zum Beispiel als erstes asiatisches Land die gleichgeschlechtliche Ehe. Auf diese Errungenschaften legen die Menschen großen Wert. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass es gegen die Verfassung verstoße, wenn nur Männer und Frauen heiraten können. Laut dem Demokratieindex – zusammenstellt von der Universität Göteborg -  gehört Taiwan weltweit zu den Top-20-Demokratien und liegt damit unter anderem vor Slowenien und Österreich. Anna Marti:

    O-TON 10 (Marti, 11.38)
    Was man aber nicht vergessen darf, ist natürlich, dass Taiwan auch immer noch eine relativ junge Demokratie ist. Das heißt auf der positiven Seite, dass es den Menschen noch oft noch sehr bewusst ist, wie es vorher war und dass sie deswegen auch sehr, sehr viel Wert darauflegen.

    Musik

    TC 17:28 – Der Weiße Terror

    SPRECHER
    Denn Taiwan war nicht von Anfang an eine Demokratie. In dem früheren Einparteiensystem herrschte jahrzehntelang Kriegsrecht und der sogenannte Weiße Terror – begrifflich eine Abgrenzung zum roten Kommunismus. Es gab unter der Herrschaft der nationalchinesischen Kuomintang willkürliche Verhaftungen. Oppositionelle wurden unterdrückt, vermeintliche Kommunisten und Spione verschwanden und wurden getötet. Anna Marti:

    O-TON 11 (Marti, 9.57)
    Es gab politische Gefängnisse. Es war kein Rechtsstaat, und es war ein sehr, sehr repressives System. Und dieser weiße Terror, dieses Kriegsrecht, das galt in Taiwan sehr, sehr lange. Erst 1987 wurde das beendet, und dann setzte langsam eine Demokratisierung ein, die auch von den Menschen getragen wurde und die vor allem von unten kam und die ersten wirklich freien Wahlen, die fanden (19)96 auch erst statt, das heißt es weiter Weg. Und lange Zeit war der schöne Name Republik eben nur das, ein schöner Name und aber nicht wirklich mit Leben gefüllt.

    Musik

    SPRECHER
    Offiziellen Quellen zufolge wurden 1.061 Menschen zum Tode verurteilt und bis zu 20.000 Menschen inhaftiert. Die Aufarbeitung dieser Zeit der Gewalt und Willkür ist ein langwieriger Prozess. Zwar wurden zum Beispiel ein ehemaliges Foltergefängnis und die Gefängnisinsel Lüdao zu Gedenkstätten umgewandelt, Literatur und Kunst setzen sich intensiv mit dem Thema auseinander, und die Opfer des Weißen Terrors wurden entschädigt, die Täter aber wurden nicht juristisch zur Verantwortung gezogen. Erst 1996 wurde der erste direkte Präsident der Insel gewählt: Lee Teng-hui. Der ehemalige Bürgermeister von Taipeh war der erste Präsident, der auch auf der Insel geboren war. In den Nachrichten vom März 1996 hieß es:

    Einspielung 3 (Taiwan hat gewählt, 00.01)  
    Während also Präsident Lee feierte und sich feiern ließ, ist für die Führer in Peking, die Taiwan als abtrünnige Provinz betrachten, ein Alptraum wahr geworden. Lee Teng-hui, dessen Wunsch nach mehr internationaler Anerkennung Taiwans die Krise zwischen den beiden Chinas ausgelöst hat, hat 54 Prozent der Stimmen erhalten….  
    Musik

    TC 19:46 – Ein Leben mit militärischer Spannung

    SPRECHER
    Der Konflikt um Taiwan ist ein Dauerthema – nicht nur international, sondern auch auf der Insel selbst. Denn es kommt immer wieder zu militärischen Machtdemonstrationen, scharfen Reden und Versuchen der chinesischen Einflussnahme, sagt die Ostasienwissenschaften Moll-Murata:

    O-TON 12 (Moll-Murata, 18.26)
    Wobei man sagen muss, dass natürlich China auf verschiedene Weise, nicht nur mit militärischen Drohgehabe versucht, Taiwan zu beeinflussen, sondern auch massiv mit Presse, mit den Medien und mit den sozialen Medien auch.

