Wir beleuchten die Zusammenhänge zwischen gestern und heute und erzählen einfach gute Geschichten. Ein History-Podcast von radioWissen.
Vor rund 4500 Jahren scheint sich in Europa eine Religion zu entwickeln: Die Steinzeitleute begannen, ihre Toten anders zu bestatten und ihnen glockenförmige Keramikbecher ins Grab legten. Wer waren diese Leute, die man als Glockenbecherkultur zusammenfasst? Von Matthias Hennies (BR 2024) Hier der Link zur Umfrage für die ARD Audiothek: https://1.ard.de/umfrage-alles-geschichte- Für alle anderen Podcast-Plattformen: Bitte nutzt den Link in den Shownotes.
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Credits
Autor: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Constanze Fennel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Elisabeth Reuter, Prof. Philipp Stockhammer, Dr. Wolfgang Haak, Dr. Guido Brandt, Prof. Harald Meller
Linktipps:
Deutschlandfunk (2023): Trauer der Frühmenschen – Kein Totenbett aus Blüten
Nur Menschen begraben ihre Toten, doch wann haben sie damit angefangen? Anfangs wollten die Steinzeitmenschen vielleicht Aasjäger fernhalten, später den Weg ins Jenseits bereiten. JETZT ANHÖREN
SWR (2024): Migration in der Steinzeit – Warum wir fast alle anatolische Wurzeln haben
Egal, für wie "deutsch" wir uns halten; im Erbgut der meisten Europäer stecken Spuren von drei frühen Einwanderungswellen - aus Afrika, aus Anatolien und aus der russisch-ukrainischen Steppe. Diesen Migranten verdanken wir Landwirtschaft und Viehhaltung - und die indoeuropäische Sprache. JETZT ANHÖREN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO (Werkstatt)
Sprecher
Elisabeth Reuter, Töpferin, sitzt in ihrer Werkstatt an einem alten Tisch und knetet eine Rolle Ton. Trennt ein Stück ab und formt ein Gefäß.
1. O-Ton Reuter 13:20
(Geräusche) Ich drehe es auf der Unterlage immer und bearbeite es auf der einen Seite mit den Daumen und auf der anderen Seite mit den restlichen Fingern, also mit beiden Händen gleichzeitig -
Sprecher
Sie töpfert einen Becher, der in der Jungsteinzeit, im 3. Jahrtausend vor Christus, in ganz Europa verbreitet war. Damals kannten die Menschen die Töpferscheibe noch nicht, auf der sich Tongeschirr viel schneller produzieren lässt. Die Töpferin aus Friedland in Hessen ist Spezialistin für Gefäße aus frühen Jahrtausenden. Im Handumdrehen formt sie ein rundes Schälchen, Basis für einen „Glockenbecher“, der mit jeder neuen Rolle Ton, die sie auf den Rand aufsetzt, größer wird.
2. O-Ton Reuter 17:45
Und damit das Gefäß breiter wird, setze ich das nicht in die Mitte, sondern eher zum Rand hin und drücke es auch noch nach außen. Wir brauchen die Glockenform.
MUSIK
Sprecher
Der „Glockenbecher“ ist ein gutes, gründlich erforschtes Beispiel für eine große Frage der Geschichtswissenschaften: Wie haben sich in der Vergangenheit neue Ideen verbreitet? In einer Epoche, als es noch keine Schrift gab, als die Menschen nicht in großen, gut organisierten Staaten, nicht in dicht bevölkerten Städten lebten: Haben Einwanderer in jenen Zeiten neues Gedankengut eingeführt? Oder verbreitete es sich von Mund zu Mund, durch Reisende oder Händler, als Ideen-Transfer?
ATMO (Schaben)
3. O-Ton Reuter 45:59
Ich bearbeite es noch mal nach, um es zu glätten und oben auseinanderzuziehen-
Sprecher
Das Gefäß erinnert an eine Glocke, die auf dem Kopf steht: Ein voluminöser Bauch, dann ein schmaler Hals, der sich wieder zu einer weiten Mündung öffnet. Es war mit regelmäßigen Linien und Mustern verziert. Die Töpferin demonstriert, wie man sie herstellt: Sie legt behutsam eine Schnur um das weiche, ungebrannte Gefäß.
4. O-Ton Reuter 53:08
Das sind so Kordeln, gedrehte, die kann ich in den Ton eindrücken, muss ich mit gutem Augenmaß arbeiten, ich habe jetzt eine Linie rund um mein Gefäß eingedrückt, das sieht man als leichte schräge Spuren in dieser Linie.
MUSIK
Sprecher
Linie wird unter Linie gesetzt, danach ist der Becher fertig zum Brennen. Etwa acht Stunden später kommt ein fein verziertes, stabiles Gefäß aus dem Feuer. Wozu mag man es im dritten Jahrtausend vor Christus verwendet haben?
4 ½. O-Ton Stockhammer 2’20 neu
Wir wüssten natürlich sehr gern, was es mit denen auf sich hat, gerade mit dieser einheitlichen Form: Es gibt Nahrungsrückstands-Analysen an einigen wenigen dieser Becher, in denen man „Mädesüß“ gefunden hat. Ein mir vorher auch unbekanntes Kraut, aus dem man eine alkoholische Substanz ziehen konnte, vielleicht war der Glockenbecher einfach ein spezifisches Gefäß zum Konsum alkoholischer Getränke, so wie wir in Bayern einen Maßkrug haben.
Sprecher
Für die Archäologie ist etwas Anderes wichtiger, stellt Philipp Stockhammer klar, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München: Dass Glockenbecher gegen Ende der Jungsteinzeit massenhaft als repräsentative Grabbeigaben dienten. Unzählige Exemplare haben sich bis heute erhalten, quer durch Europa, und die Gräber hatten – mit kleinen Abweichungen – immer dieselbe Ausstattung, immer dieselben Beigaben.
5. O-Ton Stockhammer 1‘37
In Mitteleuropa würde das Glockenbechergrab eine Körperbestattung sein, mit angezogenen Beinen, es ist eine so genannte Hockerbestattung, wobei alle Skelette Nord/Süd orientiert waren und die typischen Beigaben waren bei den Männern neben einem Keramikbecher oft ein Kupferdolch und eine so genannte Armschutzplatte, das ist etwas, was man am Arm trägt, damit die Sehne des Bogens, wenn man schießt, nicht den Unterarm verletzt.
MUSIK
Sprecher
Viel weiß man nicht über die Gemeinschaften, die diese Bestattungssitte praktizierten. Die Krieger kämpften offensichtlich mit Pfeil und Bogen, sie nutzten vermutlich schon Pferde als Reittiere. Lebensgrundlage war die Landwirtschaft, die Menschen bearbeiteten Äcker und züchteten Vieh. Siedlungen sind in Mitteleuropa bisher nur selten zu Tage gekommen. Die auf dem gesamten Kontinent verbreiteten, einheitlichen Gräber deuten aber auf ein weit gespanntes Kommunikationsnetzwerk hin, das Bevölkerungsgruppen über große Entfernungen verband. Zugleich lassen sie auf eine ziemlich egalitäre Sozialstruktur schließen, doch mancherorts gab es auch eine wohlhabendere Schicht.
5 ½. O-Ton Stockhammer 4:55 neu
Es gibt Gräber auch in Süddeutschland, mit Gold, mit Bernstein – und wir haben auch ein Grab in Süddeutschland, das mit spanischem Silber ausgestattet ist, also Objekte, die klar zeigen, ja, es gab Menschen, die in diesem Netzwerk offensichtlich eine herausragende Position innehatten und denen es möglich war, über dieses Netzwerk aus fremden Regionen Objekte und natürlich auch Wissen zu beziehen.
Sprecher
Entscheidend für die Entwicklung der „Glockenbecher-Kulturen“ war der Einfluss von Steppenhirten, die aus Osteuropa kamen.
6. O-Ton Stockhammer 6:01
Im frühen dritten Jahrtausend wanderten aus der heutigen Ukraine, kann man vielleicht sagen, Steppenhirten nach Mitteleuropa ein, ja, sie kamen bis nach Spanien und wir sehen genetisch bei diesen Einwanderern, dass es vor allem Männer waren. Es ist sehr spannend – wir sehen es am Y-Chromosom, das wird ja auf der männlichen Linie weitergegeben – dass sich das in ganz Europa ausbreitet und auch quasi durchsetzt. Wir wissen nicht, wie friedlich das abgelaufen ist, vor allem, weil zur selben Zeit die männlichen lokalen Linien alle enden.
MUSIK
Sprecher
Friedlich kann es wohl kaum abgegangen sein. Archäologische Belege dafür sind allerdings noch nicht zutage gekommen. Am Erbgut von Skeletten aus Glockenbecher-Gräbern lässt sich nur nachweisen, dass die Steppenhirten einheimische Frauen nahmen und sich mit der mitteleuropäischen Bauernbevölkerung vermischten.
MUSIK aus
7. O-Ton Stockhammer 7:22
Und aus dieser Vermischung ist eben nicht nur genetisch was passiert, sondern auch kulturell was passiert: Und dieses Glockenbecher-Phänomen ist quasi eine kulturelle Bewältigung dieser Einwanderer aus dem Osten.
Sprecher
Mit der Expansion der Männer aus der Steppe verbreiteten sich die Glockenbecher-Kulturen rasant, quasi parallel zum Weg der Einwanderer. Quer durch Europa, von Osten nach Westen zunehmend, gaben die neuen Gemeinschaften ihren Toten die unverwechselbaren Tongefäße mit ins Grab. Offen war bisher jedoch, ob allein die Migranten aus dem Osten die neue Sitte weitergetragen haben oder ob sie auch unabhängig von den Steppenhirten praktiziert wurde. Ein internationales Forscherteam hat nun Knochen und Zähne von 400 Menschen aus Glockenbecher-Gräbern auf Erbgut der Steppenhirten untersucht, in einer der bisher umfangreichsten Untersuchungen prähistorischer DNA. Archäologen aus ganz Europa holten dafür Skelettreste aus früheren Ausgrabungen aus den Magazinen.
8. O-Ton Haak 8:23
Wir sprechen von Proben aus Portugal, Spanien, Frankreich, den britischen Inseln, dann über Benelux und Mitteleuropa bis hin nach Tschechien, Italien und Ungarn hinein.
Sprecher
Das Projekt eröffnete neue Einblicke in die Veränderungen im Genom der Europäer und illustriert zugleich die großen Fortschritte der Genforschung, erläutert Dr. Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, der als Genetiker daran mitgearbeitet hat.
8 ½. O-Ton Haak
Ich komme ja noch aus einer Generation, wo man das ganz mühselig aus diesen alten Knochenfunden herausarbeiten musste, das waren ganz langwierige Prozesse, und man hat da mit großem Aufwand ganz wenig Informationen herausbekommen, also nur noch wenige Bruchstücke aus dem Genom, die man dann zusammengestückelt hat, und damals hat man noch alles allein gemacht, man hat alles von A-Z, der Probennahme bis letztlich zur Publikation machen können, das ist heute nicht mehr der Fall.
Sprecher
In den großen Projekten der Paläogenetik arbeiten jetzt Spezialisten in Dutzenden Labors von Harvard über Kopenhagen bis Jena zusammen. Das ist möglich – und oft auch nötig –, weil Millionen von Erbgut-Proben nun parallel, in Massen-Analysen, untersucht werden können.
9. O-Ton Haak 4:09
Da musste man auch sich auf den Hosenboden setzen, schön Hausaufgaben machen, das war ne steile Lernkurve für uns alle, das hat natürlich die gesamte Molekulargenetik betroffen, also nicht nur die alte DNA, sondern die Biologie insgesamt, und da ist es egal, was man sequenziert, ob das jetzt die Hefe ist oder der Löwe aus dem Zoo oder eben prähistorische Menschen, wir sind jetzt in der Lage, mit höchster Auflösung die Dinge anzugehen.
MUSIK & ATMO (Labor)
Sprecher
Ein Roboter fährt auf einer Laborbank des Jenaer Forschungsinstituts hin und her. Er pipettiert minimale Mengen Erbgut und Chemikalien in winzige Kanäle in einem blauen Kunststoffklotz. Damit beginnt das erste der drei entscheidenden neuen Verfahren: die „Library Preparation“, der Aufbau einer DNA-Bibliothek. Laborleiter Dr. Guido Brandt erläutert die Hintergründe.
10. O-Ton Brandt 3:38
Ich habe ein DNA-Fragment aus einer Probe und damit ich dieses DNA-Fragment analysieren kann, muss ich es manipulieren. Und das machen wir, indem wir an die beiden Enden dieses DNA-Fragments bekannte DNA-Sequenzen herankleben. Das sind selbst designte Sequenz-Schnipsel, die Sie bei Firmen in Auftrag geben und die synthetisieren synthetische DNA. In diesen „Adaptern“, wie wir sie nennen, sind bestimmte Bereiche enthalten, die dafür verantwortlich sind, dass ich die DNA vervielfältigen kann, dass ich sie später aber auch von Fragmenten einer anderen Probe unterscheiden kann. Man muss sich das so vorstellen wie einen Barcode, wie an der Supermarktkasse einen Strichcode.
Sprecher
Dank dieses “Strichcodes” sind die Proben aus dem Erbgut eines Menschen identifizierbar – und können im nächsten Arbeitsschritt zusammen mit der DNA mehrerer hundert anderer Individuen sequenziert werden. Die „Massive Parallele Sequenzierung“, der zweite große Fortschritt, beruht einer dramatischen Verbesserung der Sequenziermaschinen.
11. O-Ton Brandt 7:30
Die Technik von vor 15 Jahren, die wurde letzten Ende verwendet, um das erste humane Genom zu erzeugen, man hat da zwei Jahrzehnte dran gearbeitet und es hat Millionen von Dollar verschlungen, heute ist es möglich, ein humanes Genom für unter 1000 Dollar in 24 Stunden zu erzeugen. Der große Vorteil ist einfach diese massive parallele Sequenzierung, die es mir erlaubt, viele hundert Individuen auf einmal zu bearbeiten und eben Millionen von DNA-Sequenzen in einem Sequenzierlauf zu erzeugen.
Sprecher
Früher mussten Forscher für die Sequenzierung einen Abschnitt aus einer DNA-Probe auswählen. Dass beim „Next Generation Sequencing“, wie es auch genannt wird, nun Millionen DNA-Sequenzen gleichzeitig bearbeitet werden, vereinfacht insbesondere die Erforschung Alten Erbguts: Nun fällt eine solche Fülle von Daten an, dass es keine Bedeutung mehr hat, wenn einige DNA-Sequenzen nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden nicht mehr intakt sind. Die Paläogenetik erlebt daher einen mächtigen Boom.
MUSIK
Sprecher
Die neue Technik wäre nicht komplett ohne den Entwicklungssprung in der Bioinformatik. Um die gigantischen Datenmengen aus der Parallelen Sequenzierung auswerten zu können, mussten neue Computerprogramme geschrieben und leistungsstarke Rechner angeschafft werden.
12. O-Ton Brandt 22:18 (O-Ton vorn gekürzt!)
Durch das Library Prep werden einfach alle Moleküle, die in meiner Probe drin sind, in eine Library transferiert und damit ist es möglich, alle sofort zu sequenzieren. Und später dann eben am Computer der richtigen Position im Genom zuzuordnen. Es wird dann über bestimmte bio-informatische Algorithmen errechnet, wo ein Sequenzschnipsel im Genom am besten hinpasst.
MUSIK
Sprecher
Den Wissenschaftlern eröffnen sich damit neue Erkenntnis-Möglichkeiten:
Statt vor der Analyse auf gut‘ Glück einen DNA-Abschnitt auszuwählen, können sie jetzt das komplette Erbgut mehrerer Individuen rekonstruieren und danach entscheiden, wo die vielversprechenden Abschnitte liegen: Die Y-Chromosomen für die männlichen Linien etwa, die mitochondriale DNA für die Vererbung auf mütterliche Seite oder Mutationen im Erbgut, wenn es um die Charakterisierung von Bevölkerungsgruppen geht.
Sprecher
Im Glockenbecher-Projekt fanden die Genetiker das Erbgut der Steppenhirten in fast allen Skelettresten aus Mittel- und Westeuropa. Nur in den ältesten Proben, die auf etwa 2800 vor Christus datiert werden und aus Spanien stammen, ließ sich keine DNA der Einwanderer feststellen. Für den Archäologen Stockhammer ergibt sich daraus eine klare Schlussfolgerung: Glockenbecher waren auf der iberischen Halbinsel schon vor Ankunft der Einwanderer bekannt. Die neue Bestattungssitte hat sich also nicht nur durch Migration in Europa verbreitet, sondern ist unter iberischen Bevölkerungsgruppen schon vorher weitergetragen worden: als Ideentransfer, sozusagen von Mund zu Mund.
13. O-Ton Stockhammer 11:11& 23:17
Der Impetus kam durch Einwanderer, aber das Glockenbecher-Phänomen an sich ist dann nicht durch großräumige Wanderungen entstanden, sondern durch Kontakt zwischen den Beteiligten. Es war sicher das erste großräumige Phänomen, von dem man zeigen konnte, dass es nicht vor allem durch Migration entstanden ist.
Sprecher
Ausnahme: Die britischen Inseln, die die Einwanderer ab Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus eroberten. Sie löschten die Einheimischen, deren Vorfahren einst Stonehenge erbaut hatten, fast vollständig aus. Und sie brachten die Glockenbecher mit: Auf den britischen Inseln verlaufen Einwanderung und Verbreitung von Glockenbechern eindeutig parallel.
Insgesamt gesehen, liefert die Studie neuen Stoff für einen alten Streit. Lange meinten Altertumswissenschaftler, wo einheitliche Fundensembles zu Tage kamen, hätte auch eine einheitliche Menschengruppe gelebt. So sprach man von einem „Glockenbecher-Volk“.
Oder man meinte, überall, wo eiserne Bratspieße und so genannte „Antennendolche“ ausgegraben wurden, hätten Kelten gewohnt. In den sechziger Jahren kamen Zweifel auf: Kann man tatsächlich aus ähnlichen Objekten schließen, dass ein Volk sie hervorgebracht hat, mit einer übereinstimmenden Signatur des Erbguts? Die Glockenbecher-Untersuchung spricht dagegen.
14. O-Ton Stockhammer 7‘57
Wir haben ja die Gräber der Einwanderer, bevor sie nach Mitteleuropa kamen. Die hatten eben auch Becher, aber die waren keine Glockenbecher, die waren eben ein bisschen anders, die waren schnurverziert. Die hatten keine Kupferdolche, die hatten Steinäxte, die hatten auch Hockerbestattungen, aber nicht Nord-Süd, sondern Ost-West. Und das Spannende ist, das Glockenbecher-Phänomen dreht quasi alle kulturellen Aspekte dieser Steppenhirten in ihr Gegenteil, aber es bleibt ein Dialog, wie eine Dialektik, zwischen dem, was da aus dem Osten in den Westen gekommen ist und dem, was vorher schon im Westen da war.
Sprecher
Die Glockenbecher-Sitte und die Kultur der Einwanderer gehen nicht auf denselben Ursprung zurück, betont Stockhammer, haben sich im Umbruch der massiven, blutigen Einwanderungswelle aber gegenseitig beeinflusst.
Doch die alte Streitfrage ist noch nicht entschieden. Gerade am entscheidenden Resultat der Studie, das den Ideentransfer belegen soll, hat der Genetiker Wolfgang Haak Zweifel. Er hebt hervor: Die Verbreitung von Glockenbechern fällt räumlich und zeitlich zum allergrößten Teil mit der massiven Expansion der Steppenhirten zusammen. Nur die ältesten, auf 2800 vor Christus datierten Glockenbecher aus Spanien passen nicht ins Bild.
15. O-Ton Haak 18:28 (vorn gekürzt!)
Das sind nur diese ersten 300 Jahre, wo das nicht zusammengeht, dann später geht es wirklich 1:1 zusammen, was wir im Rest des Genoms sehen und auch die archäologische Sachkultur, das geht Hand in Hand.