    SPRECHER
    Trotz der Spannungen und militärischen Konfrontationen sei im Alltag aber keine ständige Nervosität zu spüren, sagt Marti, die in Taipeh lebt.

    O-TON 13 (Marti, 21.37)
    Ich vergleiche es immer ein bisschen, wie wenn man in einen Raum kommt, wo es nicht gut riecht. Wenn man die Tür aufmacht und reinkommt, dann merkt man das - und je länger man in dem Raum ist, desto weniger merkt man das. Irgendwann hat sich die Nase dran gewöhnt und man riecht es nicht mehr. Und das ist so der Eindruck, den ich öfters hier in Taiwan habe. Dass die Menschen diese Gefahr kennen, es war schon immer so, und es gab immer mal Auf und Ab. Und dass man da, wie so ein bisschen abstumpft. Denn man hat ja eigentlich nur zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. Man kann entweder sich in frenetischen Vorbereitungen stürzen oder ganz extrem in andauernde Panik verfallen. Oder man kann es so ein bisschen ignorieren und für die allgemeine Gesundheit ist, glaube ich, das Ignorieren und sich einfach damit Arrangieren besser.

    MUSIK

    SPRECHER
    Nichtsdestotrotz nimmt in dem jungen demokratischen Land die Diskussion über Politik, das Verhältnis zu China und die Zukunft des Landes einen großen Raum ein. Auch die junge Bevölkerung hat ein großes Interesse an Politik, sagt Christine Moll-Murata:

    O-TON 14 (Moll-Murata, 28.22)
    Ich habe viele Definitionen gehört von Taiwan… die einen sagen, wir sind ein Staat ohne Selbstbewusstsein. Die anderen sagen, wir sind ein ganz besonderer Staat. Manche beharren darauf, dass sie sich auf dem Weg zur Nationenbildung finden.

    MUSIK hoch

    SPRECHER
    Taiwan war, ist und bleibt wohl auf absehbare Zeit ein Land im Konflikt der Mächte. Das demokratische Land steht zwischen der mächtigen kommunistischen Volksrepublik China und den USA, für die die Insel geopolitisch, aber auch wirtschaftlich von großer Bedeutung ist. In den vergangenen Jahren nahmen die Spannungen um die Insel eher zu – es bleibt ein Balanceakt. 

    MUSIK

    TC 22:10 – Outro

    22 March 2024, 10:10 am
  • 23 minutes 7 seconds
    GEFÄHRLICHE NACHBARN - Wie Bangladesch entstand

    Bangladesch - ein Staat, der aus Massakern hervorging. Die Region war zunächst der östliche Teil Pakistans, im fruchtbaren Mündungsdelta der Flüsse Ganges und Brahmaputra gelegen. Im Verlauf der Unabhängigkeitsbewegung vom westlichen Pakistan kam es 1971 zu schweren Gewalttaten und einem Krieg, an dem schließlich auch Indien beteiligt war. Mehrere Millionen Menschen mussten flüchteten. Von Bettina Weiz (BR 2021)

    Credits
    Autorin: Bettina Weiz
    Regie: Christiane Klenz
    Es sprachen: Xenia Tiling, Carsten Fabian
    Technik: Monika Gsaenger
    Redaktion: Thomas Morawetz
    Im Interview: Prof. Dr. Micheal Mann  

    Linktipps:

    SWR (2022): George Harrsion – „The Concert for Bangladesh“

    George Harrisons Konzert und Album "The Concert for Bangladesh" ist quasi die Mutter aller Charity- und Benefizkonzerte. Am 1. August 1971 spielte das ehemalige Mitglied der Beatles zwei Konzerte im ausverkauften Madison Square Garden in New York. Fast 250.000 US-Dollar Spendengelder kamen an diesem Tag zusammen um dem von Krieg, Vertreibung, Völkermord und Naturkatastrophen gebeutelten Bangladesh zu helfen. Aber das war erst der Anfang. JETZT ANHÖREN

    BR (2024): Die verzweifelte Lage der Rohingya 

    In der Nähe von Coxs Bazar im Süden von Bangladesh liegt das wohl größte Flüchtlingslager der Welt. Etwa eine Million Rohingya lebt hier, etwa die Hälfte davon Kinder. Verfolgt von der Militärjunta flüchtete die muslimische Minderheit aus ihrer Heimat Myanmar. Doch auch in Bangladesch haben sie keine Zukunft. Zum Podcast geht es HIER.

    hr (2024): Booming Bangladesh

    Menschen aus der Kulturszene von Bangladesh erzählen: Modeschöpferin Bibi Russell über ihre Liebe zur Altstadt der Hauptstadt Dhaka, der Fotograf und Aktivist Shahidul Alam wie auch das Kollektiv "Britto Arts Trust" über Kunstfreiheit, die Kunst-Mäzenin Nadia Samdani bringt auf ihrem "Art Summit" die internationale Kunstszene und führende Künstler/innen aus Bangladesh miteinander in Kontakt. JETZT ANSEHEN



    Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

    Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

    DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

    Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

    Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

    Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
    ARD Audiothek | Alles Geschichte
    JETZT ENTDECKEN

    Timecodes (TC) zu dieser Folge:

    TC 00:15 – Intro
    TC 01:44 – Das Bengalen Land
    TC 06:38 –  Die Rolle von Pakistans Teilung in Ost und West 
    TC 12:17 – Die Mutter aller Benefizkonzerte
    TC 16:28 – Das Politikum des zweiwöchigen Krieg
    TC 22:28 - Outro

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    TC 00:15 - Intro

    ATMO/MUSIK 1

    ERZÄHLERIN
    New York, Sommer 1971. Ex-Beatle George Harrison tritt auf die Bühne des Madison Square Garden.

    ATMO (Beifall /George Harrison)
    „Thank you, thank you“.
    Darauf weiter:

    ERZÄHLERIN
    40.000 Menschen sind zu den zwei Konzerten des Tages gekommen. Es ist Harrisons erster großer Auftritt nach der Trennung der Beatles, und manch ein Fan hofft, dass die Kultband vielleicht doch wieder zusammenfindet. Außerdem stehen an diesem Tag Topstars auf dem Programm, von Eric Clapton bis Bob Dylan. Aber zuerst macht Harrison die Bühne frei für eine Gruppe von Indern mit traditionellen Trommeln und Langhalslauten.

    ATMO /Musik 1 (George Harrison: „So let me introduce on Sitar Ravi Shankar“ Jubel)

    ERZÄHLERIN
    Der Sitar-Spieler Ravi Shankar sagt, an diesem historischen Tag hätten sie nicht nur ein Musikprogramm. Sie hätten auch eine Botschaft.

    ATMO/ MUSIK 1 (Ravi Shankar: „And this is to just make you aware of a very serious situation that is happening....)

    Darauf Overvoice-Sprecher: Und zwar sollt Ihr auf etwas sehr Schlimmes aufmerksam gemacht werden, das gerade passiert. Wir versuchen nicht, Politik zu machen. Wir sind Künstler. Aber wir möchten, dass Ihr durch unsere Musik die Qualen, den Schmerz und die vielen traurigen Geschehnisse in Bangladesch mitfühlt. Und mit den Flüchtlingen, die nach Indien gekommen sind.

    (... the pain and lots of sad happenings in Bangladesh. And also the refugees who have come to India.“ Beifall)

    Musik

    TC 01:44 – Das Bengalen Land

    ERZÄHLERIN
    Bangladesch: das war damals neu – als Wort und auch als Staat. Der war zum Zeitpunkt des Konzertes gerade erst im Entstehen. Die heftigen Auseinandersetzungen darum führten zum dritten pakistanisch-indischen Krieg. Er dauerte nur knapp zwei Wochen – vom dritten bis zum 16. Dezember 1971. Damit ist er als einer der kürzesten Kriege in die Weltgeschichte eingegangen. Aber trotzdem haben er und vorangegangene innerpakistanische Auseinandersetzungen gewaltiges Leid verursacht. Die Rede ist von bis zu drei Millionen Toten und über 50 Millionen Flüchtlingen. Und das hatte eine lange Vorgeschichte.

    MUSIK 2 überblendet in ATMO (Wasser-fließt in der Ebene)

    ERZÄHLERIN
    Es geht um Bengalen. Bangladesch heißt wörtlich „Bengalen-Land“. Gemeint ist ein Gebiet der Superlative. Hier kommt das Wasser vom höchsten Gebirge der Welt zusammen. Ganges, Brahmaputra und Meghna bilden das größte Flussdelta auf dem Globus. Es ist Schwemmland, eine der fruchtbarsten Gegenden der Welt. Für die Bauern ist bis zu dreimal im Jahr Ernte, so der Südasien-Historiker Michael Mann von der Berliner Humboldt-Universtität.