MUSIK
Sprecher
Ist die Datierung der spanischen Funde wirklich zuverlässig? Die Jahreszahl 2800 vor Christus wurde nicht aktuell im Rahmen der Studie ermittelt, sondern lag bereits aus der Ausgrabung vor. Und, so Haak weiter, lassen sich diese Gräber eindeutig der Glockenbecher-Kultur zuordnen? Der Genetiker, der in mehreren internationalen Großprojekten aktiv ist, will das europaweite Phänomen nun noch detaillierter erforschen: mit neuen archäologischen Daten und Erbgut-Analysen von mehreren tausend Individuen.
Sprecher
Weitere Untersuchungen bieten sich auch an, weil hinter der neuen Bestattungssitte mehr steht als nur eine andere Grabbeigabe: Die Menschen begannen eines Tages, ihren Toten Glockenbecher ins Grab zu legen, weil sie für sie eine konkrete Bedeutung hatten. Sie waren Ausdruck einer bestimmten Überzeugung, eines Glaubens. Welche Wünsche und Hoffnungen damit verbunden waren, lässt sich nicht rekonstruieren, doch es war eine neue Religion oder eine neue Ideologie. Und sie hatte erstaunlichen Erfolg, verbreitete sich von Ungarn bis Portugal, von Italien bis auf die britischen Inseln. Die Menschen standen trotz der Entfernung miteinander in Verbindung, sie bildeten ein Netzwerk, sagen die Forscher.
16. O-Ton Haak 25:30
Warum hat es immer wieder funktioniert? Da muss es ja ein kulturelles oder soziologisches Konzept gegeben haben, vielleicht auch eine Ideologie, die dann attraktiv war, das war möglicherweise einfach das Wirtschaftsmodell, das gezogen hat, das Gelobte Land, das neue Ding, es ging aufwärts, vorwärts, das ist ein Modell, das man mal prüfen müsste.
Sprecher
Dieses Netzwerk bereitete wahrscheinlich der Innovation den Boden, die eine neue Epoche einläutete: der Herstellung der Bronze, des ersten praktischen Metalls. Mancherorts in Europa hatten Menschen schon vorher Kupfer bearbeitet, aber kupferne Waffen und Werkzeuge sind relativ weich. Legiert man Kupfer jedoch mit etwas Zinn, wird das Material härter, lässt sich gut bearbeiten und glänzt obendrein wie Gold: Das sind die Vorzüge der Bronze. Bronze ist aber nicht leicht herzustellen, weil Zinnvorkommen in Europa rar sind: Größere Lagerstätten finden sich nur im äußersten Westen Englands, im heutigen Cornwall. Dort ließen sich Menschen der Glockenbecher-Kulturen ab 2450 vor Christus nieder. Viele Archäologen vermuten, dass sie die Kenntnis von der Zinnbronze über den Kontinent verteilten. Philipp Stockhammer:
MUSIK
17. O-Ton Stockhammer 37:22
Gerade das Glockenbecher-Netzwerk war einer der entscheidenden Momente, Wissen auszutauschen: Oh, hier haben wir die Zinnlagerstätten, oh, hier haben wir Kupfer, oh, hier haben wir die neuen metallurgischen Techniken aus dem Orient. Und deshalb war das Glockenbecher-Phänomen eigentlich die entscheidende Triebfeder für die Herausbildung der Bronzezeit in Mitteleuropa, und ich sehe in meinen Forschungen, dass sich in Mitteleuropa eigentlich nur dort die frühe Bronzezeit entwickeln konnte, wo wir vorher auch das Glockenbecher-Phänomen fassen.
ATMO (Besucher im Museum)
Sprecher
Etwa ab 2400 vor Christus entwickelte sich ein Zentrum der frühen Bronze-Herstellung im östlichen Mitteldeutschland. Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle kann eine Fülle einschlägiger archäologischer Funde präsentieren.
18. O-Ton Meller 5:38
Die frühesten Bronze-Objekte, die wir hier haben, kann ich Ihnen zeigen, das sind Dolche…
ATMO (Schritte)
Sprecher
Professor Harald Meller, Museumsdirektor und Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, ist an mehreren Forschungsprojekten zum Anfang der Bronzezeit in Europa beteiligt. Auch er zieht eine Verbindung zwischen der Glockenbecher-Kultur und der Metallverarbeitung.
19. O-Ton Meller 13:27
Die Fähigkeit, Bronze herzustellen, gibt es schon ganz alt im Vorderen Orient und am Balkan, aber bei uns in Mitteleuropa ist die Bronzeherstellung noch mal erfunden worden, zumindest ist das die Hypothese, durch die Eroberung von Südengland, Glockenbecherleute erobern Südengland, und die entdecken dann in Cornwall das Zusammentreffen von reichen Zinnquellen in den Flüssen und dieses Zinn ermöglicht es natürlich, Bronze herzustellen.
ATMO (Schritte)
Sprecher
Vor einer Wand-hohen Vitrine, in der auf dunklem Stoff mehrere Reihen bronzener Beilklingen aufgehängt sind, eine wie die andere, wird deutlich, welche Revolution die Entdeckung dieses Materials bedeutete: Sie veränderte die Gesellschaft grundlegend.
20. O-Ton Meller 18:39
Der Bronzeguss ist für uns so wahnsinnig wichtig, weil damit die Menschen zum ersten Mal selbstgeschaffen identische Dinge herstellen. Vorher hast du ein Steinbeil, jedes Beil ist anders, abhängig von der Quelle. Das heißt, ein Fürst lässt 100, 200, 300 Beile gießen, und die sind völlig identisch, die kann er jetzt an die Bauernsöhne verleihen, kann er eine Armee aufstellen.
MUSIK
Sprecher
Ab Ende des dritten Jahrtausends vor Christus herrschten erstmals mächtige Fürsten in einigen Gegenden Mitteleuropas. Aus den Glockenbecher-Kulturen, die kaum Hierarchien kannten, hatte sich eine neue Gesellschaftsstruktur gebildet. Meller spricht dabei übrigens von „Glockenbecherleuten“ – als ob sich die bauchigen Tongefäße doch mit einer genetisch einheitlichen Bevölkerung identifizieren ließen. Über die Frage, ob die Bestattungssitte mit Glockenbechern, die erfolgreiche neue Religion, von Einwanderern verbreitet wurde oder als Idee von Mund zu Mund wanderte, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
In der Jungsteinzeit, dem Neolithikum, haben die Menschen das Überlebensprinzip "Arbeit" erfunden. Bislang lebten Jäger und Sammler von der Hand in den Mund, doch die ersten Bauern und Viehzüchter mussten das Ackerland pflügen, Unmengen Unkraut jäten und Tiere hüten. Sie wurden Bauern, sesshaft, innovativ - und offenbar auch gewalttätiger, als sie es bis dahin waren. Von Matthias Hennies (BR 2019) Hier der Link zur Umfrage für die ARD Audiothek: https://1.ard.de/umfrage-alles-geschichte- Für alle anderen Podcast-Plattformen: Bitte nutzt den Link in den Shownotes.
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Credits
Autor: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
Sprecher: Thomas Birnstiel
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Martin Hinz, Dr. Helmut Schlichtherle, Manuela Fischer, Margarethe Schweikle, Prof. Thomas Saile, Dr. Heiner Schwarzberg
Linktipps:
ZDF (2019): Tatort Steinzeit
Immer wieder stoßen Forscher auf die Spuren von Gewalt, die in diesem Ausmaß aus früheren Epochen unbekannt sind. Wer waren die Opfer und wer die Täter? JETZT ANSEHEN
SWR (2018): Archäologie erleben – Akte Jungsteinzeit
Wieso wurden vor 7.500 Jahren die Menschen im Südwesten sesshaft? Dank neuer wissenschaftlicher Methoden können Archäologen endlich Rätsel aus unserer Geschichte lösen. JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
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ATMO (Gespräch & Knistern)
Planen drüber! Ist das Timing, Baby? Eine Minute, dann geht’s los hier! Dann geht das richtig los. Blende, unterlegen.
Sprecher
Dunkle Wolken ziehen auf, der Wind schüttelt die Kronen der alten Buchen und die Archäologen legen die Schaufeln beiseite. Wenige Kilometer von der Ostseeküste entfernt, in einem Wald bei Wangels in Holstein, untersuchen sie ein Großsteingrab aus der Jungsteinzeit. Rund um die riesigen Findlinge, die den Bestattungsplatz der frühen Bauern markieren, tragen sie Zentimeter für Zentimeter die Erde ab. Doch nun droht der nächste Regenguss und sie müssen die Ausgrabung mit einer dicken Plane zudecken.
ATMO (Gespräche & Knistern)
Muss da noch höher, das regnet sonst rein!
MUSIK
Sprecher
Nach dem Schauer tupfen die Forscher, großenteils Studenten von der Universität Kiel, mit Schwämmen das Regenwasser aus der Grabungsfläche. In einem großen Forschungsprojekt zum Neolithikum, der Epoche der ersten Bauern, suchen sie nach einer Erklärung für den Boom der Megalithbauten: In Norddeutschland haben sich ab 4000 vor Christus die Ackerbauern und Viehzüchter durchgesetzt. Nur wenige Menschen zogen noch als Jäger und Sammler umher, die meisten hatten sich an einem festen Ort niedergelassen, ernteten Getreide und Hülsenfrüchte, züchteten Rinder, Pferde und Schweine. Um 3600 vor Christus begannen die Bauern dann, für ihre Toten mächtige Grabhügel aus schweren Steinbrocken aufzutürmen. Aber warum? Das muss die Archäologie noch klären. Am Grab bei Wangels allerdings ist es im Augenblick zu nass zum Ausgraben.
ATMO (Gespräche & Plätschern)
Hier kannst du noch näher an die Steine ran, oh ja.
Sprecher
Ihre geräumigen Langhäuser bauten die frühen Bauern aus Holz und Lehm, berichtet Martin Hinz, der Grabungsleiter, doch die Gräber errichteten sie aus Stein. Darin zeigt sich, welche Bedeutung sie ihren Vorfahren zumaßen: Die steinernen Wohnstätten der Toten waren dauerhaft, die hölzernen Bauten für die Lebenden aber vergänglich. Die Leute wussten genau, wie man mit Stein baut: Die Lücken zwischen den mächtigen, unförmigen Findlingen haben sie sorgsam mit Trockenmauerwerk gefüllt, so dass geschlossene Wände entstanden. Der Eingang blieb offen, denn die Bauten wurden in der Regel mehrere Generationen lang genutzt. Im Volksmund Norddeutschlands heißen sie wegen ihrer Größe "Hünengräber", doch die Forschung hat gezeigt:
2. O-Ton Hinz XIV 099-033, 31'23
Dass hier kein ausgewählter Personenkreis bestattet worden ist. Wir haben Kinder, Frauen, Männer, daher ist anzunehmen, dass es wirklich ein Bestattungsort war für jedermann, keine expliziten Häuptlingsgräber, wie man das früher immer noch gedacht hat.
Sprecher
Um aus tonnenschweren Findlingen einen Grabbau zu errichten, mussten alle Bewohner eines Dorfes anpacken – und später setzten alle ihre Toten darin bei. Niemand stach aus der Gemeinschaft heraus: Weder im Tod durch ein Einzelgrab oder kostbare Beigaben, noch im Leben durch ein riesiges Haus oder prunkvollen Besitz. Die frühen Bauern lebten einige Jahrhunderte lang in einer weitgehend egalitären Gesellschaft. Mit den gemeinschaftlich errichteten Grabbauten dokumentierten sie ihre Zusammengehörigkeit. Zugleich markierten sie damit ihren Grund und Boden, erklärt Dr. Hinz:
3. O-Ton Hinz XIV 099-033, 35'52
Das ist sicher nicht losgelöst davon, dass Land jetzt eine ganz andere Qualität bekommt, es wird eine Ressource, man investiert in das Land, man muss den Acker roden, man muss Arbeit hinein investieren und da kommt sicher auch ein anderes Bewusstsein auf für Landschaft.
Sprecher
Die mobilen Jäger- und Sammler-Gruppen waren immer dorthin gezogen, wo die Natur ihnen gerade die besten Ressourcen bot. Die Bauern aber siedelten sich an einem Ort an und entwickelten eine engere Beziehung zum Land, ihrer Lebengrundlage: Sie nahmen es dauerhaft in Besitz, deshalb errichteten sie ihre steinernen Gemeinschaftsgräber darauf. Die Bauten demonstrieren das neue Bewusstsein für Dauer und Besitz, das sich in der Jungsteinzeit entwickelte. In Süddeutschland dagegen, da, wo die Gletscher der Eiszeit keine Findlinge abgelagert haben, entwickelten die Menschen des Neolithikums andere Bräuche, um ihre Ahnen zu ehren und sich ihrer Zusammengehörigkeit zu vergewissern. Dort ließen sich die ersten Bauern um 5500 vor Christus nieder, etwa ab 3800 entstanden Pfahlbauten an den Seeufern des Voralpenlandes. Die Pfahlbauten bieten den Archäologen die besten Forschungsmöglichkeiten, weil Holz und Lehm, Textilien und Pflanzenreste im feuchten Boden, abgeschlossen vom Sauerstoff, Jahrtausende überdauern können.
ATMO (Schritte)
Sprecher
Zentrum der Pfahlbau-Forschung ist das Amt für Denkmalpflege in Hemmenhofen am Bodensee, Dr. Helmut Schlichtherle hat es lange geleitet. Er kann ein einzigartiges Beispiel für den jungsteinzeitlichen Ahnenkult zeigen, das kürzlich aufwändig rekonstruiert wurde. In Ludwigshafen am Bodensee, ausgerechnet im Strandbad, waren Bruchstücke von der lehmverputzten Wand eines neolithischen Hauses zutage gekommen – einer Wand, die großflächig mit Malereien bedeckt war.
5. O-Ton Schlichtherle OT 12, 9'02
Die Badegäste standen mehrere Sommer schon in diesen Malereifragmenten, die durch die Wellen freigelegt worden sind und wir waren dann mit unseren Tauchern dort und haben vor allem das geborgen, was im Seegrund noch zugedeckt war-
Sprecher
Ergebnis war ein Puzzle von weit über 1.000 Teilen, das dann in die Labors der Denkmalpflege wanderte. Dort hat Schlichtherle die Lehmbruchstücke mit seinen Mitarbeiterinnen Margarethe Schweikle und Manuela Fischer in mühsamer Kleinarbeit nach und nach zusammengesetzt.
6. O-Ton Schweikle OT 12, 11'16
Das lag dann hier jahrelang rum, oder? Gelächter. Schon ein paar Jahre. Und ich hab quasi dann die Einzelscherben rausgeholt und dann geklebt, das kann man jetzt auch in die Hand nehmen, hier dran sieht man die Schultern und das Händchen, also das ist ein ganz wichtiges Stück-
O-Ton Fischer OT 12
Hier hinter Ihnen in diesem Regal sind, ich weiß nicht, wie viele Kisten, über hundert, da liegen immer noch sehr viele Stücke drin. Die wo wir zuordnen konnten, das sind diese bemalten Hüttenlehmstücke, haben wir den Frauen zugeordnet, aber ansonsten gibt es in diesem Chaos noch sehr viele Stücke, die teils keine Bemalung haben, einfach nur aus der Wand rausgebrochen sind, ohne Hinweis, die können wir gar nicht zuordnen, das liegt alles noch in diesen Kisten.
Sprecher
Das mehrere Meter lange Fresko zeigt sieben fast lebensgroße, stilisierte Frauengestalten, mit weißer Farbe auf die braune Wand gemalt. Ihre Brüste stehen plastisch, aus Lehm geformt, aus der Wand hervor, ihre Arme dagegen sind nur angedeutet, die Beine gar nicht dargestellt. Bei vier Gestalten ist der Kopf wiedergegeben, mit einem auffälligen Kranz von Haaren oder Strahlen darum herum.
Schlichtherle interessiert sich besonders für die abstrahierten Figuren zwischen den Frauengestalten: Strichmännchen mit ausgebreiteten Armen oder Beinen: Zu neun, zehn, elf übereinandergestapelt, ergeben sie ein Muster, das an einen Baum erinnert – einen Lebensbaum, nennt es der Archäologe. Er deutet die Abfolge von Strichmännchen als eine Ahnenreihe, die Generation um Generation in die Vergangenheit zurückführt. Den Schlüssel zu dieser Interpretation liefern ihm Verzierungen auf neolithischen Keramikgefäßen.
7. O-Ton Schlichtherle OT 12, 24'25
Auf diesen Gefäßen gibt es wieder diese Lebensbäume, in denen wir die Ahnenreihen sehen können. Gleichzeitig sehen wir, dass es hier sonnenartige Knubben und Ösen auf den Gefäßen gibt, die ganz stark erinnern an die sonnenartigen Köpfe der weiblichen Gestalten.
Und in einem Fall ist auch klar, dass die weiblichen Gestalten mit ihren sonnenartigen Köpfen über den Ahnenreihen sitzen.
Sprecher
Die Ahnenreihen führen demnach zurück zu den großen Frauengestalten: Sie sind die weiblichen Urahnen der verschiedenen Sippen im Dorf. Nicht zu verwechseln mit der Muttergottheit oder Urmutter, die man lange in der Glaubenswelt der Steinzeitkulturen finden wollte. Die Wand spiegelt also vermutlich die Genealogie der Dorfgemeinschaft. Anhand der Malerei vergewisserte sich das Dorf seiner Identität. Diese Deutung deckt sich mit einer Erkenntnis der Ethnologie: Kulturen, die keine Schrift haben, definieren sich häufig durch detailliertes, sorgsam memoriertes Wissen über ihre Ahnenreihen. Dass der Ahnenkult in der geistigen Welt des Neolithikums eine zentrale Rolle spielte, weiß man seit langem. Doch nirgends ist bisher eine so subtile Ikonographie aufgetaucht wie auf der Kultwand von Ludwigshafen am Bodensee. Und sie scheint direkt aus dem Leben gegriffen: Kein spektakulärer Großbau, kein überregionales Kultzentrum, sondern ein alltäglicher Gegenstand, den es vermutlich in jedem Dorf gab - wie der Altar der Pfarrkirche, vor dem sich die Kinder zur Kommunion versammeln.
9. O-Ton Schlichtherle OT 13, 8'18
Ich könnte mir gut vorstellen, dass vor dieser Wand, in diesem Innenraum, Initiationsfeiern stattfanden, dass über diese Gestalten gesprochen wurde, dass die Mythen repliziert und immer wieder wiederholt wurden. Eine schriftlose Kultur lebt von der Wiederholung solcher Geschichten und auch diese Wand ist eine Verbildlichung von Inhalten, das ist der Überbau dieser Gesellschaft, der hier eine Bildform gekriegt hat. Sowas hat es sicher häufig gegeben, wir haben die einmalige Chance gehabt, es mal zu finden.
Sprecher
Nicht dass Schlichtherle Mangel an eindrucksvollen Funden hätte: Da ist auch das Modell der Steinzeit-Siedlung Torwiesen, die am Rand des Federsees in Oberschwaben nahezu komplett geborgen werden konnte. Als die Menschen den Ort um 3300 vor Christus verlassen hatten, wuchs Torf über die Häuser und Bohlenwege: Stützpfähle, Fußböden, auch eingestürzte Wände blieben erhalten – darüber hinaus die Reste der Pflanzen, die hier in der Jungsteinzeit verzehrt oder verarbeitet wurden, tote Insekten und zerrissene Fischernetze.