    1. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    Der Reisanbau wird dort seit Jahrtausenden kultiviert, Vermutungen gehen auch dahin, dass Reis unter anderem in Bengalen zunächst mal durch Menschen kultiviert worden ist, das heißt dass wir tatsächlich auch mit eine der ältesten Regionen in der Welt haben, die besiedelt wurde,

    MUSIK 3

    ERZÄHLERIN
    Das heutige Bangladesch ist der am dichtesten besiedelte Flächenstaat der Welt. Vor tausend Jahren regierten Buddhisten das Land. Vor 800 kam es unter muslimische Herrschaft. Im 18. Jahrhundert siedelten sich Briten an. Sie kamen als Händler und schwangen sich zu Herrschern auf. 1876 krönten sie die Queen of England zur Kaiserin von Indien. Der Regierungssitz von Britisch-Indien lag in Bengalen: Kalkutta. Eine Stadt von imperialer Größe, voller Paläste und Kultur. Die war eine Gemeinschaftsleistung von Menschen unterschiedlichen Glaubens. Das zeigt das Beispiel des Sitar-Spielers Ravi Shankar.

    ATMO / MUSIK 4

    ERZÄHLERIN
    Seine Familie stammte aus Bengalen. Sie war Hindu. Ravi Shankars Lehrer indes war Muslim. Und er war nicht bloß sein Lehrer. Ravi Shankar lebte auch jahrelang in seinem Haushalt mit. Er heiratete dessen Tochter und trat oft gemeinsam mit dessen Sohn auf, unter anderem beim „Konzert für Bangladesch“ in New York.

    MUSIK 5

    ERZÄHLERIN
    Gerade die Gebildeten und die Reichen in Bengalen begannen Ende des 19. Jahrhunderts laut darüber nachzudenken, wie es wäre, Indien zu regieren. Selbst. Ohne Briten. In der aufkeimenden Unabhängigkeitsbewegung spielten Bengalen starke Rollen. Da teilten die britischen Herrscher 1905 Bengalen auf: in einen mehrheitlich muslimischen Ostteil und einen hauptsächlich hinduistischen Westteil. Nach scharfem Protest hoben sie die Teilung wieder auf. 1911 wurde ihnen Bengalen endgültig zu mächtig. Sie verlegten ihren Regierungssitz von Kalkutta nach Delhi.

    ERZÄHLERIN
    Doch die Unabhängigkeitsbewegung ging weiter – mit Erfolg. 1947 gab der letzte britische Vizekönig von Indien die Gesetzgebungsmacht auf dem Subkontinent ab. In derselben Augustnacht entstanden in der Nachfolge Indien und Pakistan. Indien gab sich eine säkulare Verfassung. Pakistan nannte sich später als erster Staat der Welt „islamische Republik“. Gandhi, der Mahatma und Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, hatte sich beinahe zu Tode gehungert, um eine solche Teilung zu verhindern. Am Ende der Kolonialzeit aber waren die Religionen so politisiert, dass die Teilung unabwendbar war. In der Folge machten sich rund 12 Millionen Menschen auf den Weg, so der Südasienhistoriker Michael Mann: Muslime von Indien nach Pakistan und Hindus von Pakistan nach Indien.

    2. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    Also ein tatsächlicher Austausch der Bevölkerung, wobei schätzungsweise 1 Mio Menschen umgekommen sind

    ERZÄHLERIN
    Bis heute wirken die Traumata von damals nach. Sie belasten das Verhältnis von Indien und Pakistan, ebenso wie die Frage, zu wem Kaschmir gehört. Das ehemalige Königreich, fast so groß wie die alte Bundesrepublik, wird von Indien beansprucht und von Pakistan ebenfalls, zum Teil auch von China. Mehrfach gab es Kriege um Kaschmir, und die Spannungen halten an.

    Musik

    TC 06:38 –  Die Rolle von Pakistans Teilung in Ost und West 

    ERZÄHLERIN
    Der indisch-pakistanische Krieg von 1971 allerdings drehte sich nicht um Kaschmir. Er begann als Konflikt innerhalb Pakistans. Das bestand seit seiner Gründung 1947 aus zwei getrennten Landesteilen, die weit über 1000 Kilometer voneinander entfernt waren: Westpakistan längs des Flusses Indus, angrenzend an Afghanistan und den Iran; und Ostpakistan im Ganges-Brahmaputradelta mit einer Grenze zum heutigen Myanmar. Bengalen war damit wiederum geteilt, denn Westbengalen, also das westliche Gangesdelta, gehört zu Indien. Wer von West-Pakistan nach Ost-Pakistan reisen wollte, brauchte auf dem Landweg tagelang und musste durch das verfeindete Indien. Westpakistan war vielerorts gebirgig und trocken, Ostpakistan dagegen flach, üppig grün, und Wasser ist das prägende Element. Westpakistan hatte mehr Fläche, Ostpakistan mehr Einwohner. Zwar waren beide Landesteile muslimisch, aber mit anderen Ritualen, anderen Heiligen, anderen Traditionen. Ost- und Westpakistan hatten unterschiedliche Sprachen und Kulturen und eine sehr andere Geschichte, so der Historiker Michael Mann von der Humboldt-Universität Berlin.

    3. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    Westpakistan ist quasi die Militärbastion britisch-Indiens gewesen, mit dem Punjab, wie das auch heute noch ist, der Punjab ist sehr stark also von Militärsiedlungen durchsetzt, wo auch viele Kasernenbauten waren, wo auch viel Militär stationiert war, das hatte damit zu tun, dass man im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ja immer noch vom sogenannten "Great Game" sprach, also diesem großen Spiel, was um die Einfluss-Zone in Zentralasien ging. Also im Prinzip das Vorspiel dessen, was wir heute gerade erleben um Afghanistan, um Grenzregionen zu Usbekistan, die Auseinandersetzung mit dem damaligen kaiserlichen Russland.

    ERZÄHLERIN
    Um aus den beiden so unterschiedlichen Landesteilen einen Staat zu schweißen, wollte der Staatsgründer Mohammed Ali Jinnah• in West- wie in Ostpakistan dieselbe Sprache einführen: Urdu.

    4. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    Urdu ist ursprünglich eine städtische Sprache, die in ganz Nordindien gesprochen wurde und mit dem Hindi sehr stark verwandt ist, wird aber in persisch-arabischen Schriftzeichen geschrieben, so dass man historisch gesehen, im 19. und 20. Jahrhundert, so die Idee entwickelte, dass Urdu auch die Sprache der Muslime ist. Was im 19. Jahrhundert noch gar nicht der Fall war, aber eben im Zuge der Nationalisierung und der Frage der Unabhängigkeit dann zu einem Politikum wurde. Und das muss man sehen vor dem Hintergrund, dass nicht mal 2% der Bevölkerung in West- und Ostpakistan Urdu sprachen. Nicht mal in Westpakistan.

    MUSIK 7

    ERZÄHLERIN
    In Westpakistan wurde eine Vielfalt anderer Sprachen gesprochen, in Bengalen dagegen einheitlich Bengali, die Sprache, die gerade erst ihre Renaissance erlebt hatte. Da stieß die Einführung von Urdu auf scharfe Gegenwehr. Außerdem hatte Ostpakistan den Großteil der Einwohner und erwirtschaftete das Geld. Das Sagen aber hatte Westpakistan, wo auch die Hauptstadt lag, Islamabad.

    5. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    Im bengalischen Bereich, also in Ostpakistan, hat das dazu geführt, dass man sich doch in einer Reihe von kolonialen Herrschaftsverhältnissen gesehen hat. Also zuerst mal seit 1565 durch die Moguln beherrscht, dann seit 1765 von den Briten und eben seit 1947 dann durch Pakistan. Das ist dann übrigens auch zu einer dieser Gründungserzählungen oder nationalen Narrativen geworden, dass man von drei Mächten kolonial beherrscht wurde und eben auch kolonial ausgebeutet wurde. Es ist wenig Geld von Westpakistan nach Ostpakistan geflossen, also auch die Infrastruktur wurde dort nicht aufgebaut, es wurde auch kein Militär dort stationiert, sondern es wurde tatsächlich als der Hinterhof betrachtet, der seine Agrargüter zur Verfügung zu stellen hatte.