4. O-Ton Schlichtherle
(Innen, Schritte) Ich mache mal die Tür zu, da sind oft Geräusche. (Klappert)
Sprecher
Helmut Schlichtherle hat das Dorf auf einer Sperrholzplatte im kleinen Maßstab nachbauen lassen: 15 Häuser, rechts und links eines soliden Bohlenweges aufgereiht, alle aus Holzstäbchen und Bastfäden, ein bisschen größer als die Gebäude einer Modelleisenbahn. Darunter liegt, grauschwarz angestrichen, das vertorfte Ufer aus Pappmaschee. Alle Häuser bis auf drei wirken gleich groß und stehen parallel nebeneinander, die Giebel zur zentralen Dorfstraße ausgerichtet. Vor jedem Eingang liegt ein Dreschplatz – doch der erste Eindruck täuscht: "Torwiesen" war kein egalitäres Dorf.
12. O-Ton Schlichtherle OT 9, 9'56
Wenn wir etwas genauer hingucken, sehen wir, dass die Häuser im Dorf von vorn nach hinten kleiner werden. Das erste Haus hier ist am längsten und gehen wir die Dorfstraße entlang bis zum letzten, dann ist das nur noch halb so groß.
Sprecher
Dasselbe Muster zeigte sich, als die Archäologen die Verteilung der Kleinfunde analysierten: Die ersten, größten Häuser waren gut mit Getreide und anderen Kulturpflanzen versorgt, in den letzten Häusern dagegen fanden sich nur wenige Dreschreste, dort brachte der Feldbau offensichtlich nur geringe Erträge. Und dann sind da noch drei winzige Häuser hinter und zwischen die geräumigen Bauten der Landwirte gequetscht: Die Grundfläche reichte gerade aus, dass sich zwei Personen abends auf dem Boden ausstrecken konnten.
14. O-Ton Schlichtherle OT 9, 17'12
Das könnte tatsächlich eine andere Schicht sein. Wir wissen, dass in den kleinen Häuschen spezielle Dinge gemacht worden sind: In diesen beiden saßen Bogenbauer, wir wissen, dass in zwei der kleinen Häuser Fischereigerät war, das ist auch eine Ausnahme in der Siedlung, und dann wissen wir, dass Sammeltätigkeit eine große Rolle spielt: Also nicht landwirtschaftliche Produkte, sondern in der Natur gesammelte Produkte und teilweise sogar Samen von Ackerunkräutern, die in großer Menge eingesammelt wurden. Also die Kleinhäusler hatten das Recht, auf den Feldern der Großbauern die Unkräuter einzusammeln und zu verwerten.
Sprecher
Das Ende der egalitären jungsteinzeitlichen Gesellschaft hatten Forscher bisher nur an neuen Bestattungssitten erkannt: Anstelle gemeinschaftlicher Grabstätten wie den Megalithbauten begannen die Menschen, Einzelgräber anzulegen, offenkundig für Anführer oder Häuptlinge. Jetzt aber zeigen die kleinteiligen Funde aus Torwiesen sehr anschaulich, wie sich im alltäglichen Leben der frühen Bauern eine hierarchische Schichtung der Dorfgemeinschaft herausbildete.
ATMO (Zug)
Sprecher
Megalithgräber im Norden und Pfahlbauten im Süden haben Wissenschaftlern in den letzten Jahren neue Einblicke in die Welt der Jungsteinzeit eröffnet. In ganz Deutschland verbreitet, aber am rätselhaftesten sind die "Erdwerke" der Steinzeitleute.
Sprecher
Der Regionalexpress von München nach Regensburg verringert kurz hinter Landshut seine Geschwindigkeit. Er quert das Tal des Eichelbachs und rollt über einen Bahndamm gemächlich auf die scharfe Kurve Richtung Norden zu. Schaut man auf der rechten Seite aus dem Fenster, fällt der Blick auf ein Raps-, dahinter ein Getreidefeld: Hier im Landshuter Löss liegt das wohl berühmteste Erdwerk Bayerns.
15. O-Ton Saile 018-144, 8'46
Wenn man in dem Zug sitzt, kann man in dieses Tälchen schauen und wenn man das häufiger macht, auf der Strecke von Landshut nach Regensburg fährt, dann guckt man hier ab und an rein, das hat der Pollinger offenbar damals auch getan und hat dann eben in dem gepflügten Zustand viele dunkle Verfärbungen auf gelblichem oder hellerem Grund gesehen.
Sprecher
Vor hundert Jahren hat der Oberlehrer Johann Pollinger die dunklen Verfärbungen als ein System zusammenhängender Gräben identifiziert – weil er von oben darauf herunterblickte, so Thomas Saile, Archäologie-Professor aus Regensburg. Das war der Anfang der Luftbildarchäologie. Heute ist Geländeerkundung aus der Luft ein Standardverfahren: Wo Reste von Gebäuden in der Erde liegen oder wo einst Gräben verliefen, zeigt der Boden nach der Ernte oder beim ersten Schnee eine andere Farbe. Gräben zum Beispiel speichern Feuchtigkeit und Kälte länger, daher ist die Erde dunkler als der umgebende Boden. Von oben lässt sich erkennen, ob die Verfärbungen ein regelmäßiges Muster ergeben, ob also von Menschen geschaffene Anlagen in der Erde ruhen. Die Gräben beim Weiler Altheim wurden 1914 ausgegraben und als "Erdwerk" identifiziert Den Kern bildete eine rechteckige Grabenanlage von etwa 40 mal 60 Metern Seitenlänge, also gut ein halbes Fußballfeld groß. Angelegt wurde der Bau um 3600 vor Christus. Später zogen die Menschen außen noch zwei Gräben darum herum. Über schmale Erdbrücken konnten sie das Innere der Anlage betreten – doch was sich dort einst befand, weiß man nicht: Archäologen finden keine Spuren mehr, weil die oberen Erdschichten im Lauf der Zeit komplett erodiert sind. Nachweisbar ist nur, dass der Innenraum von einer Reihe Holzpfosten umschlossen war, die aber längst zerfallen sind.
ATMO (Schritte & Auto)
Sprecher
Wie der Bau einmal ausgesehen haben könnte, zeigt im Museum Stadtresidenz in Landshut eine imposante, gut zwei Meter hohe Rekonstruktion.
17. O-Ton Saile 36-141, 0'41
Diese Palisade, die soll den Eindruck dieser Altheimer Anlage erwecken. Und wenn man jetzt hier durchgeht, durch den Eingang, dann gelangt man in den Saal, der sich nun mit Altheim beschäftigt.
AMTO (Schritte)
Sprecher
Die Palisade zog sich entlang des Grabens um den Innenraum der Anlage. Lange wurde sie als Befestigung interpretiert, doch heute schließen Forscher eine militärische Funktion aus: Dann hätte man das Bauwerk auf einem Hügel errichtet und nicht an einem abfallenden Hang, wo es von oben beschossen werden konnte. Die beiden Durchgänge zum Innenraum waren auch keine Tore. Professor Saile hat kürzlich erneut in der Anlage gegraben und erkannt, dass die Durchgänge exakt in einer Linie angelegt worden sind, so dass man sie für astronomische Beobachtungen nutzen konnte:
18. O-Ton Saile 37-143, 26'10
Wenn Sie jetzt auf dieser Linie stehen und durch den nordwestlichen Ausgang der Anlage schauen, dann schauen Sie auf die Horizontlinie und an einem Punkt der Horizontlinie können Sie den Untergang des Mondes bei der nördlichsten Mondwende sehen.
Sprecher
Wie Erdwerke und Kreisgrabenbauten auch anderswo zeigen, wussten die Leute der Jungsteinzeit, dass der Mond – genau wie die Sonne - nicht immer an derselben Stelle des Horizonts auf- oder untergeht. Die Orte verschieben sich im Lauf der Monate und Jahre langsam von Süden nach Norden und wieder zurück. Alle 18,61 Jahre erreicht der Mond den nördlichsten Punkt: Dann findet die Große Nördliche Mondwende statt. Diesen Zeitpunkt kannten manche Menschen im Neolithikum - und setzten ihr Wissen in Architektur um.
19. O-Ton Saile 37-143, 29'40
Wenn man diese Nördliche Mondwende bestimmen kann, dann kann man den Menschen hier vorhersagen, wann es eine Mondfinsternis geben wird. Und dann ist man also der Herr über die Zeit und die Himmelsphänomene – und das schafft natürlich Prestige.
Sprecher
Das Erdwerk von Altheim ermöglichte den "Wissenden", ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Gräben und Palisade waren vermutlich dazu da, sie symbolisch von der übrigen Bevölkerung abzugrenzen. Das Erdwerk diente demnach zur Organisation und Selbstvergewisserung der Gemeinschaft. An diesem Ort versammelte sie sich zu wichtigen sozialen und religiösen Anlässen, Feiern inclusive. Auch das wohl bedeutendste Ritual des neolithischen Weltbilds haben die Menschen hier offensichtlich zelebriert: das Gedenken an die Ahnen. Die Archäologen stießen in den Gräben auf Menschenknochen, die unterschiedlich arrangiert worden waren. Sie identifizierten Einzelbestattungen in Hockerposition, sie fanden Schädel, sorgsam in Gruppen angeordnet und wild durcheinander liegende Knochen, die scheinbar achtlos weggeworfen worden waren. Möglich, sagt Saile, dass man sich hier von herausragenden Toten in einer Reihe unterschiedlicher Rituale verabschiedete, die im Lauf der Zeit aufeinander folgten.
20. O-Ton Saile 37-143, 37'21
Man kann sich vorstellen, dass man diese Menschen eben nicht gleich bestattet, sondern als Leichname vielleicht mumifiziert, vielleicht als Personen, die man immer wieder befragt, aufbewahrt, vielleicht in einem Gebäude, das darin errichtet ist. Und möglicherweise sind diese Knochen dann nach einigen Generationen auch wertlos, wenn die ihre Funktion nicht mehr erfüllen können, kann man die einfach in den Graben werfen, ohne dass man damit irgendeinen Frevel beginge.
Sprecher
Bei Ausgrabungen in den Gräben kamen auch fast 200 Pfeilspitzen aus Feuerstein zutage – eine ungewöhnliche Menge für die weitgehend friedliche Jungsteinzeit. Sie können nicht alle von Pfeilen für die Jagd stammen, meint der Ausgräber, sondern lassen einen Angriff auf das Erdwerk vermuten.
21. O-Ton Saile 37-143, 48'33
Das könnte man sich so erklären, dass diese Anlage, die über viele Generationen ja genutzt ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt in einen Konflikt gerät. Man weiß jetzt nicht, wer gegen wen, vermutlich gar nicht weit entfernte Gruppen, sondern einfach die benachbarten Siedlungsgemeinschaften, die aus irgendeinem Grund jetzt mit dieser Siedlungsgruppe am Eichelbach in einen Konflikt geraten ist und den dann auch gewalttätig austrägt.
Sprecher
Die Kampfspuren bestätigen eine aktuelle Erkenntnis der Forschung: In den letzten Jahren sind an neolithischen Fundstellen mehrfach Spuren von Gewalt ans Licht gekommen: Belege für Überfälle, ja Massaker in kleinen Siedlungsgemeinschaften. Im Vergleich zu anderen Zeiten sind es Einzelfälle – sie belegen jedoch, dass die Epoche nicht die friedliche Idylle war, die man sich lange vorstellte.
ATMO (Schritte & Tür zuschlagen)
Sprecher
Die spektakulärsten Funde aus den Altheimer Gräben findet man nicht im Museum in Landshut. Sie liegen wohlverpackt im Magazin der Archäologischen Staatssammlung in München.
ATMO (Rascheln & Klappern)
22. O-Ton Schwarzberg 34-139, 0'50
Wir haben hier zwei Kupferbleche, das eine ist 1914 gefunden worden, das andere mit eingerollten Enden ist aus den neuen Grabungen, das ist 2013 entdeckt worden. Hier ist ein weiterer Fund, das ist ein sehr kleines Beil, nicht ganz 10 Zentimeter lang, ein grün korrodiertes Kupferbeil, es ist sehr gut erhalten, es ist noch heute relativ scharf-
Sprecher
- aber es wurde sicher nicht als Werkzeug benutzt, erklärt Dr. Heiner Schwarzberg, Experte für Vorgeschichte bei der Staatssammlung: Die Kupferobjekte glänzten ursprünglich in rötlich-goldenen Farbtönen. Wer so etwas besaß, in einer Zeit, als praktisch alle Waffen und Geräte aus Stein, Holz und Knochen gefertigt wurden, trug sie als prestigeträchtige Schmuckstücke zu Schau.
Auch die Funde aus Altheim illustrieren, wie sich gegen Ende des Neolithikums die egalitäre Gesellschaft in unterschiedliche soziale Schichten spaltete. Zugleich kündigt der Werkstoff Metall, von dem hier gerade mal sieben Objekte gefunden wurden, bereits den Übergang in die nächsten Epochen an: die Metallzeiten.
Vor 30.000 Jahren hatte die Eiszeit Europa noch fest im Griff. Damals, in der Altsteinzeit, verdrängte der anatomisch moderne Mensch zunehmend den Neandertaler. Was wissen wir über unsere Vorfahren? Von Katharina Hübel (BR 2024) Hier der Link zur Umfrage für die ARD Audiothek: https://1.ard.de/umfrage-alles-geschichte- Für alle anderen Podcast-Plattformen: Bitte nutzt den Link in den Shownotes.
HIER GEHT ES DIREKT ZUR UMFRAGE
Credits
Autorin: Katharina Hübel
Regie: Irene Schuck
Sprecherin: Jennifer Güzel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. George McGlynn, Prof. Dr. Cosimo Posth, Prof. Dr. Wilfried Rosendahl, Prof. Dr. Thorsten Uthmeier
Besonderer Linktipp der Redaktion:
NDR (2024): Becoming the Beatles – Hamburger Jahre
"We grew up in Hamburg", hat John Lennon gesagt. Und auch: "Live waren wir nie besser." Obwohl der erste Auftritt der Band in einem Stripclub auf St. Pauli ein totaler Reinfall war. Was ist da also passiert auf dem Hamburger Kiez zwischen 1960 und 1963? Wie wurden aus ein paar unbedarften Liverpooler Jungs absolute Superstars? Der Podcast erzählt, wie die jungen Beatles auf den Bühnen der Reeperbahn die Nächte durchspielen. Mit eisernem Willen einen Traum verfolgen. Und für immer die Popmusik-Geschichte verändern. Eine sechsteilige Podcast-Serie von NDR Kultur. ZUM PODCAST
Linktipps:
WDR (2023): Die Eiszeitkünstler – Als der Homo Sapiens kreativ wurde
Die ältesten Kunstwerke der Menschheit liegen in einer schwäbischen Höhle - das berichtet "Nature" am 18.12.2003. Ein neuer Blick auf die frühe Menschheitsgeschichte ... Wissenschaftler finden bei Ausgrabungen auf der Schwäbischen Alb drei kleine Skulpturen aus Mammutelfenbein. Sie sind ein neuer Beleg dafür, dass das Gebiet an der oberen Donau ein wichtiges Zentrum der kulturellen Entwicklung des anatomisch modernen Menschen ist. JETZT ANHÖREN
ARD alpha (2022): Vom Geben und Nehmen – Jäger und Sammler
Steinzeitmensch Ötzi erzählt uns von seinen Vorfahren und aus seiner Zeit. Vor 15000 Jahren arbeiteten die Menschen zwei bis vier Stunden täglich. Sie arbeiteten und lebten für den Moment und planten nicht für die Zukunft. Die Männer jagten, die Frauen sammelten: eine erste klare Arbeitsteilung! Trotzdem waren alle gleichgestellt. Das Ergebnis der eigenen Arbeit ließ man - anders als heute - anderen zukommen. Man teilte, weil es sich so gehörte. Ab ca. 10000 v. Chr. wurden die Menschen dann sesshaft. Zu ihnen gehörte auch Ötzi. Sie betrieben Ackerbau und Viehzucht. Die Frauen hatten ihren "Preis". Nach und nach entstand die wirtschaftliche Basis für Herrschaft und Ungleichheit. JETZT ANSEHEN
ARD alpha Uni (2024): Archäologin
Elena arbeitet als Archäologin bei einer Grabungsfirma in Bayern. Natürlich ist das Ziel alte Befunde auszugraben, doch ein großer Teil der Arbeit ist Koordination, Bürokratie, Spurensuche bei den kleinsten Details und auch Fehlschläge. JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
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Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK & ATMO (Knistern)
01 OT McGlynn
Wie Sie sehen: sehr gut verpackt, um den Schutz zu gewähren… In diesem Fall haben wir hier einen Oberschenkel und sehr schön intakt…
Sprecherin:
In drei unspektakulär grauen Pappkartons – Spezialanfertigung, säurefrei – lagert er: der älteste Homo Sapiens, den Wissenschaftler bislang in Deutschland gefunden haben, der Menschentyp, der dem Neandertaler den Rang ablaufen wird. Rund 34.000 Jahre alt, aus der Eiszeit. Ein „Bayer“, wenn man so will. Der so genannte „Mann von Neu-Essing“. In den Kisten der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München lagert sein Schädel, mit deutlichen Löchern zwar, aber dennoch gut erkennbar als menschlich, die beiden Kiefer mit Zähnen, Rückenwirbel, Arm- und Fingerknochen, Rippenbögen, Bruchstücke des Beckens, Schenkelknochen…
02 OT McGylnn
Knochenoberflächengelenk hier… und Muskelansätze auf der anderen Seite sehr gut zu erkennen…
MUSIK
Sprecherin:
Der „Mann von Neu-Essing“ ist einer der ersten anatomisch modernen Menschen, die in Europa überhaupt gelebt haben. Menschen, die uns mitgeprägt haben. Können deren Skelette Antworten geben auf die Fragen: Woher stammen wir? Wer sind unsere Vorfahren?
03 OT McGlynn
Funde aus dieser Zeit sind absolute Raritäten.
Sprecherin
Sagt der Wissenschaftler Dr. George McGlynn. Das heutige Nordspanien, Frankreich oder Belgien, beispielsweise, sind Regionen, die vor 34.000 Jahren ebenfalls eisfrei waren und bewohnt von homo sapiens. Zudem waren Teile des heutigen Tschechiens und Österreichs von einzelnen Menschengruppen bewohnt. Jäger und Sammler, die mobil waren und den Tieren hinterher zogen.
04 OT McGlynn
Wir sprechen von einem Zeitpunkt, wo doch viel Vergletscherung war und eine sehr harsche Umgebung. Der Neuessinger Mann ist ein fast vollständig intakter Skelettfund, manche von den anderen Funden sind lediglich einzelne Knochenfunde, ein Kiefer, ein Schädelstück, deshalb ist der Neuessinger Fund auch etwas ganz Besonderes wegen seiner Intaktheit. Man kann schon sagen, die Fundzahl von fünf, sechs Fundplätzen beträgt so um die 35 bis 40 Funde. Das ist ein absoluter Glücksfall, wenn man etwas findet, ganz selten findet man mehrere Teile eines einzelnen Individuums. Und anhand dieser fragmentierten Funde ist man praktisch als Wissenschaftler gezwungen, sehr viel reinzulesen. Aber es ist auch eine Riesenherausforderung.
Sprecherin
Die George McGlynn nicht alleine angeht.
MUSIK
Sprecherin
Die Archäologie hat im letzten Jahrzehnt durch naturwissenschaftliche Methoden einen Modernisierungsschub bekommen. Archäologen kooperieren mit Chemikern, Genetikern, Informatikern. Denn manchmal trügt der Anschein und erst das Labor verrät die korrekten Daten. Wie beim „Mann von Neu-Essing“, der über viele Jahrzehnte falsch datiert, nämlich viel jünger geschätzt, in den Archiven verschwunden war. Sein Fall ist nun wieder aufgerollt und liefert neue Erkenntnisse über die Menschen in der Eiszeit.
ATMO (Wind und Schritte)
Sprecherin
Wobei mit „Eiszeit“ die letzte Kaltzeit in der Geschichte unseres Planeten gemeint ist. Durchgängig kalt und eisig war es dabei gar nicht immer, erklärt Prof. Thorsten Uthmeier, der am Institut für Ur- und Frühgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg arbeitet und den Fundort des Mannes von Neu-Essing mit untersucht hat.