    MUSIK 8

    ERZÄHLERIN:
    Kein Militär – keine Mitsprache. Das Militär war nämlich entscheidend im neugegründeten Pakistan, erklärt der Historiker Michael Mann. 1970 gab es zum ersten Mal freie, allgemeine Wahlen. Klar gesiegt hat die Partei des bengalischen Politikers Mujibur Rahman•. Sie bekam fast alle Stimmen in Ostpakistan, und das bedeutete die Mehrheit im Parlament für ganz Pakistan. Doch der westpakistanische General Yahya Khan•, der in Islamabad die Macht hatte, zögerte die Regierungsübergabe hinaus. Unterdessen wurde Militär aus Westpakistan nach Ostpakistan geflogen. Die Lage spitzte sich zu, als ein tropischer Wirbelsturm Bengalen verwüstete.

    6. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    In Ostpakistan kommt noch dazu, dass wir dort eine große Naturkatastrophe hatten mit mehreren 100.000 Opfern, und auch hier kam zu wenig und zu spät Hilfe von Seiten Westpakistans, so dass man auch hier den Eindruck bekam, man ist eigentlich doch eher der koloniale Annex, so wie es unter den Briten war, und das hat insgesamt die Stimmung im Land - gerade nach dem Wahlbetrug dann auch - so aufgeheizt, dass schnell also auch der Ruf nach Unabhängigkeit dann klar wurde.

    Musik 9

    TC 12:17 – Die Mutter aller Benefizkonzerte

    ERZÄHLERIN
    Anfang März 1971 hätte die pakistanische Nationalversammlung in ihrer neuen Besetzung, also mit bengalischer Mehrheit, tagen sollen. Doch die Militärregierung ließ sie nicht zusammenkommen. Da rief Mujibur Rahman, der Parteichef der siegreichen Bengalen, zu Streik und zivilem Ungehorsam auf. Die Folge: Gewalt und Tod.

    ERZÄHLERIN
    Am 25. März 1971 richteten das Militär und Bürger, die zu ihm hielten, ein Massaker in Dhaka an, der Hauptstadt des damaligen Ostpakistan. Unter den Toten waren viele Studenten, Kinder, Leute wie Du und ich. Zivilisten eben. Die Berichte aus diesen Tagen sind unerträglich grauenvoll. Der Wahlsieger Mujibur Rahman wurde verhaftet und nach Westpakistan ausgeflogen. Die meisten führenden Mitglieder seiner Partei flohen. Sie richteten in Kalkutta im indischen Teil Bengalens eine Exilregierung ein. Dort erklärten sie Ost-Pakistan für unabhängig von West-Pakistan und gaben dem neuen Staat den Namen „Bangladesch“.

    MUSIK 10

    ERZÄHLERIN
    In den folgenden Monaten führte die Regierung West-Pakistans Krieg gegen den abtrünnigen Landesteil. Dabei wurde sie von einem Teil der bengalischen Bevölkerung unterstützt, was bis heute tiefe Gräben in der Gesellschaft hinterlassen hat.

    7. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    Wozu es tatsächlich kam, war es, dass man Terror ins Land brachte. Und dazu wurden gezielt eben die Truppen ausgeschickt, Massaker unter der Bevölkerung anzurichten. Und das geschah, dass manchmal ganze Dörfer massakriert wurden, dass Frauen vergewaltigt wurden, dass sie zum Teil bei lebendigem Leib verbrannt wurden.

    MUSIK 11 (singt) „My friend came to me /with sadness in his eyes /he told me that he wanted help...“

    Darauf OVERVOICE-SPRECHER
    Mein Freund kam zu mir mit Traurigkeit in den Augen. Er sagte mir, er wolle Hilfe, bevor sein Land stürbe. Obwohl ich den Schmerz nicht fühlte, wusste ich, dass ich es versuchen musste. Jetzt bitte ich Euch alle, helft uns einige Leben zu retten!

    MUSIK 11 kurz hoch: ...now I am asking all of you /to help us save some lives...

    ERZÄHLERIN
    Das Konzert, das der Ex-Beatle George Harrison im August 1971 in New York organisierte, gilt als das erste Allstar-Benefiz-Konzert überhaupt. Harrison sang auch selbst.

    MUSIK 11: George Harrison (singt) „Bangladesh, Bangladesh /where so many people are dying fast /and it sure looks like a mess...

    ERZÄHLERIN
    Im Ergebnis spendete Harrison zunächst ein paar Hunderttausend Dollar aus dem Verkauf der Eintrittskarten an das Kinderhilfswerk UNICEF für Bangladesh.

    Musik: George Harrison (singt) „We’ve got to relieve Bangladesh /relieve the people of Bangladesh...“

    OVERVOICE-SPRECHER
    Wir müssen es den Menschen von Bangladesch leichter machen!

    ERZÄHLERIN
    Vor allem aber machte das Konzert mit einem Schlag das Wort „Bangladesch“ in der westlichen Welt bekannt.
    Doch die hielt sich politisch zurück. Deutschland betrachtete den Konflikt als innere Angelegenheit Pakistans. Es beschränkte sich darauf, Hilfsgelder für Flüchtlinge zu geben. Die USA sympathisierten mit Pakistan. Unterstützung erhielten die neu entstandenen Guerillagruppen, die für ein unabhängiges Bangladesch kämpften, vom Nachbarstaat Indien. Zum einen aus geostrategischem Kalkül, so der Südasien-Historiker Michael Mann. Mit einem unabhängigen Bangladesch würde es bei künftigen militärischen Auseinandersetzungen mit Pakistan keinen zwei-Fronten-Krieg geben. Außerdem wollte die Regierung von Indira Gandhi den Zustrom von Flüchtlingen stoppen. Viele von ihnen waren ins indische Kalkutta gekommen.

    8. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    Die Konsequenzen aus dem Bangladesch-Krieg, die haben wirklich nochmal dafür gesorgt, dass Kalkutta eben nicht mehr die Stadt der Intellektuellen, der Literaten war, sondern Kalkutta hat dann erst den Ruf bekommen, eine Stadt des Elends zu sein. Wo z.B. so ne Figur wie Mutter Teresa überhaupt erst aktiv werden konnte. Die wiederum zu dem Bild von Kalkutta als einer Stadt des Elends und der Krankheit beigetragen hat.

    TC 16:28 – Das Politikum des zweiwöchigen Krieg

    ERZÄHLERIN
    Im Winter 1971 war die Lage Bangladeschs immer noch aussichtslos. Da griff die indische Armee offen in den Konflikt ein. Am 3. Dezember marschierte sie in Ost- und Westpakistan ein. Am 14. Dezember kamen Berichte aus Bangladeschs Hauptstadt Dhaka von gezielten Massakern der pakistanischen Armee und ihrer Kollaborateure an gut ausgebildeten Bangladeschern. Das sollte es offenbar schwerer machen, den neuen Staat aufzubauen. Am 16. Dezember kapitulierte die pakistanische Armee. Damit konnte das unabhängige Bangladesch Wirklichkeit werden. Mujibur Rahman wurde aus dem Gefängnis entlassen und bekam in Dhaka den Empfang eines Helden. Er wurde zum ersten Premierminister des neuen Staates.

    MUSIK 12

    ERZÄHLERIN
    Pakistan ist seither nur noch das ehemalige West-Pakistan, das Land zwischen Indien im Osten und Afghanistan und dem Iran im Westen. So heftig die Gewalt gegenüber dem abtrünnigen Landesteil 1971 war, so wenig sei der Krieg von damals heute Thema, sagt der Südasien-Historiker Michael Mann.

    9. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    In Westpakistan spielt das gar keine Rolle mehr, da ist es völlig ausgeblendet worden, also da - ist noch nicht mal der Verlust eines Landesteiles wird da irgendwie in der Geschichte thematisiert,

    ERZÄHLERIN
    Auch in Bangladesch sei der Krieg lange kaum Thema gewesen. Im neuen Jahrtausend dann wurde dort für ihn der Begriff „Genozid“ gebräuchlich. Der war ursprünglich für die industrielle Vernichtung von Jüdinnen und Juden im Holocaust verwendet worden. Er findet aber zunehmend auch anderswo Verwendung, und nun auch in Bangladesch.