OT05 Uthmeier
Im Schnitt ist es so, dass die Jahresmitteltemperaturen bestimmt so zwischen sechs und acht Grad niedriger waren als die heutigen Jahresmittelwerte, mit auch während der Eiszeiten relativ milden Sommern, aber eine kurze Vegetationsperiode und sehr, sehr kalte Winter. Also im Schnitt Temperaturen von minus zwanzig bis minus zehn Grad.
ATMO (Schritte auf Schnee / Wintersturm)
Sprecherin
Die Temperaturen konnten aber auch auf Minus vierzig Grad fallen, Dauerfrost war angesagt. Und oft gab es Winterstürme. Klima-Archäologen rekonstruieren die Temperaturen der Vergangenheit über Eisbohrkerne, aus Grönland oder der Antarktis. Gigantische Bohrkerne von über 3 Kilometern Länge.
MUSIK
Sprecherin
Im Eis ist Staub eingeschlossen, außerdem Luft. Noch wichtiger: Sauerstoff, der im gefrorenen Eiszeitwasser konserviert ist. Er kann Chemikern etwas über die damalige Temperatur verraten. Je nachdem, wie viele Neutronen sich in den Sauerstoffatomen befinden. Ihre Anzahl schwankt je nach Außentemperatur. Außerdem geben Knochen-Funde Aufschluss über die eiszeitlichen Lebensbedingungen. Wissenschaftler nennen sie: „Umwelt-Archive“. Über die Knochen bestimmen die Archäologen die Tierarten und wann sie gelebt haben. Damit wissen sie, wovon sich die Menschen damals ernährt haben und bekommen auch eine Vorstellung von den Temperaturen.
07 OT Uthmeier
Hier sind es in der Regel Rentiere, zum Teil auch Pferde, die haben eine große Temperaturtoleranz, die weichen dann vielleicht auf andere Weidegebiete aus. Die können auch niedrigeren Temperaturen widerstehen.
Sprecherin
Kleinere Tiere wie bestimmte Maus- oder Nagerarten hingegen halten extreme Kälte nicht so gut aus. Auch Pflanzen verraten mehr über das Klima und über die Möglichkeiten der Menschen.
OT08 Uthmeier
Wir dürfen uns das nicht so vorstellen, dass das Wälder gewesen sind, sondern in aller Regel sind das so kleine buschartige Gewächse von Nadelgehölzen. Wir wissen, dass die Beschaffung von Brennholz wahrscheinlich eine relativ schwierige Aufgabe gewesen ist. Weil es durchaus Konstruktionen gibt, um mit dem Brennholz besonders ökonomisch umzugehen. Regelrechte Herdkonstruktionen, eine Steinsetzung, die man dann mit einer Steinplatte abgedeckt hat. Und auf diese Art und Weise hatte man eigentlich einen kleinen Ofen und konnte auf diese Weise mit der Erhitzung der Steine ganz ökonomisch mit dem Brennholz umgehen, und das waren meistens nur kleine Zweige.
Sprecherin
Das Eis der kilometerhohen Gletscher bedeckte vor 34.000 Jahren ganz Nordeuropa, aber auch das heutige Nord- und Ostdeutschland, sowie den untersten Zipfel Süddeutschlands. Bayern hingegen – der Lebensraum des Mannes von Neu-Essing - war größtenteils eisfrei. Die Gebiete des heutigen Bodensees, Ammersees, Starnberger Sees und Chiemsees lagen allerdings unter einer über ein Kilometer dicken Eisschicht. Die Landschaft weiter nördlich bestand aus üppigen Steppen, die im Sommer auch schnee- und eisfrei waren und in denen Jäger und Sammler ein gutes Nahrungsangebot finden konnten. Da viel Wasser in den Gletschern gespeichert war, war der Himmel recht wolkenfrei und hell, mit viel Sonnenschein.
OT09 Rosendahl
Damals waren die Tiergruppen, die in großen Herden vorhanden waren, das wichtige Lebenspotenzial.
Sprecherin
Professor Wilfried Rosendahl ist wissenschaftlicher Vorstand des „Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie“, das den „Mann von Neu-Essing“ neu durchleuchtet hat.
MUSIK
Sprecherin
Weitläufige Gras-Steppen voller Kräuter und Blumen sind der Lebensraum für zahlreiche Herden von Wollhaar-Mammuts, Wild-Pferden, Riesenhirschen oder Moschusochsen. Aber auch für gefährlichere Tiere, die sich heute in Mitteleuropa nicht mehr wohl fühlen würden wie Flusspferde und Wollhaarnashörner; zottelige Höhlenbären, -Löwen, -Hyänen und Säbelzahntiger. Die Menschen zur letzten Kaltzeit hatten – trotz aller Gefahren – also einen reich gedeckten Tisch:
OT10 Rosendahl
Die können Wurzeln essen. Sie können im Herbst Nüsse essen, im Frühjahr Beeren. Sie können frische Blätter essen, aber das limitiert sich natürlich mit dem Vorhandensein von Vegetation. Aber im Frühjahr gibt es eben Pflanzensprösslinge, die sie essen können.
Sprecherin
Löwenzahnblätter, junge Fichtenspitzen. Heilende Kräuter wie Thymian oder Spitzwegerich, Birkenblätter. Als besondere Delikatesse gab es manchmal sogar Honig – und fischen konnten die Menschen vor 34.000 Jahren natürlich auch schon.
ATMO (peitschender Wind)
Sprecherin
Der Winter konnte mit Stürmen recht ungemütlich und kalt werden, aber die Jäger und Sammler wussten sich zu helfen – mit Zeltkonstruktionen, Rückzug in Höhlen und natürlich: Feuer.
11 OT Rosendahl
Die Menschen konnten Leder gerben, sie konnten Kleidung herstellen, sie konnten nähen, sie haben Knochenwerkzeuge hergestellt, Steinwerkzeuge hergestellt. Sie haben aus Elfenbein Kunstwerke geschnitzt. Sie haben aus Knochen Flöten gemacht, sie haben sich wahrscheinlich geschminkt. Also sie hatten ein ganz, ganz buntes Leben. Um das tägliche Überleben zu sichern, mussten sie nicht acht Stunden am Tag arbeiten. Man muss sich bewusst machen: Es gibt Eiszeit-Kunstwerke in Südwestfrankreich, da sind in die Felswand hineingepickelt mit Steinwerkzeugen Pferde, die galoppieren über einen Meter Länge, drei, vier Pferde hintereinander. Das machen Sie nicht, wenn Sie täglich jede Sekunde irgendwie am Lebenslimit nagen und gucken müssen, dass Sie überleben, da ist auch Zeit für Muße, für Schönes und für Kreativität.
Sprecherin
Für die Jäger und Sammler vor zehntausenden von Jahren gab es mehr im Leben als nur das Überleben. Das Neu-Essing-Skelett wurde in einer Höhle gefunden, gut vier, fünf Meter unter der Erdoberfläche begraben. Eingefärbt mit Rötel.
12 OT Rosendahl
Also mit einem roten, pulverartigen Ton, das kann rituelle Bedeutung haben. Und wenn ich eine Bestattung habe, dann verrät mir das schon was, dann muss das mit einer Glaubensvorstellung verbunden sein. Dass es nach dem Tod noch was gibt, das zeigt schon mal wie intensiv auch das Gruppenleben war und wie die Gedankenwelt dieser Menschen war.
Sprecherin
Beim Fund von Neu-Essing handelt es sich um die älteste menschliche Bestattung, die Archäologen in Deutschland bislang finden konnten.
MUSIK
Sprecherin
Es ist deshalb ein so wichtiger Fund, weil er ein entscheidendes Puzzle-Teil mehr für die Forscher darstellt. 1913 wurde er von Archäologen ausgegraben – an einem vielschichtigen Fundort in der Nähe von Kelheim in Niederbayern, den inzwischen auch Thorsten Uthmeier mit seinem Team untersucht hat.
13 OT Uthmeier
Wenn man auf dem Kirchplatz in Neu-Essing steht, dann links sieht man den Felsen, wo die Sesselfelsgrotte ist. Da gibt es Fundschichten aus der Zeit der Neandertaler. Da gibt es zehntausende von Steinwerkzeugen. Es gibt die ganze Jagdbeute, es gibt Umweltdaten. Und dann gibt es aber auch Daten aus der Zeit der späteiszeitlichen Jäger und Sammler…
Sprecherin
Ein ganzer Höhlenkomplex. In der so genannten „Mittleren Klause“ war der „Mann von Neu-Essing“ bestattet. Auch wenn der „Mann von Neu-Essing“ schon 1913 eine Sensation war, als er ausgegraben wurde – die wirkliche Dimension des Fundes ist erst in den letzten Jahren deutlich geworden.
MUSIK
Sprecherin
Ein großes, interdisziplinäres Archäologenteam beginnt, den Fund nach modernsten Standards zu untersuchen. George McGlynn von der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München schaut sich zunächst die Knochen an, vermisst sie und prüft ihren Zustand. Da gibt es die nächste Überraschung für die Forscher – die eine bis dahin gültige Annahme über die Eiszeit widerlegt:
15 OT McGlynn
Der Neu-Essinger ist interessanterweise kein großer, robuster, kräftiger Kerl, wie man es vielleicht erwarten würde bei solch widrigen Lebensumständen, allein die Kälte und die Wildtiere. Wir wissen, dass der frühere Mensch, der Homo Sapiens, in Europa und auch in Afrika, wo er herkommt, in Gruppen gelebt hat – er muss in Gruppen gelebt haben...
Sprecherin
Als Gruppe zu funktionieren war der entscheidende Vorteil des Homo sapiens in der Kältezeit.
16 OT McGlynn
Vielleicht 30 Personen, ist jetzt rein spekulativ, aber damit eine kleine Gruppe von Jägern und Sammlern überleben kann, muss es diese Anzahl betragen. Sie haben ganz sicher miteinander gejagt, miteinander gesammelt, einander verteidigt, füreinander gesorgt. Und genau diese Gruppendynamik muss existiert haben, um die Überlebenschancen zu sichern. Ein Einzelkämpfer in so einer Umgebung, das gab es einfach nicht.
Sprecherin
So konnte er auch mit gerade mal ein Meter sechzig und nicht besonders muskulös gesund alt werden. Wie ausgeprägt die Muskeln waren, kann George McGlynn an Veränderungen und Verfärbungen auf der Knochenoberfläche erkennen.
17 OT McGlynn
Unser Neu-Essinger Mann ist eigentlich ein kleiner, grazil gebauter Mann, er hat auch kaum irgendeine nennenswerte Knochenveränderung, was auf Gewalt oder Verletzungen hindeuten würde. Und ist aber trotzdem fast 50 Jahre alt geworden.
Sprecherin
George McGlynn schätzt sein Sterbealter, indem er sich anschaut, wie sehr die Backenzähne und Beckengelenke abgenutzt sind. Demnach ist der Mann von Neu-Essing mit zirka 50 Jahren deutlicher älter geworden als Forscher das bislang für Menschen aus der Eiszeit angenommen haben – mit einem Durchschnittsalter von 30 bis 35 Jahren. Knochen und Zähne des Neu-Essingers sehen mustergültig aus, stellt Archäologe George McGlynn fest.
18 OT McGlynn
Er hatte auch keine so genannten physiologischen Stressmarker. Zum Beispiel, wenn im Kindesalter, wenn sich der Zahnschmelz vom Dauergebiss entwickelt, lang anhaltende Fieber oder Unterernährung oder schwere physiologische Stresse leiden, unterbricht der Körper den Entwicklungsprozess. Und das führt zu einer Verzögerung von dieser Bildung von Zahnschmelz. Diese Verzögerung führt dazu, dass man wellenartige Linien an den Zähnen sieht. Das ist ein Beispiel.
MUSIK
Sprecherin
George McGlynn konnte noch mehr herausfinden: Wo der Mann von Neu-Essing unterwegs war. Mit der so genannten Stronziumanalyse. In Knochen ist unter anderem auch Stronzium enthalten. Je nachdem, welche Nahrung ein Mensch zu sich nimmt, auf welchem Boden die Pflanzen gewachsen sind, die er isst, oder welche Luft er atmet, welche Temperaturen ihn umgeben haben, lagern sich andere Varianten der Elemente im menschlichen Körper ab – auch in Knochen und Zähnen, die Archäologen zehntausende Jahre später noch finden können. Diese chemische Varianz macht sich die Archäologie zu nutze.
19 OT McGlynn
Ich stamme persönlich aus den USA, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Das hat sich in meinen Knochen und meinen Zähnen verfestigt als Baustein und in den Zähnen, was Zahnschmelz wird. Diese werden nicht abgebaut, sie verändern sich nicht, sie sind praktisch amerikanische Zähne. Aber meine Knochen, die bauen sich ständig um. Jeden Tag, jede Minute. Binnen zehn Jahren sind alle Baustoffe in einem Knochen komplett ausgetauscht. Ich habe keine Spur von amerikanischen Knochen in mir. Wenn man meine Zähne und Knochen vergleichen würde auf chemischer Ebene, würde man sofort sehen: Dieser Mensch ist woanders geboren und aufgewachsen als wo er jetzt ist.
Sprecherin:
Archäologen können feststellen, in welcher Gegend ein Mensch gelebt haben muss, indem sie die chemischen Signaturen seiner Zähne und Knochen vergleichen mit Funden aus verschiedenen Regionen. Und wenn die chemische Signatur von Zähnen und Knochen gleich ist, wie beim Mann von Neu-Essing, wissen sie: Er ist zeitlebens in einer ähnlichen Gegend geblieben.
20 OT McGlynn
Allerdings heißt es nicht, dass er sich nicht bewegt hat. Jäger und Sammler haben sich mit den Saisonen sehr stark bewegt, an die Kältezeit, Wärmezeit, sie haben sich auch an die Herden angepasst, an die Bewegung von Tieren.
Sprecherin
Auch wissen die Forscherinnen und Forscher mehr über seinen Speiseplan. Durch die Isotopen-Analyse. Dabei werden erneut chemische Elemente in den Knochen untersucht. Wie zum Beispiel Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff. Sie unterscheiden sich voneinander durch die Anzahl der Neutronen. Diese Varianten eines Elements heißen Isotope.
21 OT McGlynn
Für Ernährung ist es wichtig, eine Isotopie-Karte von der Gegend zu machen. Das heißt, wir nehmen Pflanzen, Tiere, Erdproben, Knochenfunde aus der Zeit. Und wir untersuchen diese zuerst und kriegen für Kohlenstoff eine gewisse so genannte Signatur, was für Wollnashorn, für Mammut, für alle Rothirsche, für Gräser oder Baumrinde spezifisch ist.
Sprecherin
Die Isotopenwerte haben beim Mann von Neu-Essing ergeben, dass er eine Allround-Ernährung hatte: Er nahm Großwild wie Mammuts und Riesenhirsche genauso zu sich wie Hasen oder Eichhörnchen. Auch Schnecken, Raupen, Frösche, Beeren, Gräser, Kräuter und Fisch.
MUSIK
Sprecherin
Doch wer war der „Mann von Neu-Essing“? Darauf gibt die Genetik Antwort.
22 OT McGlynn
Die übliche Darstellung von Jägern und Sammlern aus dieser Zeit weicht sehr stark ab phänotypisch, wie er ausgesehen hat, von dem, was wir gefunden haben durch die molekulargenetischen Untersuchungen, die in Mainz von meinem Kollegen Burger und Team durchgeführt wurden. Diese Methoden gibt es erst seit vielleicht einem Jahrzehnt. Sein Aussehen ist mit bis zu 98, 99 Prozent dunkelhaarig, mit dunklen Augen, aber auch dunkler Hautfarbe, und die übliche Darstellung von den nordisch ausschauenden Menschen stimmt einfach nicht. Wir sehen, dass diese Wanderung aus der so genannten out of Africa-Theorie mit hundertprozentiger Sicherheit auch zutrifft. Diese Homo-Sapiens-Gruppen sind vor etwa 50.000 Jahren aus Afrika in zwei Wellen nach Europa ausgebreitet.
Sprecherin:
Auch die Vorstellung, davon, wie „Ötzi“ ausgesehen hat, ist übrigens erst 2023 durch die Gen-Analyse korrigiert worden: Auch die berühmte Gletschermumie aus den Südtiroler Alpen hatte dunkle Haut, dunkle Augen, dunkle Haare. Und Ötzi ist rund 30.000 Jahre jünger als der „Mann von Neu-Essing“. Die dunkle Hautfarbe der ersten Menschen in Europa hat sich also viel länger gehalten als bislang angenommen. Auch die Darstellung des Ötzi im Museum muss jetzt korrigiert werden. Dort steht immer noch eine Gestalt mit heller Haut. Die ersten Europäer – sie waren auf jeden Fall dunkelhäutig.
MUSIK
Sprecherin:
Und auf die Archäologinnen und Archäologen warten noch weitere Überraschungen. Jetzt hat ein Forscherteam von 125 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die bislang umfangreichste Genom-Analyse eiszeitlicher Jäger und Sammler in Europa begonnen: 116 Individuen, die eine Zeitspanne von rund 30.000 Jahren abdecken. Professor Cosimo Posth ist Paläogenetiker an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen und leitet das Projekt. Ihn hat erstaunt, dass die eiszeitlichen Homo Sapiens genetisch längst nicht so einheitlich waren wie bislang angenommen. Es gab ihn nicht: DEN Eiszeit-Menschen. Besonders drastisch zeigt sich das an einem Beispiel. Lange haben sich Archäologen gefragt: Was ist eigentlich mit den ersten Menschen in Europa passiert, als sich die Eispanzer von Norden her weiter ausgebreitet haben, vor 25.000 bis 19.000 Jahren? Als viele Gebiete, auch im heutigen Bayern, unbewohnbar wurden? Eine Theorie war: Sie gingen ins heutige Italien. Das hat sich zwar bewahrheitet. Doch was dann geschehen ist, damit hatte Cosimo Posth nicht gerechnet: Die komplette Bevölkerung starb aus. Die Menschen, die danach im heutigen Italien lebten und nachweisbar zu unseren Vorfahren gehören, haben genetisch nichts mit den aus dem Norden zugewanderten Eiszeitmenschen zu tun.
24 OT Cosimo Posth
Wo ist der Ursprung der Population, die uns mehr als zehn Prozent der DNA gegeben hat?
MUSIK
Sprecherin:
Die Spurensuche geht weiter für die Archäologinnen und Archäologen. Sicher ist: Eiszeitmenschen gehören zu unseren Vorfahren, doch wie sich das genetisch darstellt, stellt sich heute komplexer dar, als jemals zuvor.
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Gladiatorenspiele, Tierkämpfe und Schiffsschlachten - die Veranstaltungen im Kolosseum sollten unterhalten und die Macht des Kaisers feiern. Genauso wie der Bau - ein architektonisches Meisterwerk der Antike. Von Lukas Grasberger (BR 2020)
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Friedrich Schloffer, Jerzy May, Marlene Reichert
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Marcus Junkelmann: Historiker und Experimentalarchäologe, Mainburg
Dr. Heinz-Jürgen Beste: Archäologe, Deutsches Archäologisches Institut, Rom
Marie Jackson: Professorin für Geologie und Geophysik, University of Utah
Martin Crapper: Professor für Maschinenbau und Bauingenieurwesen, Northumbria University, Newcastle
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.
Credits
Autor: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Jerzy May, Christopher Mann, Florian Schwarz, Benjamin Stedler, Peter Veit und Hemma Michel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak
Im Interview: Bertrand Badie, Stephan Lessenich, Thomas Gomart, Abubakar Umar Kari, Heinrich August Winkler, Anne Applebaum, Joseph Henrich, Sadiq Abba
Linktipps:
Deutschlandfunk (2024): Wie Amerika Weltmacht wurde
Der deutsche Blick auf die USA ist geprägt von Bewunderung, Kritik und Klischees. Manche fragen sich: Spinnen die Amis? In dieser Serie liefern wir historische Erklärungen für transatlantische Missverständnisse. Folge eins: Amerika als Weltpolizist. JETZT ANHÖREN
SWR (2023): Die Zukunft der NATO – Wohin entwickelt sich das westliche Verteidigungsbündnis?
Zerstritten und nur bedingt einsatzfähig - diesen Eindruck hat die 1949 gegründete Nato lange gemacht. Mit dem Ukraine-Krieg scheint sich das westliche Verteidigungsbündnis wieder gefangen zu haben. Dennoch bleiben eine Menge Fragen: Wie geht die frisch erweiterte Nato künftig mit Russland um? Wo liegen die nächsten militärischen Hotspots? Was ist von den sich abzeichnenden Anti-Natos im Osten zu erwarten? Und wer folgt den USA in der Führungsrolle nach? JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
SPRECHER
In dieser Serie über den Westen stellen wir große Fragen. Im ersten Teil haben wir erläutert, wer wir eigentlich sind, im zweiten Teil wie andere auf den Westen schauen.
MUSIK
Jetzt kommt der dritte und letzte Teil: Der Westen – Und die Frage: Was kann aus ihm werden?… Ich bin Jean Marie Magro. Wo ist also der Platz des Westens in einer Welt, die sich stetig verändert und in der die Ordnung der Nachkriegszeit ins Wanken gerät? In den ersten beiden Folgen haben wir viel über Werte, Psychologie und Ökonomien westlicher Staaten gesprochen, aber kaum über einen Aspekt, der elementar ist für die Stärke des Westens: seine Verteidigungsfähigkeiten. Es gibt verschiedene Gründe, warum nach dem Zweiten Weltkrieg Europäer und Nordamerikaner in Frieden leben und Wohlstand schaffen konnten. Einmal, weil sie Allianzen schlossen, sich nicht mehr bekriegten und zusammenarbeiteten. Aber auch, weil Feinde sich nicht trauten, sie anzugreifen. Die USA sind mit Abstand die größte Militärmacht der Welt, die Nato die stärkste Militärallianz. Fast alle westlichen Staaten sind Mitglieder des Bündnisses. Wobei auch die Türkei der Nato angehört, die nicht als westlicher Staat gewertet werden kann. Die Stärke der Nato, ihre Abschreckungsfähigkeit, gründet auf dem Artikel 5 ihres Vertrags: Wird ein Mitglied angegriffen, stehen ihm alle zur Seite. Ein Angriff auf das Baltikum bedeutet einen Angriff auf Washington. So die Idee. Aber was passiert, wenn der Präsident des stärksten Mitglieds das Bündnis infrage stellt, es „obsolet“ nennt?
1 Donald Trump, 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
Einer der Präsidenten eines großen Landes fragte: „Sir, wenn wir nicht zahlen und von Russland angegriffen werden, werden Sie uns verteidigen?“ Ich sagte: „Sie haben nicht gezahlt, Sie sind Straftäter? Nein, ich werde Sie nicht beschützen. Ich würde Russland sogar dazu ermutigen, das zu tun, was zur Hölle es auch machen möchte. Zahlen Sie Ihre Rechnungen.“ Und das Geld sprudelte nur so herein.“
MUSIK
SPRECHER
Donald Trump erzählt hier von einem angeblichen Nato-Gipfel. Ob die Begegnung tatsächlich so stattgefunden hat, spielt hier gar keine Rolle. Trump stellte ab Frühjahr 2017 an die Nato vor große Herausforderungen, drohte sich aus dem Bündnis zurückzuziehen, wenn Länder wie Deutschland nicht - wie eigentlich zugesagt – zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben. Ende 2019, als es auch noch Streit zwischen Frankreich und der Türkei gab, diagnostizierte der französische Präsident Macron den „Hirntod“ der Allianz. Dabei ist die Nato für viele europäische Länder die wichtigste Sicherheitsgarantie, der Schild vor einem möglichen russischen Einmarsch, sagt Anne Applebaum, Kolumnistin beim amerikanischen Magazin „The Atlantic“:
2 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Menschen wie Trump könnten dieser Praxis ein Ende setzen und zwar wesentlich schneller, als viele denken. Natürlich gibt es einen Vertrag und Verpflichtungen, aber allein, wenn man sagt: ‚Ich, der Präsident, werde Polen nicht verteidigen, wenn es angegriffen wird‘, eröffnet er den Russen die Möglichkeit, es zu tun. Das ist meiner Meinung die größte Gefahr für den Westen.
SPRECHER
Donald Trump wurde nun erneut zum Präsidenten gewählt. Und er wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch wieder mächtig Staub aufwirbeln. Die Republikaner wollen nicht mehr, wie unter George W. Bush, den Weltpolizisten spielen, sondern sich auf die USA zurückbesinnen. Isolationismus ist das Schlagwort. Aber auch die Demokraten fordern die Europäer dazu auf, eigenständiger, souveräner zu werden, dass sie sich mehr um ihre eigene Sicherheit kümmern sollen. Der Pazifik verlangt mehr Aufmerksamkeit, vor allem der Systemrivale China. Die Welt von morgen wird anders aussehen als die von heute, ist der französische Politikwissenschaftler Bertrand Badie überzeugt. Und ohnehin, meint Badie, zwinge die Globalisierung die westlichen Länder, sich von den Logiken der Nachkriegsordnung zu verabschieden und den Ländern des Globalen Südens - China, Indien, Südafrika, Brasilien und vielen mehr - auf Augenhöhe zu begegnen:
3 Bertrand Badie, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris
Wie all diese aufstrebenden Länder müssen wir im Westen lernen, uns von dem Begriff Allianz zu verabschieden, der altmodisch und auch gefährlich ist, weil er andere ausschließt: Die NATO ist das wichtigste Militärbündnis, das es in der Welt gibt. Das Ergebnis ist, dass sie von allen, die außerhalb stehen, als etwas bezeichnet wird, das sich nur um sich selbst kümmert und eine ständige Bedrohung darstellt. Russland nutzt das böswillig aus. Aber die Länder des Südens verstehen die Sprache Putins, weil sie sehen, dass die alten europäischen Mächte weiterhin dieses aggressive Eigenleben pflegen, das sich in einem Militärbündnis ausdrückt. Daher muss das Wort Bündnis durch Partnerschaft ersetzt werden.
SPRECHER
Die Kommunistische Partei in China, sagt Bertrand Badie, schließe niemals Allianzen, weigere sich sogar den Begriff in den Mund zu nehmen. In anderen Teilen der Welt besiegeln Länder zwar Handelszonen, verzichten aber meist auf Allianzen, die andere ausschließen. Getreu einem alten Zitat, das Charles de Gaulle während des Zweiten Weltkriegs zugeschrieben wird: „Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.“ Derselbe de Gaulle unterzeichnete zwei Jahrzehnte später den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Doch welche Vorteile sollen losere Partnerschaften im Verhältnis zu Allianzen bieten? Bertrand Badie:
4 Bertrand Badie, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris
Partnerschaften mit jedermann zu entwickeln, bedeutet nicht, sie zu heiraten. Es ist wie mit der freien Liebe im privaten Bereich. Je nach Umständen wechseln Sie den Partner, was die Grundlage für ein neues Gleichgewicht in der Welt schaffen könnte. In einer globalisierten Welt akzeptiert jeder, mit jedem zu arbeiten. Gerade befinden wir uns noch in einer Welt der Vertikalität.
MUSIK
SPRECHER
In der internationalen Staatengemeinschaft, meint Bertrand Badie, gebe es immer noch zu große Ungleichheiten. Früher redete man in westlichen Staaten noch häufiger über die Erste, Zweite und Dritte Welt, was viele als abfällig empfanden. Diese Ungleichbehandlung, meint Badie, ist in der Architektur der Nachkriegsordnung angelegt. Auffällig sei sie bei den Vereinten Nationen. Zwar sollen diese für Austausch und Interessensausgleich sorgen, doch gibt es immer Ungleichgewichte. Von den fünf permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrates mit Veto-Recht sind drei westlich: die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich. Der Soziologe Stephan Lessenich denkt, wenn westliche Staaten sich nicht darum bemühen, anderen Teilen der Welt mehr auf Augenhöhe zu begegnen, werde der Westen automatisch unbedeutender. Internationale Organisationen müssten demokratisiert werden, fordert Lessenich, auch, wenn das dann massive Konsequenzen für den „alten Westen“ hätte:
5 Stephan Lessenich, Professor Soziologie Uni Frankfurt
Das würde ja auch da heißen "One Man, One vote" - dass man das abbildet. Die Struktur der Weltgesellschaft in eine Institutionordnung, in der natürlich dann der Westen peripherisiert wird oder provinzialisiert wird, das wäre die Folge davon. Dass der Westen dann nicht mehr, keine Ahnung, 50, 40, 30% Stimmanteile hat, sondern eben deutlich weniger.
SPRECHER
In der Welt von morgen, sind Badie und Lessenich überzeugt, sollten westliche Staaten also nicht mehr tonangebend sein, sondern eine von vielen gleichberechtigten Parteien. Beharren sie weiter auf der alten Logik, fachen sie nur die Abneigung an, die ihnen jetzt schon entgegengebracht wird. Auf lange Sicht ein gefährliches Szenario, das den Wohlstand des Westens erst recht gefährden könnte.
MUSIK
Aber wie sieht eine gerechtere, eine partnerschaftliche Welt aus? Sollte jedes Land, egal wie groß es ist, eine Stimme haben? Ginge es danach, hätten drei Viertel der Staatengemeinschaft den russischen Großangriff am 24. Februar 2022 auf die Ukraine verurteilt. ((Ähnlich deutlich wäre das Ergebnis, ginge es nach der wirtschaftlichen Stärke der Länder.)) Nehmen wir aber die Größe der Bevölkerungen, so wäre die Sache nicht mehr eindeutig. Länder wie China, Indien, Vietnam, Südafrika, Pakistan und Iran enthielten sich. Zählt man die Staaten dazu, die bei der Abstimmung abwesend waren, haben die Vertreter von 4,6 Milliarden Menschen der Resolution ES-11/1 nicht zugestimmt. Das ist mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Das heißt nicht, dass diese Staaten Russlands Einmarsch ausdrücklich befürworten würden. Aber sie haben eben nicht öffentlich verurteilt. Jedenfalls zeigt diese Zahl: Der Westen ist nicht die Welt. Dass gehandelt werden muss, darüber sind sich eigentlich alle einig. Aber wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Erwartungsgemäß liegt die Antwort nicht leicht auf der Hand: So hat unter deutsch-namibischer Führung die Vollversammlung der Vereinten Nationen Ende September den sogenannten Zukunftspakt angenommen. Sicherheitsrat und globale Finanzarchitektur sollen reguliert werden, damit Länder des Globalen Südens leichter an Kredite kommen. Klingt vage, für Kritiker ist es der kleinste gemeinsame Nenner. Doch selbst gegen diesen stimmte Russland. Es hat schon mehrere Initiativen gegeben, den Einfluss von nicht-westlichen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zu steigern. Sogar angetrieben vom Westen, berichtet Thomas Gomart von der Pariser Denkfabrik Ifri. Doch diese Vorstöße scheiterten häufig an den aufstrebenden Ländern selbst - im folgenden Beispiel an China:
Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris
Frankreich befürwortet als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, dass dieser um vier Länder erweitert wird. Nur ist es nach Ansicht von China inakzeptabel, dass Indien oder Japan in den Sicherheitsrat aufgenommen werden.
MUSIK
SPRECHER
Trotzdem wird China in den Ländern des Globalen Südens oft als fairerer und besserer Partner wahrgenommen als die USA oder ehemalige Kolonialmächte wie Frankreich und das Vereinigte Königreich. China wirbt damit, dass es einst von denselben Ländern unterworfen wurde wie Staaten im Nahen Osten oder in Afrika. China investiert. Zugstrecken, Staudämme, Flughäfen, Raffinerien, ja sogar Fußballstadien baut es in Afrika. Inzwischen hat Peking die USA und Frankreich als ersten Handelspartner des Kontinents abgelöst. 170 Milliarden Dollar beträgt das Volumen. Dafür sichert sich China wichtige Rohstoffe, die es braucht, um zum Beispiel Elektroautos zu bauen. Wir sind wieder bei dem Punkt angekommen, den wir schon in der zweiten Folge angerissen haben. Das Zitat der aus Nigeria stammenden Generaldirektorin der Welthandelsorganisation WTO, Ngozi Okonjo-Iweala: „Wenn wir mit China reden, bekommen wir einen Flughafen. Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Der nigerianische Politikwissenschaftler Abubakar Umar Kari fordert, der Westen müsse sein Verhältnis mit den ehemaligen Kolonien auf neue Füße stellen:
7 Abubakar Umar Kari, Professor Politikwissenschaften Uni
Und zwar durch Kooperationen und Partnerschaften, die für beide Seiten vorteilhaft sind, und kein einseitiges, parasitäres Verhältnis, das die Beziehungen in der Vergangenheit geprägt hat.
MUSIK
SPRECHER
In dieser Forderung schwingen zwei Vorwürfe mit: Der erste lautet, selbst Jahrzehnte nach dem Kolonialismus beute der Westen weiterhin den Kontinent aus. Aber afrikanischen Staatschefs und Intellektuellen geht es auch um die Werte, die der Westen proklamiert. Hilfen würden zurückgehalten, dringend benötigte Infrastrukturprojekte auf Eis gelegt, wenn westliche Staaten Defizite bei Rechtsstaat und Demokratie feststellten. Dabei, wenden Kritiker wie Abubakar Umar Kari ein, seien diese Werte von Nordamerikanern und Europäern. Denkt man diesen Vorwurf zu Ende, bedeutet das, dass zum Beispiel die Menschenrechte nicht universell sind und damit nicht für alle Menschen gelten würden. Dem widerspricht Thomas Gomart entschieden. Niemand werde gerne gefoltert, Punkt. Nur weil eine kleine Gruppe diese Werte erfand, ändere das nichts an ihrer Allgemeingültigkeit, so der Franzose. Trotzdem tut sich der Westen schwer, diese Werte einzufordern. Der Historiker Heinrich August Winkler:
8 Heinrich August Winkler, Historiker
Die westlichen Demokratien können ihre Werte niemandem aufzwingen, sie können aber immer für die unveräußerlichen Menschenrechte werben und sich für ihre weltweite Einhaltung einsetzen. Glaubwürdig wirkt das Engagement für die westlichen Werte freilich nur, wenn sich die Demokratien des Westens selbst an ihre Werte halten und selbstkritisch mit ihren Verstößen dagegen ins Gericht gehen. Die westlichen Demokratien dürfen nie mehr versprechen, als sie halten können.
MUSIK
SPRECHER
Nur wer seine eigenen Werte einhält, kann anderen vorwerfen, sich nicht an diese zu halten. Dafür ist entscheidend, dass westliche Länder afrikanische, südamerikanische oder asiatische nicht von oben herab behandeln. Allerdings müssen westliche Staaten auch lernen, mit Parteien umzugehen, die sich selbst häufig widersprechen, wenn es ihrer Erzählung passt, sagt der französische Historiker Thomas Gomart. Auf der einen Seite fordern nämlich Staaten des Globalen Südens, der Westen solle sich zurückhalten, dem Rest der Welt mehr Raum einräumen. Er habe viele Krisen auf der Welt zu verantworten, in Afrika, in Südamerika, im Nahen und Mittleren Osten. Der Interventionismus westlicher Staaten habe Weltregionen in Kriege und Krisen gestürzt. Gleichzeitig aber beklagen sich oft dieselben Länder, wenn der Westen sich in geopolitischen Fragen zurückhält. Ob im Nahostkonflikt, in Syrien, Jemen oder im Sahel: Wenn sich der Westen nicht einschaltet, scheint es genauso falsch zu sein, wie wenn er es tut.
MUSIK
Der Westen muss neue Logiken aufbauen, meint Thomas Gomart. Er muss aber auch die an Konflikten beteiligten Parteien dazu ermuntern, selbst Lösungen zu finden. Seine eigenen Allianzen dagegen über Bord zu werfen, davon rät der französische Historiker ab. Brasilien, einige afrikanische Staaten, aber auch Indien verfolgen laut Gomart einen transaktionalen Ansatz. Sie schließen keine Allianzen, sondern machen Geschäfte mit allen. Indien zum Beispiel kauft französische Kampfflugzeuge, verurteilt jedoch nicht den russischen Einmarsch in der Ukraine. Klingt rational, birgt aber Risiken, meint Gomart – speziell für Deutschland.
9 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris
Dieser Ansatz breitet sich zwar aus, er hat aber auch Grenzen. Und das sieht man speziell beim Thema Sicherheit in Europa. Die meisten Mitgliedsstaaten sind angewiesen auf die Sicherheit, die ihnen die EU und die Nato bieten. Das trifft ganz besonders auf Deutschland zu. Deutschlands Sicherheit hängt von der Nato ab.
SPRECHER
Man kann, man muss mit allen reden und in einer multipolaren Welt Beziehungen zu allen pflegen. Doch geht es um das Überleben des Staates und seiner Bürger, sei es wichtig, sein Lager nicht zu verlassen, meint Thomas Gomart. Sicherheit beschränkt sich dabei nicht allein auf einen militärischen Angriff eines feindlichen Staates. Es geht auch darum, dass jeder einzelne Staat seine Bürgerinnen und Bürger bestmöglich vor Risken und Gefahren schützen und Ängste ernst nehmen soll. In westlichen Ländern werden dabei häufig Debatten über Zuwanderung geführt. Ein großes Thema: Die Sorge vor einer Veränderung, gar Gefährdung der westlichen Kultur durch Migration von Menschen, die mit anderen als westlichen Werten aufgewachsen sind. Vor allem aus patriarchalisch geprägten islamischen Kulturen. Einige politische Kräfte, nicht nur extremistische, kritisieren zuviel Einwanderung. Diese gehe mit hörerer Kriminalität einher und verändere die Gesellschaften zum Schlechteren. Erfolgsgeschichten, die es auch im großen Stil gibt, werden dabei meistens unterschlagen.
MUSIK
Tatsache ist, dass der Anteil an Zuwanderern an der Gesamtbevölkerung wesentlich höher ist als in anderen Teilen der Welt. So sei in Europa, so die Internationale Organisation für Migration, fast jeder Achte zugewandert, lebe also in einem Land, in dem sie oder er nicht geboren wurde. Binnenflüchtlinge zählen also nicht mit rein, deshalb ist die Zahl in Asien und Afrika sehr gering; nicht einmal zwei Prozent.
Mehr als 50 Millionen Migranten leben in den USA, viele kamen aus Lateinamerika.
MUSIK
Politikerinnen und Politiker in westlichen Ländern wie Donald Trump, Viktor Orban und Marine Le Pen, beschreibt Anne Applebaum, bedienen sich der Ängste vieler Menschen vor Zuwanderung und Veränderungen. Sie trügen eine nationalistische Erzählung vor, sagt die Kolumnistin und Historikerin. In einer Zeit des schnellen Wandels versprechen sie die Rückkehr in eine Vergangenheit, in der alles gut gewesen sein soll:
10 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Es ist kein Zufall, dass viele politische Bewegungen nicht über die Zukunft sprechen, sondern in die Vergangenheit blicken. Make America great again ist ein Paradebeispiel dafür. Diese Politiker bedienen Nostalgie und sprechen von Revivals/Wiederaufleben. Das ist die Auswirkung eines sehr, sehr schnellen sozialen, politischen, demografischen und wirtschaftlichen Wandels.