    10. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    Ein Diskurs im Sinne von einer Diskussion oder einer Auseinandersetzung gibt es gar nicht. Es gibt eigentlich eher das Konstatieren von "es ist ein Genozid", und der Genozid ist von pakistanischen Militär gegenüber der bengalischen Bevölkerung in Ostpakistan, in Bangladesch, durchgeführt worden. /// Das ist die Selbstvergewisserung, und das ist quasi ein Teil des Gründungsmythos, der für sich selbst in Anspruch genommen wird, // um die schiere Unfassbarkeit eben dieser reihenweisen Massaker auf einen Nenner zu bringen

    MUSIK 13

    ERZÄHLERIN
    Vier Jahrzehnte nach dem Krieg wurden zwei Gerichte gebildet, um die Verbrecher zu bestrafen. Doch eines stellte nach drei Jahren die Arbeit ein, und rasch wurden Vorwürfe laut, es mangele an Unabhängigkeit und Standards. Der Krieg ist zu einem Politikum geworden.

    11. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    Was zur 50jährigen Wiederkehr des Befreiungskrieges passiert ist, ist eine quasi-Monumentalisierung. Also man hat ein völlig überdimensioniertes, nach unserem Verständnis überdimensioniertes Museum zur Erinnerung an den Befreiungskrieg gebaut, wo also Hubschrauber und andere Gerätschaften, Großgeräte ausgestellt werden, mit einer sehr schönen modernen Architektur auch, man hat andere Denkmäler gebaut, die auch diesen Befreiungskrieg in monumentaler Art und Weise erinnern, es führt aber auch dazu, dass Kritik an Mujibur Rahman nicht geäußert werden darf, das ist politisch völlig unopportun und kann also auch zu Schwierigkeiten führen

    MUSIK 14

    ERZÄHLERIN
    Das Museum zur Erinnerung an den Befreiungskrieg in Dhaka gibt die Zahl der Toten in den Auseinandersetzungen von West- mit Ostpakistan und im Krieg von Pakistan und Indien mit rund drei Millionen an. 10 Millionen Menschen, vor allem Hindus, seien nach Indien geflüchtet, 45 Millionen innerhalb Bangladeschs vertrieben worden. Fast 280.000 Frauen und Mädchen wurden demnach vergewaltigt. Doch im einzelnen verzeichnen konnte die Opfer niemand, und es gebe unterschiedliche Zahlen, sagt Michael Mann von der Humboldt-Universität zu Berlin.

    12. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    Die Forschung zu diesem Unabhängigkeitskrieg und vor allem auch welche Rolle Mujibur Rahman vorher, hinterher gespielt hat, ist für Bangladeschis sehr schwierig. Das habe ich also auch selber an der Universität erfahren, als eine Doktorandin mir im Prinzip mitteilen musste, dass das, was sie eigentlich als Thema vorhat, nämlich sich mit dem Unabhängigkeitskrieg zu beschäftigen, nicht in dieser Form umsetzen kann und dass auch ihre Eltern ihr abgeraten hätten, Interviews durchzuführen dann auf dem Land.

    ERZÄHLERIN
    Es würde bedeuten, dass viele Frauen und Männer, die diese Massaker überlebt haben, sich der schmerzlichen Erinnerung an verdrängtes Leid stellen müssten – und die Täter verheimlichter Schuld.

    13. ZUSPIELUNG (Michael Mann)
    Was man weiß ist, wie die militärischen Aktionen abgelaufen sind, wann wo welche Flugzeuge eingeflogen wurden, also da gibt es auch nicht viel Weiteres zu erforschen. Das eigentliche - das soziale Elend, das familiäre Elend, das menschliche Elend, das ist bei weitem noch nicht in dem Maße erforscht, wie es sein sollte.

    MUSIK 11

    ERZÄHLERIN
    Für den Musiker George Harrison ist in Dhaka ein Denkmal aufgestellt worden. Ein Jahrzehnt nach dem Konzert für Bangladesch hatte er weitere 10 Millionen Dollar aus dessen Erlösen an das Kinderhilfswerk UNICEF gespendet. So lange hatte es gedauert, bis Rechtsstreitigkeiten um das Konzertalbum beigelegt waren. Das Geld wurde Grundstock für eine Stiftung, die bis heute Kinder in Bangladesch unterstützt. In dem Staat, der nach dem Krieg 1971 in Südasien entstanden ist, sind Millionen von ihnen auch jetzt in Not.

    Musik 15

    TC 22:28 - Outro

    22 March 2024, 10:05 am
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