SPRECHER
Der alte und neue Präsident Donald Trump versprach seinen Landsleuten im Wahlkampf, sich wieder auf sie zu besinnen. America first, les Francais d’abord, Deutschland zuerst. Diese Erzählung hat in vielen westlichen Staaten mal mehr, mal weniger Erfolg. Ein großes Problem unserer derzeitigen politischen Debatten im Westen, meint Applebaum, sei es, dass viele den innenpolitischen Wettstreit mit kriegsähnlichen Zuständen gleichsetzten. Es gehe um Gut gegen Böse, den Untergang des Abendlandes, das Ende der Zivilisation:
11 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Und genau hier wird es gefährlich, denn Politiker können Identitäten nicht ändern, sondern sich nur darüber aufregen. Wir sollten uns dafür stark machen, dass sich die Politik um Probleme kümmert, die sie lösen kann. Das Gesundheits- und das Bildungssystem, Straßen und Schulen. Wenn Sie es schaffen, die Debatte dorthin zurückzubringen, bekommen Sie eine normalere Politik.
SPRECHER
Egal ob in den USA, Frankreich oder Polen: Politik müsse wieder normaler werden, sich auf wesentliche Politikfelder konzentrieren, fordert die Historikerin, die 2024 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde.
MUSIK
Die Welt setzt sich neu zusammen – und wo ist unser Platz? Der Platz des Westens? Von Gesellschaften, die in den vergangenen Jahrhunderten entscheidend dazu beitrugen, dass die Welt auf verschiedene Weisen revolutioniert wurde. Sei es gesellschaftlich oder auch technologisch. Vielleicht ist an dieser Stelle, so kurz vor dem Ende dieser dreiteiligen Serie, die Zeit für eine Zusammenfassung gekommen. In der ersten Folge ging es um die Grundpfeiler des Westens, warum Menschen aus westlichen Ländern nicht „normal“, sondern „seltsam“ sind, wie der Harvard-Anthropologe Joseph Henrich sagt:
12 Joseph Henrich, Humanbiologe Universität Harvard
In einigen Regionen der Welt ist besonders wichtig, wie man sich anderen gegenüber präsentiert. Es geht darum, das Gesicht zu wahren, darum wie ein Netzwerk von Personen über Sie als Individuum denkt. (…) In westlichen Gesellschaften müssen Sie sich dagegen abheben und von anderen unterscheiden, um erfolgreich zu sein.
SPRECHER
Es ging außerdem um Gewaltenteilung, um Checks and Balances, um Vertrauen in unabhängige Institutionen. Die zweite Folge handelte davon, warum andere Teile der Welt Kritik am Westen üben. Besonders prägnant fasste das Sadiq Abba zusammen, der nigerianische Professor für Internationale Beziehungen:
13 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja
Unsere Wahrnehmung der westlichen Welt ist die eines bösen Imperiums, das nur für sich selbst da ist. Wenn du ihre Spiele, ihre Regeln mitspielst, bleibst du für immer ein Gefangener und ein Untertan, der ausgebeutet und enteignet wird.
SPRECHER
Es ging um die Vorwürfe, die den westlichen Staaten gemacht werden. Dass sie auf der einen Seite versprechen, jeder Mensch habe dieselben Rechte und eine unveräußerliche Würde. Andererseits hatten und haben viele Entwicklungsländer den Eindruck, westliche Leben seien mehr wert als die von sagen wir Venezolanern, Maliern oder Palästinensern.
Es ging um die Ambitionen der BRICS-Staaten, insbesondere Chinas, eine neue Weltordnung aufzubauen, in der dem Westen eine kleinere Rolle zukommen soll. Und natürlich ging es auch um die Bedrohungen des westlichen Projekts aus dem Inneren: Wie stark werden Demokratie, Rechtsstaat und internationale Zusammenarbeit von Autokraten bedroht, die durch Wahlen an die Macht kamen – oder kommen könnten?
MUSIK
Jahrhundertelang hat der Westen die globale Wirtschaft dominiert. Der Westen hat andere Teile der Welt unterworfen und ausgebeutet, Grenzen gezogen, die bis heute Krieg und Zerstörung nach sich ziehen. Man nehme nur den Nahen Osten mit den Grenzziehungen der Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg. Das kapitalistische Wirtschaftssystem und der Energiehunger der Menschen fördern einen solchen Raubbau an der Erde, dass wir inzwischen fast zwei brauchen, um unseren Wohlstand aufrechtzuerhalten. Aber der Westen brachte auch große Errungenschaften hervor: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. In Europa wurden aus Erbfeinden Freunde, Frieden wurde geschlossen, internationale Zusammenarbeit gefördert, es entstand technologischer Fortschritt, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hatte.
Im Laufe der Jahrtausende gab es immer wieder Zivilisationen, die einen Vorsprung hatten und ihn einbüßten, gar verschwanden. Die alten Ägypter, Griechen und Römer, das Osmanische Reich oder China etwa, das heute seinen alten Platz für sich beansprucht. Wird es dem Westen ähnlich ergehen, dessen Bevölkerung immer kleiner und älter wird? In Deutschland hat sich wahrscheinlich niemand so intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt wie der Historiker Heinrich August Winkler. Und so ist es für mich nur logisch, dass ich ihm das letzte Wort lasse:
14 Heinrich August Winkler, Historiker
Der Westen hat seine weltpolitische und weltwirtschaftliche Dominanz längst verloren, aber die Anziehungskraft der Ideen von 1776 und 1789, also der Ideen der Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der repräsentativen Demokratie - diese Anziehungskraft hält unvermindert weltweit an.
MUSIK
Ich bin Jean-Marie Magro, und das war „Der Westen“.
Mit der dritten und letzten Folge: Was kann aus ihm werden?
Alle drei Folgen gibt’s in unserem Feed „Alles Geschichte“ - in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. Da können Sie auch „Alles Geschichte“ abonnieren.
Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.
Credits
Autor: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Jerzy May, Christopher Mann, Florian Schwarz, Benjamin Stedler, Peter Veit und Hemma Michel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak
Im Interview: Joseph Hendrich, Sadiq Abba, Abubakar Umar Kari, Bertrand Badie, Stephan Lessenich, Thomas Gomart, Heinrich August Winkler, Anne Applebaum, Yasheng Huang
Linktipps:
Deutschlandfunk (2023): Putin und der Westen – Strategien der Destabilisierung
Der russische Präsident Wladimir Putin tut alles, um sich aus der Schlinge der Kriegsfolgen zu winden und seine Partner auf eine neue Allianz einzuschwören. Das gemeinsame Ziel: dem Westen schaden. Aber was hat Westen dem entgegenzusetzen? JETZT ANHÖREN
ARD alpha (2022): China und wir
Innerhalb von wenigen Jahrzehnten haben sich die Machtverhältnisse zwischen China und Deutschland fundamental verschoben. Aus dem einstigen Empfängerland deutscher Entwicklungshilfe ist eine Weltmacht geworden, wirtschaftlich und politisch. Unsere Abhängigkeit von China würden wir gern verringern - aber in welchem Maß ist das überhaupt möglich? alpha-demokratie befasst sich mit den zentralen Fragen und Entwicklungen unserer Demokratie in einer unruhigen Welt - über die Aktualität hinaus. JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, das sind, so behaupten viele, historische Errungenschaften des Westens. Gegen diese Werte kann man doch gar nichts haben, denken viele. Aber so einfach ist es nicht. Ich bin Jean-Marie Magro und das ist: Der Westen – Eine Überlegung in drei Teilen. Folge 2: Wie uns die anderen sehen. In vielen Teilen der Welt wird das Auftreten des Westens als anmaßend und belehrend wahrgenommen. Andere gehen sogar so weit zu sagen, die internationale Weltordnung sei von westlichen Staaten allein zu deren Vorteilen errichtet worden und müsse umgebaut werden. 2023 ging ein Zitat um den Erdball, ein Satz der aus Nigeria stammenden Generaldirektorin der Welthandelsorganisation WTO, Ngozi Okonjo-Iweala. Sie sagte auf einer Botschafterkonferenz im Auswärtigen Amt in Berlin: „Wenn wir mit China reden, bekommen wir einen Flughafen. Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Joseph Henrich, Harvard-Professor für biologische Anthropologie und Autor von „Die seltsamsten Menschen der Welt“, kam schon in Folge eins zu Wort. Als ich den Satz zitiere, muss er lachen:
1 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard 10
„Ja, ich glaube, das ist wahr. Und eines der Dinge, die ich in dem Buch versucht habe anzusprechen, ist, obwohl die allgemeinen Menschenrechte für mich einfach zu verstehen und wichtig sind: Es ist nicht so, dass alle von ihnen überzeugt sind.“
SPRECHER
Der Westen dominiert seit Jahrhunderten Weltpolitik und Weltwirtschaft. Und, aus Sicht vieler Staaten im sogenannten Globalen Süden, zulasten der anderen. Selbst viele Jahre nach Kolonialismus und Sklaverei beuten westliche Länder noch immer andere aus – so lautet zumindest der Vorwurf. Besonders deutlich wird dieser in afrikanischen Staaten formuliert. Sadiq Abba ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Abuja, der Hauptstadt Nigerias:
2 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 5
„Wir haben genug. Afrika ist der westlichen Welt überdrüssig. Es ist sehr wichtig, dass die westliche Welt damit beginnt, offen über ihr bösartiges Verhalten gegenüber Afrika zu sprechen.“
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Sadiq Abba spitzt in seiner Kritik sehr zu: Er sagt, Zitat: Die angeblich universellen Menschenrechte haben keinen Wert, weil für die Europäer ein Menschenleben in Westafrika weniger Wert hat als ein Straßenköter in Paris. Das sind die Doppelstandards des Westens. Zitat Ende. In den vergangenen Jahren habe ich häufig aus Marokko berichtet. Dort ist mir immer wieder der Vorwurf begegnet, dass sich westliche Staaten empört zeigen, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert. Wenn aber in Afrika Menschen sterben, interessiere das die Weltgemeinschaft recht wenig. Besonders häufig wird auch der Vergleich zwischen Israel und Palästina gezogen. Hier verweisen Kritiker des Westens auf die Todeszahlen: Egal, ob man denen der Hamas glauben möchte oder nicht, klar ist: Auf palästinensischer Seite sterben viel mehr Menschen als auf israelischer. Trotzdem verurteilen westliche Staaten das Vorgehen der Netanjahu-Regierung zögerlicher als das der Hamas und liefern Israel sogar Waffen. Ein Vorwurf, der sich folgendermaßen zuspitzen lässt: Der Westen misst mit unterschiedlichem Maß. Egal, ob man sich dem Urteil anschließen will oder nicht: Es verdeutlicht, dass in einigen Teilen der Welt der Eindruck vorherrscht: Der Westen fordere andere auf, seine Regeln zu befolgen, halte sich selbst aber nur an diese, wenn sie ihm passen. Abubakar Umar Kari lehrt wie Sadiq Abba ebenfalls an der Universität Abuja. Der Politologe meint mit einem Blick auf die Geschichte:
3 Abubakar Umar Kari, Professor Politikwissenschaften Uni Abuja 5
„Die westlichen Staaten predigen Dinge, die sie nicht ernsthaft glauben. Es gibt so viele Beispiele, z. B. sprechen sie von Demokratie und Freiheit, aber sie haben in der Vergangenheit diktatorische Regime unterstützt und Militärjuntas gefördert. Sie schaffen Monopole, sorgen für Instabilitäten und sie tolerieren Despoten. Das steht im Widerspruch zu ihrem Engagement.“
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Und der Vorwurf wird noch eine Runde weitergedreht: Einer der Hauptkritikpunkte, die sich der Westen immer wieder anhören muss, ist: „Eure Werte sind nicht die unseren: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit – klingt gut, aber diese Werte habt ihr entworfen. Nicht wir.“ Bertrand Badie ist emeritierter Professor an der renommierten Pariser Hochschule Sciences Po. Er sagt:
4 Bertrand Badie 2, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris
„Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, ein sehr schönes Dokument. Es wurde von einer Kommission ausgearbeitet, in der nur Europäer und Amerikaner vertreten waren, mit zwei kleinen Ausnahmen:“
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Eine Ausnahme, so Badie, war ein Libanese, der aber als Maronit den katholischen Glauben praktizierte. Der andere war ein Chinese, der in den USA studiert hatte. Ein Ähnliches Bild liegt bei den Institutionen vor, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden: Die Vereinten Nationen mit fünf ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat, die jeweils ein Veto-Recht besitzen. Drei davon sind westlich, womit eine Machtverteilung entsteht, die weder im Verhältnis zur Bevölkerung noch zur wirtschaftlichen Stärke dieser Länder steht. Als Sonderorganisation der UN wurde auch der Internationale Währungsfonds gegründet, der Ländern in Zahlungsschwierigkeiten helfen soll, aber unter anderem wegen seiner drakonischen Sparforderungen immer wieder in der Kritik steht. Seit 1946 stammen alle seine Präsidentinnen und Präsidenten aus Europa. Ebenso eine Sonderorganisation der UN ist die Weltbank, die Entwicklungsprojekte finanzieren soll: Seit ihrer Gründung hatte nur eine Präsidentin keine US-amerikanische Staatsbürgerschaft, die Bulgarin Kristalina Georgiewa 2019, die nur kommissarisch für kurze Zeit übernahm. In den vergangenen Jahren wurden deshalb die Rufe nach einer neuen Weltordnung immer lauter. Einer Weltordnung, die nicht den Westen bevorteilt, sondern aufstrebende Mächte aus den unterschiedlichen Teilen der Welt mehr einbezieht. Das bekannteste und wahrscheinlich auch einflussreichste Bündnis haben die sogenannten BRICS-Staaten geschlossen: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Der Nigerianer Sadiq Abba setzt hierauf große Hoffnungen:
5 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 7
„BRICS Ist ein Wind der Veränderung, der 1979 angefangen hat zu blasen. BRICS steht am Ende einer langen Geschichte der unterentwickelten, der unterdrückten, der ausgebeuteten Welt. Eine Welt, die endlich aufatmen und einen Hauch von Freiheit und Wohlstand spüren kann.“
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BRICS nahm zu Jahresbeginn 2024 weitere Mitglieder auf: Ägypten, Äthiopien, die Emirate und Iran. Eigentlich sollten Argentinien und Irans Erzfeind Saudi-Arabien noch dazukommen. Argentinien lehnte ab, Saudi-Arabien prüft den Beitritt noch. Dass Länder mit so entgegengesetzten Interessen, gar offen ausgetragenen Feindschaften, sich verbünden, überrascht den Soziologen Stephan Lessenich von der Goethe-Universität in Frankfurt nicht. Er hat sich in seiner Forschung mit dem sogenannten Globalen Süden befasst. Diese vermeintlichen Partner vereint alle, dass sie, wie Lessenich es nennt, „Geschädigte westlicher Modernisierungsfantasien“ sind.
6 Stephan Lessenich, Professor Soziologie Uni Frankfurt 4
„Das rechtfertigt überhaupt nicht das chinesische Land Grabbing in Afrika oder die neuen Machtasymmetrien, die jetzt in der Weltwirtschaft entstehen. In Lateinamerika gilt ähnliches: Riesige Abhängigkeit der argentinischen Sojaindustrie von den Lieferungen nach China und so weiter. Also da verschieben sich dann auch wiederum Abhängigkeiten. Aber dass es in zentralafrikanischen Staaten keine Lust mehr gibt, sich von Frankreich irgendwie sagen zu lassen, was man zu tun und zu lassen hat, das liegt irgendwie auf der Hand und ist nachvollziehbar.“
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Bleiben wir beim Beispiel Frankreich und Afrika: Die meisten Kolonien erklärten sich in den Jahren zwischen 1956 und 1960 unabhängig. So zum Beispiel Tunesien, Marokko und auch westafrikanische Länder wie Senegal, Mali und Niger. 1962, nach einem blutigen Krieg, zog Frankreich auch aus Algerien ab. Doch noch Jahre danach bauen französische Konzerne wertvolle Ressourcen in Afrika ab. Bis Juli 2024 hatte etwa der Kernbrennstoffhersteller Orano im Norden Nigers eine Uran-Mine unterhalten, damit die französischen Atomkraftwerke versorgt sind. Der schwerwiegendste Vorwurf aber, der Frankreich in den vergangenen Jahren gemacht wurde, hängt mit der Terrorbekämpfung in Westafrika zusammen. Länder wie Mali, Burkina Faso und Niger müssen seit Jahren gegen dschihadistische Terrormilizen kämpfen. Frankreich schickte zwar Soldaten, die Attentate wurden aber nicht weniger. Das nutzte vor allem ein Land, um seinen Einfluss auszuweiten: Russland. Thomas Gomart leitet den Pariser Thinktank Institut francais des relations internationales, kurz Ifri. Er beschreibt:
7 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 4
Viele dieser Länder hatten nach ihrer Unabhängigkeit marxistisch-leninistische Regime. Ihre Führungskräfte wurden oft in Moskau ausgebildet oder haben von sowjetischen Helfern gelernt. Besonders stark ist das zum Beispiel in Mali ausgeprägt. Während wir im Westen Russland als imperiale Macht wahrnehmen, verbinden diese jungen Nationen Moskau mit ihrer Unabhängigkeit, die sie erst 1960 oder 1962 errungen haben. Das hat Russland ausgenutzt.
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Seit Jahren ist Moskau mit Paramilitärs in Afrika aktiv. Sie unterstützen die Staaten im Kampf gegen die Terroristen. Die westafrikanischen Militärregierungen wie Mali und Burkina Faso schätzen sehr, dass Putin keine Bedingungen wie demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien für seine Hilfe stellt. Dafür dürfen die Russen Minen abbauen, in denen sich seltene Erden, Gold und Diamanten befinden. Russland zeigt sich aufmerksam, liefert Waffen, schenkt Getreide und bringt Radiosender an den Start.
Doch nicht nur wegen Afrika ist Putin-Russland unbestritten eine der größten Herausforderungen für den Westen. Putin betrachtet die USA, die Europäer, die Nato als Feinde. Der Westen wolle die Entwicklung Russlands ausbremsen und es unterworfen, so Russlands Präsident. Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 sagte Putin noch im Deutschen Bundestag, der Kalte Krieg sei vorbei. Doch mit den Jahren ändert sich der Ton. Immer wieder spricht er vom dekadenten Westen und kritisiert die Nato-Osterweiterung. 2014 annektiert Russland die Krim völkerrechtswidrig, weil sich die Ukraine Europa annähern möchte. Acht Jahre später, am 24. Februar 2022, startet Putin-Russland einen Großangriff. Schuld daran sei auch der Westen, sagt Putin:
9 Wladimir Putin, Russischer Staatspräsident
„Der Westen nutzt die Ukraine als Rammbock und als Testfeld gegen Russland. Aber eines sollte allen klar sein: Je mehr Langstreckenwaffen in die Ukraine geliefert werden, desto weiter müssen wir die Gefahr von unseren Grenzen verschieben. Sie sollten sich bewusst sein, Russland ist auf dem Schlachtfeld nicht zu besiegen.“
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Den Historiker Heinrich August Winkler kam auch schon in der ersten Folge zu Wort. Er hat vier große Bände über die Geschichte des Westens geschrieben:
10 Heinrich August Winkler, Historiker 8
Putin knüpft an eine alte russische, von der orthodoxen Kirche gepflegte Tradition an. Russland sieht sich seit langem als wahrer Erbe des Christentums, von dem der aufgeklärte, liberale, der angeblich dekadente Westen vor langem schon abgefallen sei.
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Putins Vorgehen verwundert Heinrich August Winkler nicht. Es sei logisch für einen Mann, der den Zusammenbruch der Sowjetunion nie überwinden konnte:
11 Heinrich August Winkler, Historiker 9
Die Ukraine hat sich 1991, wie alle ehemaligen Sowjetrepubliken, für unabhängig erklärt und die Russische Föderation hat diese Unabhängigkeit anerkannt. Aber abgefunden hat sich Putins Russland mit der Unabhängigkeit der Ukraine nicht. Putin betreibt die Wiederherstellung eines Großrussischen Reiches, in dem kein Platz ist für eine selbstständige Ukraine. Seine Politik ist radikal-revisionistisch, ja offen imperialistisch.
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Will Putin die Sowjetunion wiederherstellen? Oder steht hinter den Partnerschaften, die er mit Iran und Nordkorea eingeht, und der Annäherung an China noch mehr? Thomas Gomart ist ebenfalls Historiker und Kenner Russlands:
12 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 3
Ich glaube, Putin hat ein Kalkül: Seiner Meinung nach befinden wir uns in einem Moment, in dem weltweit der Westen, aber vor allem Europa abgelehnt wird. Weil Europa schrumpft und an Bedeutung verliert. Putin möchte diese Situation auf brutale Weise für sich nutzen.
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In diesem Zusammenhang, nimmt Thomas Gomart an, wäre ein Erfolg für Putin:
13 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 6
Wenn sich die USA zunehmend aus Europa zurückziehen. Dadurch, dass die Europäer sicherheitspolitisch und strategisch nicht reif sind, wäre das für Putin gleichbedeutend mit einer Art Vorherrschaft über einen Teil Europas und damit könnte er China mehr auf Augenhöhe entgegentreten.
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China: Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, Exportweltmeister, Mitglied im UN-Sicherheitsrat, Atommacht… Präsident Xi Jinping verurteilt nicht die russische Invasion in der Ukraine. Das kritisierte unter anderem Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in Peking im April 2023 – und fuhr sofort die Retourkutsche ihres Amtskollegen Qin Gang ein:
14 Qin Gang, Außenminister Volksrepublik China
"Diese Meinungsverschiedenheiten sollten uns nicht davon abhalten, im Austausch zu bleiben. Aber dieser Austausch sollte auf gegenseitigem Respekt und Gleichberechtigung basieren. Was China am wenigsten braucht, sind Lehrmeister aus dem Westen."
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Was verbindet die Volksrepublik mit Putin-Russland, Iran und anderen Mächten, die sich gegen den Westen stellen? Die amerikanische Journalistin und Pulitzerpreisträgerin Anne Applebaum:
15 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin 13
„Sie sehen die liberale Welt als eine Bedrohung für sich und arbeiten zusammen, um die Verbreitung liberaler Ideen in ihrem Land zu verhindern. Und sie glauben, dass ihr eigenes Überleben davon abhängt, liberale Ideen zu unterdrücken, wo auch immer in der Welt sie zu finden sind.“
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Unter „liberalen Ideen“ fasst Applebaum vieles zusammen: Freie Wahlen, ein unabhängiger Rechtsstaat, aber auch der Schutz von Minderheiten. Gerade Letzteres wird von Putin immer wieder aufgegriffen als ein Beispiel des Verfalls des dekadenten Westens. Doch so sehr Putin und der chinesische Außenminister auch poltern: Sind sie die größte Gefahr für den Westen? Nein, findet Yasheng Huang:
16 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 6
„Sie brauchen doch nicht China, um Amerika zu untergraben. Das ist einfach lächerlich.“
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Die größte Bedrohung für westliche Demokratien, ist der Direktor des China und India Lab am MIT in Boston überzeugt, stellen antiliberale Kräfte im Westen selbst dar. Menschen, die das politische System aus dem Inneren heraus zerstören wollen. Egal ob aus Politik oder Wirtschaft. Für die USA, wo er lebt, nennt er Elon Musk als Beispiel, der auf seinem sozialen Medium X und mit seinem Vermögen eine politische Agenda verfolge. Wo hingegen liege das Problem, wenn China Brücken, Autobahnen, Zugtrassen und Häfen in Afrika baue, fragt Huang:
17 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 10
„Falls die Neue-Seidenstraße-Initiative objektiv dafür sorgen sollte, dass das Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern gefördert wird, dann sollten wir das feiern. Warum schadet es dem Westen, wenn Afrika nicht mehr in Armut und Hunger versinkt?“
MUSIK
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Können Sie sich noch an den Anfang der Folge erinnern und das Zitat der Präsidentin der Welthandelsorganisation? „Wenn wir mit China reden, kriegen wir einen Flughafen – Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Wenn Yasheng Huang diesen Satz hört, reagiert er fast schon beleidigt. Er ist Professor, verdient sein Geld mit Vorträgen und ist der festen Überzeugung, dass ein richtiger Vortrag mehr wert sein kann als ein Flughafen. So nämlich sei China von einem der ärmsten Länder der Welt zur zweitgrößten Volkswirtschaft geworden – in einem Zeitraum von nicht einmal 50 Jahren:
18 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 12
„Im Jahr 1978 wurde den Führern der Kommunistischen Partei von amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern erklärt, dass die zentrale Planung versagt habe und marktwirtschaftliche Reformen eingeleitet werden müssen. Das war ein Vortrag, kein Flughafen. Nachdem sie die Wirtschaftsreformen eingeleitet hatten, wuchs die Wirtschaft, der Staat sparte und nahm Geld ein, das dann verwendet wurde, um Flughäfen zu bauen. Ich würde sagen, dass sie zu viele Flughäfen bauen, aber das ist eine andere Diskussion.“
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Man darf das Pferd nicht von hinten aufzäumen, meint Yasheng Huang. China habe einen Vortrag bekommen – und genau zugehört:
19 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 8
„China ist reich geworden, weil es sich dem Westen angenähert hat. Ein bekanntes Zitat von Deng Xiaoping lautet: "Schauen Sie sich die Freunde der Sowjetunion an. Sie sind alle arm geworden. Die DDR, Rumänien, Polen. Und schauen sie auf die Freunde der Vereinigten Staaten, die sind alle reich geworden: Japan und Südkorea und auch Westdeutschland." Die Kommunistische Partei Chinas hat als Institution enorm von der engeren Bindung an den Westen profitiert.“
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Während die Sowjetunion zusammenbrach, weil sie die Wirtschaft nicht entwickelte und zu viel Geld für Militär ausgegeben habe, habe China wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung profitiert, so Huang. Wer aber wirtschaftlich erfolgreich ist, wolle auch mehr Macht: Wie ein Pilzgeflecht breite China sich mit seiner Neue-Seidenstraßen-Initiative auf unterschiedlichen Kontinenten aus. Eine gute Entwicklung, meint der nigerianische Professor für Internationale Beziehungen Sadiq Abba:
20 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 8
„Die Welt von morgen wird bereits ohne den Westen gebaut. Der Westen versucht nur verzweifelt, seinen Rückstand aufzuholen. Die Welt braucht den Westen nicht. Der Westen braucht die Welt.“
SPRECHER
Das sind Worte, die sitzen. Vorhin hatte Abba schon gesagt, dass BRICS ein Wind der Hoffnung sei. Die Sehnsucht, dass sich etwas ändert, ist in China, in Afrika, aber auch in anderen Regionen groß. Thomas Gomart aus Paris kann die Kritik nachvollziehen. Der Westen sei nicht unfehlbar. Trotzdem, so Gomart, müssten sich dieselben Staaten, die Vorwürfe erheben, auch welche gefallen lassen:
21 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 15
„Wir beobachten auch, dass die Führer der Länder, die den Westen heftig kritisieren, Vermögen im Westen haben, ihre Kinder hier auf Schulen und Universitäten schicken. Sie kaufen Privilegien und Sicherheit. Und das ist auch ein Paradoxon, das man ansprechen muss. Menschen machen sich auf den Weg nach Europa, nach Kanada, in die USA, in offene Systeme. Da sieht man, welch Anziehungskraft die westlichen Gesellschaften haben.“
SPRECHER
An Gomarts Argument merkt man, dass es der Debatte guttut, wenn man sie differenziert führt. Ja, die westlichen Länder haben viele Fehler gemacht und sich auf Kosten von schwächeren Staaten bereichert. Aber heißt das, dass sie für alles verantwortlich gemacht werden können? Als erstes müsse der Westen vor allem eines schaffen, meint der Leiter des Thinktanks Ifri: Entwicklungsländer als gleichwertige Partner anzuerkennen. Und Anerkennung fängt damit an, verstehen zu wollen, wie der andere die Welt sieht:
22 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 18
„Der grundlegende Unterschied zwischen dem Westen und dem globalen, ich sage lieber transaktionalen, also geschäftsorientierten Süden auf der anderen Seite ist meiner Meinung nach der historische Referenzpunkt. Wir bauen unsere Politik, unsere politische Kultur, unsere philosophischen und intellektuellen Debatten seit 1945 auf der Erinnerung an die Shoah auf. Im globalen Süden wiederum, so kommt es mir vor, ist der Referenzpunkt die Erinnerung an den Kolonialismus.“
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Natürlich müssten auch konkrete politische und wirtschaftliche Ergebnisse aus einer Zusammenarbeit folgen. Aber dem vorgeschaltet ist, so Gomart, dass der Westen nicht mehr als belehrend und anmaßend wahrgenommen werden darf. Sondern dass sich die ehemals unterworfenen Länder von denen, die sie einst beherrschten, ernstgenommen und gleichberechtigt fühlen. Der Historiker Heinrich August Winkler bleibt zuversichtlich, dass das möglich ist:
23 Heinrich August Winkler, Historiker 10
„Sklaverei und Sklavenhandel, Kolonialismus und Imperialismus, die gehören zum historischen Sündenregister des Westens. Die Geschichte des Westens war immer auch eine Geschichte von brutalen Verstößen gegen die eigenen Werte, sie ist aber auch eine Geschichte von Selbstkritik und Selbstkorrekturen, also von Lernprozessen.“
SPRECHER
Der Westen hat es über Jahrhunderte geschafft, sich immer wieder neu zu erfinden, sagt Heinrich August Winkler. Gelingt ihm das auch dieses Mal? Oder steht das, wie Winkler es nennt, „normative Projekt des Westens“ vor dem Aus? Darum wird es in der dritten und letzten Folge gehen.
Ich bin Jean-Marie Magro, und das die zweite Folge unseres Dreiteilers „Der Westen“: Wie uns die anderen sehen.
Alle drei Folgen gibt’s in unserem Feed „Alles Geschichte“ - in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. Da können Sie auch „Alles Geschichte“ abonnieren.
Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.
Korrigierte Version vom 28.11.2024
Credits
Autor: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Benjamin Stedler, Heinz Gorr, Jerzy May und Hemma Michel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak
Im Interview: Joseph Hendrich, Tappei Nagatsuki, Yasheng Huang, Sadiq Abba, Anne Applebaum
Besonderer Linktipp der Redaktion:
WDR (2024): Killing Jack – Warum der Ripper-Mythos uns nicht loslässt
Es ist der wohl bekannteste True-Crime-Fall der Welt: Jack the Ripper. Was fasziniert uns am Mythos eines brutalen Frauenmörders? Und muss die Geschichte vom Ripper heute nicht ganz anders erzählt werden? In „Killing Jack“ gehen die Hosts Caro und Jürg zurück zur Geburt des vielleicht bekanntesten Cold Case der Welt. Dem Godfather of True Crime. Sie stoßen auf brutale Fakten; fragen, wie der Mythos entstand - und versuchen ihn zu killen. Warum? Und wie das gehen soll? ZUM PODCAST
Linktipps:
ARD alpha (2019): Andere Länder, andere Verbote
Wann darf der Staat etwas verbieten? Dana Newman, gebürtige Amerikanerin, fragt nach den Grenzen der individuellen Freiheit in Deutschland. Die ist zwar in der Verfassung vielfach garantiert, aber sie endet dort, wo sie Freiheiten anderer oder das Gemeinwohl berührt. Wo diese Grenze konkret erreicht ist, darüber wird in der Demokratie oft heftig gestritten. Die Reportage zeigt verschiedene Freiheitskämpfende – von Klimaaktivisten bis zum Ernährungswissenschaftler – und zeigt, dass Fakten und Vernunft längst nicht immer entscheiden sind, wenn es um die Freiheit geht. JETZT ANSEHEN
Deutschlandfunk Kultur (2019): Warum sich der Westen neu erfinden muss
Viel zu lang habe der Westen gebraucht, um die Veränderungen im weltpolitischen Machtgefüge nach 1990 zu begreifen, kritisiert Ramon Schack. Und hat dabei vor allem den Aufstieg Chinas im Blick. Uns dagegen droht der Rückfall in die Mittelmäßigkeit. JETZT ANHÖREN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
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Wer bin ich?... Wenn Sie jetzt befürchten, das könnte eine Folge über den Existenzialismus werden: Keine Angst. Aber je nachdem, wo Sie aufgewachsen sind, werden Sie diese Frage „Wer bin ich?“ höchstwahrscheinlich unterschiedlich beantworten. Wenn Sie mich, den Autor dieser Folge fragen, wer ich bin, dann würde ich Ihnen so antworten:
Jean-Marie Magro, Journalist, ich spreche in Mikrofone, fahre viel Rad, lese in meiner Freizeit, mal ein Sachbuch, mal eine japanische Romanreihe oder einen Manga. So in der Art. Ich definiere mich also über meinen Beruf und das, was ich gerne tue. In anderen Teilen der Welt klingt das völlig anders. Wenn Sie in einem malischen Dorf fragen würden, würde die Person höchstwahrscheinlich erst die Namen ihrer Eltern zitieren. In Südkorea ist das Alter entscheidend, weil man die Älteren respektieren muss. Und so gibt es ganz viele Beispiele.
Joseph Henrich ist leidenschaftlicher Kayakfahrer, aber deshalb habe ich ihn nicht für diese Reihe interviewt. Henrich ist Professor für biologische Anthropologe an der Harvard University in Boston. Er sagt, dass viele Psychologen jahrzehntelang einem großen Irrtum aufgesessen seien:
1 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Wir haben festgestellt, dass viele Forscher fast ausschließlich amerikanische Studenten oder Menschen in westlichen Gesellschaften, aber nur sehr wenige Menschen aus anderen Weltregionen untersucht haben. Und so haben diese Wissenschaftler allgemeine Annahmen vorgenommen und formuliert, die verzerrt waren.
SPRECHER
In Wahrheit ist nämlich nicht der Rest der Welt eigenartig, sondern wir – meint jedenfalls Joseph Henrich. Wer sind wir, wer ist der Westen?
MUSIK
Das ist: Der Westen – Eine Überlegung in drei Teilen. Folge 1: Wer sind wir eigentlich? Da fängt das Problem schon an, weil es keine scharfe Trennlinie gibt. Sollte man die Mitgliedsstaaten der OECD nehmen, die NATO oder allgemein jene Länder, die Demokratie, Menschen- und Freiheitsrechte vertreten? Letzteres könnte auch Japan oder Taiwan miteinschließen. In den drei Folgen dieser Reihe möchte ich mich auf Nordamerika und die Europäische Union konzentrieren. Knapp über 800 Millionen Menschen.
MUSIK
Wir, die wir in westlichen Gesellschaften aufgewachsen sind und leben, sind also laut Joseph Henrich komisch. Wir tanzen aus der Reihe. Henrich hat einen weltweiten Bestseller geschrieben. Auf Deutsch heißt er „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Das Wort seltsam ist die Übersetzung für das englische WEIRD, ein Akronym, das Henrich und andere Psychologen gewählt haben. WEIRD steht in diesem Fall für Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic. Also westlich, gebildet, industrialisiert, reich und demokratisch. Henrich meint, aus seinen Studien gehe hervor, dass wir im Westen, in Nordamerika und den europäischen Staaten, ganz anders auf die Welt blicken als alle anderen.
2 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Ein klassisches Beispiel: Sie geben einer Versuchsperson ein Bild mit einem Kaninchen und fragen, ob das Kaninchen besser zu einer Karotte oder zu einem Hund passt. Wenn Sie analytisch denken, würden Sie sagen: Kaninchen und Hund, beides Tiere. Wenn Sie aber holistisch, also ganzheitlich denken, suchen Sie nach Beziehungen. Diese Menschen denken: "Kaninchen fressen gerne Karotten, also gehören Kaninchen und Karotten zusammen. Und wenn man sich in der Welt umschaut, dann ist es so, dass die westlichen Gesellschaften die Orte sind, an denen das analytische Denken sehr stark ausgeprägt ist, und an anderen Orten ist es schwer, jemanden dazu zu finden, der eine analytische Entscheidung trifft.
MUSIK
SPRECHER
Ich persönlich habe mich immer als eine Person gesehen, die versucht, die Welt aus anderen Blickwinkeln und nicht nur durch meine deutsche Brille zu sehen. Das kommt alleine daher, dass ich einen französischen Vater habe und zweisprachig aufgewachsen bin. Ich bin schon lange von japanischer und südkoreanischer Popkultur fasziniert, habe mehrfach für die ARD in Nordwestafrika gearbeitet. Aber ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich bemerkt habe, dass ich WEIRD bin.
MUSIK
Es war in Tokio im Mai 2023. Ich habe den Schriftsteller Tappei Nagatsuki interviewt, der meine Lieblingsfantasy-Reihe schreibt. Nagatsuki schreibt darin echt gruselige Szenen, sein Protagonist Subaru muss unheimlich leiden. Ich habe dem Japaner dann die Frage gestellt, was er von dem, wie ich dachte, weltbekannten US-amerikanischen Autor John Irving hält. Der hat einmal gesagt, er entwerfe in seinen Romanen Figuren, die er wirklich liebt – und dann tue er ihnen das Schlimmste an, das ihm einfiele. Hier antwortet mir Tappei Nagatsuki:
3 Tappei Nagatsuki, japanischer Schriftsteller
Was dieser John Irving sagt, damit kann ich mich sehr gut identifizieren. Je mehr ich Charaktere mag, umso schlimmere Sachen möchte ich Ihnen antun. Und da Subaru mein Protagonist ist, kriegt er am meisten ab. (lacht)
MUSIK
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Mein erster Reflex war: Er kennt John Irving nicht? Und kurz darauf fiel mir dann auf, wie sehr ich die Welt durch meine westliche Brille betrachtet hatte. Woher soll ein japanischer Fantasyautor vom anderen Ende der Welt einen amerikanischen Schriftsteller kennen? Nicht nur hierin unterscheidet sich unsere westliche, deutsche Öffentlichkeit von der östlich-japanischen. Der Anthropologe Joseph Henrich sagt, das hinge damit zusammen, dass im Westen die Schuld eine treibende Kraft für menschliches Handeln sei. In anderen Teilen der Welt dominiere jedoch die Scham:
4 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
In einigen Regionen der Welt ist es besonders wichtig, wie man sich anderen gegenüber präsentiert. Es geht darum, das Gesicht zu wahren, darum wie ein Netzwerk von Personen über Sie als Individuum denkt. Das führt oft zu Konformität und einer großen Sorge, wie man sich selbst darstellt. Der innere Geisteszustand spielt dabei keine große Rolle. Es geht um das äußere Verhalten und darum, wie sich die Menschen der Welt präsentieren. In westlichen Gesellschaften müssen Sie sich abheben und von anderen unterscheiden, um erfolgreich zu sein. Hier neigen Menschen dazu, nicht Scham-, sondern Schuldgefühle zu haben.
SPRECHER
Ein Beispiel für solche Schuldgefühle: Sie können sich schlecht fühlen, weil sie nicht ins Fitnessstudio gegangen sind. Ihrem Nachbarn ist das wohl egal. Schämen würden sie sich also vor ihm nicht. Stattdessen fühlten sich im Westen viele dazu verpflichtet, etwas für sich und ihren Körper zu tun, um mit sich selbst im Reinen zu sein. Es geht also um uns selbst, das Individuum. Ein Beispiel dafür ist das Tragen eines Mund-Nasenschutzes. In Japan gab es während der Corona-Pandemie nie eine Maskenpflicht – das war gar nicht nötig, die Menschen trugen sie freiwillig. In fast allen westlichen Staaten dagegen schon. In Europa und den USA wurde das Tragen von Masken zunehmend heftig kritisiert. Eines der am häufigsten genannten Argumente dabei war: Die Maskenpflicht schränke die individuelle Freiheit ein.
MUSIK
Warum sind wir so „eigenartig“? Und es geht ja noch viel weiter: Warum sind wir im Westen verhältnismäßig wohlhabend? Für Joseph Henrich ist dabei zentral, wie schnell sich Lesen und Schreiben in Europa ausgebreitet haben. Dabei hat ein gewisser Martin Luther vor über 500 Jahren eine wichtige Rolle gespielt:
5 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Man kann an den deutschen historischen Daten tatsächlich ablesen, dass die Nähe zu Wittenberg einen Einfluss auf die Lese- und Schreibfähigkeit hatte. Je näher man also dem Zentrum der Reformation war, desto wahrscheinlicher war es, dass man auch im 19. Jahrhundert noch lesen und schreiben konnte.
SPRECHER
Die Reformation war also der Grundstein dafür, dass das sogenannte Abendland abhob? An dieser Stelle hilft vielleicht ein Blick von außen. Der Wirtschaftswissenschaftler Yasheng Huang ist Professor am Massachusetts Institute of Technology in Boston, kurz MIT. Er unterrichtet Internationales Management und leitet das China und India Lab an der Universität. Huang sagt, die Alphabetisierung allein kann nicht der ausschlaggebende Grund dafür sein, warum die Vereinigten Staaten und Europa über Jahrhunderte mehr Wohlstand schufen als China.
6 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT
In China konnten schon recht früh verhältnismäßig viele Menschen lesen und schreiben. Die Zahl stagnierte dann aber. Im Westen war es umgekehrt. Am Anfang gab es relativ wenige Alphabeten, dann aber wurden es schnell immer mehr.
SPRECHER
Huang hat ein Buch geschrieben, das sich fast wie eine Fortsetzung von Joseph Henrichs „Die seltsamsten Menschen der Welt“ liest. Huangs Buch trägt den Titel: „The Rise and Fall of the EAST”, also Aufstieg und Fall des Ostens. Huang, 1960 in Peking geboren, meint: Die Stärke des Westens liegt in seiner Fähigkeit, sich neu zu erfinden. Und das lasse sich schon vor rund 1000 Jahren sehen:
7 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT
Die katholische Kirche erhob sich, um die damalige politische Autorität herauszufordern, und dann wurde die katholische Kirche selbst von anderen Ideen wie dem Protestantismus und weltlichen Ideen herausgefordert. Es entstand also ein Markt der Ideen.
MUSIK
SPRECHER
Vor dem sechsten Jahrhundert hatte es auch in China so einen Marktplatz der Ideen und auch einen regen Handel gegeben, sagt Huang. Es gab unterschiedliche Glaubensrichtungen: Konfuzianismus, Buddhismus, Daoismus. Westen und Osten waren sich ähnlich, meint der Professor. Doch dann endete das abrupt. Huang meint, das hänge damit zusammen, dass in China ein Regime die Macht übernahm, das andere Ideen unterdrückte und nicht mehr herausgefordert wurde. Während im Westen die Revolutionen in den USA und Frankreich Demokratie, Nationalstaat und Rechtsstaatlichkeit hervorbrachten, wurden in China trotz mehrerer Rebellionen nur die Köpfe ausgetauscht, die Ordnung blieb gleich. Der Harvard-Anthropologe und Psychologe Joseph Henrich stimmt dem China-Experten zu: Die westliche Kirche spielt für den Westen und wie unsere Gesellschaften heute strukturiert sind, eine besonders wichtige Rolle. Verbot der Vielehe und des Heiratens enger Verwandter waren nur eine Sache. Die katholische Kirche hatte auch ihre eigene Streitmacht, erhob gegen die Königshäuser das Schwert. Rund 900 bis 1000 nach Christus schließen sich Menschen zu freiwilligen Vereinigungen zusammen. Auch und vor allem innerhalb der Kirche.
8 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Man schloss sich einer Stadt oder einem Verein an, und wenn sich jemand von ihnen verletzte oder alt wurde, kümmerten sich die anderen um diese Person. Es handelte sich also um eine Art Versicherungssystem, das auf Gegenseitigkeit beruhte. An einigen Orten entstanden daraus Gilden. Das waren Berufsgilden vorstellen müssen, die als gegenseitige Selbsthilfe begannen und bestanden lange Zeit als Gesellschaften bestanden.
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Viele Historiker und Anthropologen sagen, dass diese freiwilligen sozialen Versicherungssysteme, die über die Familienbande hinausgehen, eine frühe Besonderheit westlicher Gesellschaften waren. Später, als es zu Abkommen zwischen Königen und Kirchen kam, wurde die katholische Kirche selbst durch den Protestantismus herausgefordert. Dazu kommen Revolutionen. Politische, wie etwa die amerikanische 1776 und die französische 1789, die jeweils zu gesellschaftlichen Umstürzen führten. Aber auch technologische wie die Erfindungen des Buchdrucks, der Dampfmaschine oder der Elektrizität. Westliche Gesellschaften erlangen so einen Vorsprung, auch auf Kosten anderer Weltregionen. Dem Thema Kolonialismus wollen wir uns aber erst näher in der zweiten Folge widmen. Zuerst einmal sollten wir klären: Welche sind die Pfeiler des Westens? Einer, der sich wie kaum ein anderer mit dieser Frage beschäftigt hat, ist Prof. Heinrich August Winkler. Der Historiker hat vier Bände über die Geschichte des Westens geschrieben. Er schlägt dabei einen weiten Bogen, über die alten Ägypter und das byzantinische Reich, die Magna Carta und die Bill of Rights bis ins Heute. Winkler spricht vom „normativen Projekt des Westens“:
9 Heinrich August Winkler, Historiker
Zu diesem Projekt gehören die Ideen der allgemeinen unveräußerlichen Menschenrechte, des Rechtsstaates oder der Rule of Law, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Man kann diese Ideen, auch die politische Konsequenz der Aufklärung nennen.
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Fassen wir mal all diese Punkte in einem Satz zusammen: Der Westen gründet auf dieser einen Idee:
10 Heinrich August Winkler, Historiker
Die Maxime, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind, ist die säkularisierte Fassung des Satzes, dass vor Gott alle Menschen gleich sind.
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Sprich: Die Trennung zwischen Staat und Religion, die Säkularisierung. Die hat auch im Westen unterschiedliche Formen. In Deutschland wird Kirchensteuer fällig und Religion an Schulen unterrichtet, in den USA werden Millionen Kinder zuhause unterrichtet, was vor allem Evangelikale und Erzkonservative in Anspruch nehmen. Frankreich hingegen bezeichnet sich als laizistischen Staat, Religion darf in öffentlichen Gebäuden im Prinzip nicht stattfinden. Die Trennung zwischen Staat und Religion, sagt Heinrich August Winkler, gehe auf ein Wort Jesu zurück. In der Bibel heißt es nämlich:
11 Heinrich August Winkler, Historiker
"Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Damit wird der weltlichen Gewalt eine Eigenverantwortung zugestanden und einem Gottesstaat oder einer Priesterherrschaft eine Absage erteilt.
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Wobei man natürlich immer wieder Einschränkungen machen muss. In einigen osteuropäischen Ländern spielt die Kirche in der Politik weiterhin eine wichtige Rolle. Sie werden nun vielleicht denken, dass die Kommunistische Partei in China auch keine Priesterherrschaft anstrebt. Doch was bei westlichen Demokratien besonders wichtig ist, sagt Heinrich August Winkler, ist die Gewaltenteilung, die Checks and Balances. Dass Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Gerichte unabhängig voneinander sind:
12 Heinrich August Winkler, Historiker
Für den Westen, das sogenannte Abendland, war diese Entwicklung grundlegend. Im Europa der Ostkirche, dem byzantinisch-orthodoxen Osten Europas, kam es nicht zu einer solchen Ausdifferenzierung der Gewalten und damit auch nicht zu einer freiheitlichen Evolution wie sie sich im Westen vollzogen hat.
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Grundlegend für das normative Projekt des Westens ist also die Teilung der Gewalten. Aus dem Vertrauen in den Rechtsstaat leiten Menschen im Westen ein Verständnis von Gerechtigkeit ab, das sich im Vergleich zu anderen Teilen der Welt grundlegend unterscheidet, wie der Harvard-Anthropologe Joseph Henrich beobachtet. Ein Gedankenexperiment veranschaulicht das deutlich: das sogenannte Passagierdilemma.
13 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Sie sind mit einem Freund oder einem Familienmitglied im Auto unterwegs. Sie stoßen mit jemandem zusammen, weil ihr Freund rücksichtslos gefahren ist und dabei stirbt die andere Person. Es gibt einen Rechtsstreit. Der Anwalt Ihres Freundes sagt Ihnen, dass niemand sonst den Unfall gesehen habe und wenn Sie aussagen, dass Ihr Freund nicht zu schnell gefahren ist, wird er freigesprochen. Wenn Sie aber die Wahrheit sagen, kommt Ihr Freund ins Gefängnis. Was also tun? An vielen Orten auf der Welt scheint es absurd, die Frage überhaupt zu stellen: Natürlich werde ich meinen Freund bzw. mein Familienmitglied unterstützen. Aber an manchen Orten sind die Menschen der Meinung, dass sie den Rechtsstaat respektieren müssen. Sie sind also eher geneigt, die Wahrheit zu sagen.
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Während also die einen – komme, was wolle – zu ihren Nächsten halten, finden in westlichen Gesellschaften die meisten Menschen, der Übeltäter habe eine Strafe verdient. Um also nochmal zusammenfassen: Westliche Gesellschaften sind im Vergleich zum Rest der Welt individueller, sie zeichnen sich dadurch aus, dass Staat und Religion zumindest zu einem gewissen Grad voneinander getrennt sind – und sie haben mehrheitlich ein anderes Verständnis von Gerechtigkeit. Dieser Prozess hat nicht gleichzeitig in allen westlichen Gesellschaften stattgefunden. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich die Ideen der amerikanischen und der französischen Revolution im Alten Westen selbst durchgesetzt haben. Heinrich August Winkler:
14 Heinrich August Winkler, Historiker
In Deutschland etwa wurde im 19. Jahrhundert zwar der Rechtsstaat verwirklicht, gegen die Ideen der allgemeinen Menschenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie aber gab es bis weit ins 20 Jahrhundert hinein vor allem bei den Herrschaftseliten und im gebildeten Bürgertum massive Vorbehalte. Der Höhepunkt der deutschen Auflehnung gegen die Ideen des Westens war die Herrschaft des Nationalsozialismus. Erst nach der totalen Niederlage von 1945 öffnete sich der westliche Teil Deutschlands auf breiter Front der politischen Kultur des Westens.
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Und in Ostdeutschland sind die Ideen des Westens erst nach dem Fall der Mauer eingeführt worden. Auch wenn die DDR rhetorisch versuchte, diese Werte zu repräsentieren: Es gab keine freien Wahlen und erst recht keinen von der Partei unabhängigen, funktionierenden Rechtsstaat. Keine individuelle Freiheit, sondern der Versuch der absoluten Kontrolle. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama wurde damals mit seiner These berühmt, die liberale Demokratie habe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gesiegt. Die Geschichte sei nun zu Ende.
15 Heinrich August Winkler, Historiker
Der Sieg der Freiheit, der 1989 gefeiert wurde, war aber kein weltweiter Sieg. Russland wurde nur zeitweise und oberflächlich von den revolutionären Ideen des Westens erfasst. In China wurden die Freiheitsbestrebungen der akademischen Jugend im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking blutig unterdrückt. Die Geschichte ist 1989 / 90 eben nicht zu Ende gegangen, sie ist in ein neues Stadium eingetreten.
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Die westlichen Ideen – Demokratie, Rechtsstaat, unabhängige Medien, der Schutz von Minderheiten – , sie müssen sich heute aber in jeder westlichen Gesellschaft Angriffen erwehren, sagt Anne Applebaum. Die Journalistin ist eine der anerkanntesten Expertinnen für Osteuropa und Russland. Für ihr Werk „Der Gulag“, in dem sie über die sowjetischen Gefangenenlager schreibt, erhielt sie den weltweit wichtigsten Journalistenpreis, den Pulitzer-Preis. Im Oktober 2024 wurde außerdem sie mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Applebaum ist mit dem aktuellen polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski verheiratet und lebt seit vielen Jahren in Polen. Die Amerikanerin schrieb seit Jahren über die rechtsnationale PiS-Regierung in Warschau, die Staatsmedien und Gerichte nach ihrem Geschmack besetzte. 2023 verlor die PiS jedoch die Mehrheit an eine Koalition aus Liberalen, Konservativen und Linken. Das Bündnis versucht nun, die Entscheidungen der PiS rückabzuwickeln.
16 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Diese Veränderung wird von der Bevölkerung in hohem Maße unterstützt. Die Regierungskoalition verfügt über eine klare Mehrheit und hat eine große öffentliche Unterstützung. Aber es wird hart. Es ist viel einfacher, den Rechtsstaat zu zerstören, als ihn wiederherzustellen.
17 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Fast jede westliche Demokratie ist von diesen ideologischen Angriffen gegen die Demokratie ausgesetzt, wenn sie auch an verschiedenen Orten unterschiedliche Formen annehmen. Die extreme Rechte und die extreme Linke könnten sowohl die französische als auch die deutsche Demokratie bedrohen. Die Vereinigten Staaten, Polen und Ungarn: Niemand ist vor dieser Gefahr gefeit.
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Was sind die Gründe für die Krise des Westens? Es ist unstrittig, dass die westlichen Staaten, allen voran die europäischen, international an Bedeutung verlieren. Ihr Anteil an der Bevölkerung und an der Weltwirtschaft wird kleiner. Diese Tatsachen sind aber nur eine Erklärung für die Krise. Wesentlich sind für Anne Applebaum die Folgen der gegenwärtigen Kommunikationstechnologie. Sie führen dazu, befürchtet die Journalistin, dass in westlichen Gesellschaften immer mehr Menschen Vertrauen in Demokratie und seine Repräsentanten verlieren:
18 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Es geht um eine demokratische Krise, die mit den Entwicklungen zusammenhängt, die uns die moderne Wirtschaft und das moderne Informationssystem gebracht haben. Also wie Menschen untereinander kommunizieren und an politische Informationen gelangen und sie verarbeiten. Da gibt es ähnliche Muster in wirklich jeder westlichen Demokratie.
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Zu einer gut funktionierenden Demokratie gehört, dass die Bevölkerung frei und geheim ihre Vertreterinnen und Vertreter wählen kann. Das Ergebnis muss von allen Seiten akzeptiert werden. Schon hier merkt man, dass dies keine Selbstverständlichkeit mehr in westlichen Ländern ist.
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In dieser Folge haben wir uns damit beschäftigt, was uns Menschen im Westen ausmacht, was die Grundpfeiler des Westens sind und wie sie entstanden sind, und wir haben angeschnitten, warum sich westliche Demokratien in der Krise befinden. Freiheit, die Gleichheit von Menschen, Demokratie und der Rechtsstaat. Viele würden diese Grundsätze wahrscheinlich unterschreiben und stolz auf sie sein. In der nächsten Folge wollen wir uns aber damit beschäftigen, wie der Rest der Welt auf den Westen blickt. Und was soll man sagen: Dort wird ganz anders empfunden:
19 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 1
Unsere Wahrnehmung der westlichen Welt ist die eines bösen Imperiums, das nur für sich selbst da ist. Wenn du ihre Spiele, ihre Regeln mitspielst, bleibst du für immer ein Gefangener und ein Untertan, der ausgebeutet und enteignet wird.
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Ich bin Jean-Marie Magro, und das war die erste Folge des Dreiteilers
„Der Westen“: Wer sind wir eigentlich? Alle drei Folgen gibt’s in unserem Feed „Alles Geschichte“ - in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. Da können Sie auch „Alles Geschichte“ abonnieren.
Nach der Ausstrahlung der ersten drei Folgen von "Paula sucht Paula" bekommen wir viele Zuschriften. Eine davon von einer Dame, die Paula Schlier persönlich kannte. BR-Autorin Paula Lochte trifft sie und erfährt eine Geschichte, mit der sie nicht gerechnet hat. Und die heute aktueller ist denn je.
Credits
Autorin: Paula Lochte
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Xenia Tiling, Rainer Schaller
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview: Monika Decker, Katja Wildermuth a
Linktipps:
Hitlerputsch 1923: Das Tagebuch der Paula Schlier
Dokumentation in der ARD Mediathek
Deutschland 1923: Inflation, Hunger, instabile politische Verhältnisse. In dieser Zeit schleicht sich die 24-jährige Paula Schlier undercover beim "Völkischen Beobachter", dem Kampfblatt der NSDAP, ein und gerät mitten in Hitlers Putschversuch.
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Der Hitlerputsch 1923. Demokratie in Gefahr
Podcastfolge / Bayerisches Feuilleton / ARD Audiothek
Am Abend des 8. November 1923 stürmte Adolf Hitler mit seinen Gefolgsleuten eine politische Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller, schoss mit einer Pistole in die Luft und verkündete die nationale Revolution. Der Putschversuch scheiterte blutig vor der Feldherrenhalle. Die Folgen aber waren gravierend. Thomas Grasberger rekonstruiert die historischen Ereignisse jener Tage.
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Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
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NS-Dokumentationszentrum München
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Der vielfach preisgekrönte Alles Geschichte-Podcast "Paula sucht Paula" geht in die Verlängerung mit einer neuen Folge! Undercover-Reporterin - so würde man sie heute nennen: Paula Schlier. Kurz vor dem Hitlerputsch 1923 hat sie sich beim Nazi-Hetzblatt "Völkischer Beobachter" eingeschleust. Nur knapp entging sie KZ-Haft und Ermordung in der Psychiatrie. Nun kommt ein neues Kapitel hinzu: Denn nach der Ausstrahlung haben wir viele Zuschriften erhalten, darunter von einer alten sehr guten Bekannten Paula Schliers....
Credits
Autorin: Paula Lochte
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Xenia Tiling
Technik: Adele Meßmer
Redaktion: Andrea Bräu, Susanne Poelchau
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Hitlerputsch 1923: Das Tagebuch der Paula Schlier
Dokumentation in der ARD Mediathek
Deutschland 1923: Inflation, Hunger, instabile politische Verhältnisse. In dieser Zeit schleicht sich die 24-jährige Paula Schlier undercover beim "Völkischen Beobachter", dem Kampfblatt der NSDAP, ein und gerät mitten in Hitlers Putschversuch.
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Der Hitlerputsch 1923. Demokratie in Gefahr
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Am Abend des 8. November 1923 stürmte Adolf Hitler mit seinen Gefolgsleuten eine politische Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller, schoss mit einer Pistole in die Luft und verkündete die nationale Revolution. Der Putschversuch scheiterte blutig vor der Feldherrenhalle. Die Folgen aber waren gravierend. Thomas Grasberger rekonstruiert die historischen Ereignisse jener Tage.
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Wir empfehlen außerdem den fünfteiligen Podcast, der 2020 anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung der bayerischen Konzentrationslager Flossenbürg und Dachau veröffentlicht wurde:
Die Befreiung | Folge 1-5
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Autorin: Paula Lochte
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Xenia Tiling, Frank Manhold, Rainer Schaller
Technik: Adele Meßmer
Redaktion: Andrea Bräu, Susanne Poelchau
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Hitlerputsch 1923: Das Tagebuch der Paula Schlier
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Deutschland 1923: Inflation, Hunger, instabile politische Verhältnisse. In dieser Zeit schleicht sich die 24-jährige Paula Schlier undercover beim "Völkischen Beobachter", dem Kampfblatt der NSDAP, ein und gerät mitten in Hitlers Putschversuch.
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Am Abend des 8. November 1923 stürmte Adolf Hitler mit seinen Gefolgsleuten eine politische Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller, schoss mit einer Pistole in die Luft und verkündete die nationale Revolution. Der Putschversuch scheiterte blutig vor der Feldherrenhalle. Die Folgen aber waren gravierend. Thomas Grasberger rekonstruiert die historischen Ereignisse jener Tage.
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