Wir beleuchten die Zusammenhänge zwischen gestern und heute und erzählen einfach gute Geschichten. Ein History-Podcast von radioWissen.
Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.
Credits
Autor: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Jerzy May, Christopher Mann, Florian Schwarz, Benjamin Stedler, Peter Veit und Hemma Michel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak
Im Interview: Bertrand Badie, Stephan Lessenich, Thomas Gomart, Abubakar Umar Kari, Heinrich August Winkler, Anne Applebaum, Joseph Henrich, Sadiq Abba
Linktipps:
Deutschlandfunk (2024): Wie Amerika Weltmacht wurde
Der deutsche Blick auf die USA ist geprägt von Bewunderung, Kritik und Klischees. Manche fragen sich: Spinnen die Amis? In dieser Serie liefern wir historische Erklärungen für transatlantische Missverständnisse. Folge eins: Amerika als Weltpolizist. JETZT ANHÖREN
SWR (2023): Die Zukunft der NATO – Wohin entwickelt sich das westliche Verteidigungsbündnis?
Zerstritten und nur bedingt einsatzfähig - diesen Eindruck hat die 1949 gegründete Nato lange gemacht. Mit dem Ukraine-Krieg scheint sich das westliche Verteidigungsbündnis wieder gefangen zu haben. Dennoch bleiben eine Menge Fragen: Wie geht die frisch erweiterte Nato künftig mit Russland um? Wo liegen die nächsten militärischen Hotspots? Was ist von den sich abzeichnenden Anti-Natos im Osten zu erwarten? Und wer folgt den USA in der Führungsrolle nach? JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
SPRECHER
In dieser Serie über den Westen stellen wir große Fragen. Im ersten Teil haben wir erläutert, wer wir eigentlich sind, im zweiten Teil wie andere auf den Westen schauen.
MUSIK
Jetzt kommt der dritte und letzte Teil: Der Westen – Und die Frage: Was kann aus ihm werden?… Ich bin Jean Marie Magro. Wo ist also der Platz des Westens in einer Welt, die sich stetig verändert und in der die Ordnung der Nachkriegszeit ins Wanken gerät? In den ersten beiden Folgen haben wir viel über Werte, Psychologie und Ökonomien westlicher Staaten gesprochen, aber kaum über einen Aspekt, der elementar ist für die Stärke des Westens: seine Verteidigungsfähigkeiten. Es gibt verschiedene Gründe, warum nach dem Zweiten Weltkrieg Europäer und Nordamerikaner in Frieden leben und Wohlstand schaffen konnten. Einmal, weil sie Allianzen schlossen, sich nicht mehr bekriegten und zusammenarbeiteten. Aber auch, weil Feinde sich nicht trauten, sie anzugreifen. Die USA sind mit Abstand die größte Militärmacht der Welt, die Nato die stärkste Militärallianz. Fast alle westlichen Staaten sind Mitglieder des Bündnisses. Wobei auch die Türkei der Nato angehört, die nicht als westlicher Staat gewertet werden kann. Die Stärke der Nato, ihre Abschreckungsfähigkeit, gründet auf dem Artikel 5 ihres Vertrags: Wird ein Mitglied angegriffen, stehen ihm alle zur Seite. Ein Angriff auf das Baltikum bedeutet einen Angriff auf Washington. So die Idee. Aber was passiert, wenn der Präsident des stärksten Mitglieds das Bündnis infrage stellt, es „obsolet“ nennt?
1 Donald Trump, 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
Einer der Präsidenten eines großen Landes fragte: „Sir, wenn wir nicht zahlen und von Russland angegriffen werden, werden Sie uns verteidigen?“ Ich sagte: „Sie haben nicht gezahlt, Sie sind Straftäter? Nein, ich werde Sie nicht beschützen. Ich würde Russland sogar dazu ermutigen, das zu tun, was zur Hölle es auch machen möchte. Zahlen Sie Ihre Rechnungen.“ Und das Geld sprudelte nur so herein.“
MUSIK
SPRECHER
Donald Trump erzählt hier von einem angeblichen Nato-Gipfel. Ob die Begegnung tatsächlich so stattgefunden hat, spielt hier gar keine Rolle. Trump stellte ab Frühjahr 2017 an die Nato vor große Herausforderungen, drohte sich aus dem Bündnis zurückzuziehen, wenn Länder wie Deutschland nicht - wie eigentlich zugesagt – zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben. Ende 2019, als es auch noch Streit zwischen Frankreich und der Türkei gab, diagnostizierte der französische Präsident Macron den „Hirntod“ der Allianz. Dabei ist die Nato für viele europäische Länder die wichtigste Sicherheitsgarantie, der Schild vor einem möglichen russischen Einmarsch, sagt Anne Applebaum, Kolumnistin beim amerikanischen Magazin „The Atlantic“:
2 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Menschen wie Trump könnten dieser Praxis ein Ende setzen und zwar wesentlich schneller, als viele denken. Natürlich gibt es einen Vertrag und Verpflichtungen, aber allein, wenn man sagt: ‚Ich, der Präsident, werde Polen nicht verteidigen, wenn es angegriffen wird‘, eröffnet er den Russen die Möglichkeit, es zu tun. Das ist meiner Meinung die größte Gefahr für den Westen.
SPRECHER
Donald Trump wurde nun erneut zum Präsidenten gewählt. Und er wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch wieder mächtig Staub aufwirbeln. Die Republikaner wollen nicht mehr, wie unter George W. Bush, den Weltpolizisten spielen, sondern sich auf die USA zurückbesinnen. Isolationismus ist das Schlagwort. Aber auch die Demokraten fordern die Europäer dazu auf, eigenständiger, souveräner zu werden, dass sie sich mehr um ihre eigene Sicherheit kümmern sollen. Der Pazifik verlangt mehr Aufmerksamkeit, vor allem der Systemrivale China. Die Welt von morgen wird anders aussehen als die von heute, ist der französische Politikwissenschaftler Bertrand Badie überzeugt. Und ohnehin, meint Badie, zwinge die Globalisierung die westlichen Länder, sich von den Logiken der Nachkriegsordnung zu verabschieden und den Ländern des Globalen Südens - China, Indien, Südafrika, Brasilien und vielen mehr - auf Augenhöhe zu begegnen:
3 Bertrand Badie, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris
Wie all diese aufstrebenden Länder müssen wir im Westen lernen, uns von dem Begriff Allianz zu verabschieden, der altmodisch und auch gefährlich ist, weil er andere ausschließt: Die NATO ist das wichtigste Militärbündnis, das es in der Welt gibt. Das Ergebnis ist, dass sie von allen, die außerhalb stehen, als etwas bezeichnet wird, das sich nur um sich selbst kümmert und eine ständige Bedrohung darstellt. Russland nutzt das böswillig aus. Aber die Länder des Südens verstehen die Sprache Putins, weil sie sehen, dass die alten europäischen Mächte weiterhin dieses aggressive Eigenleben pflegen, das sich in einem Militärbündnis ausdrückt. Daher muss das Wort Bündnis durch Partnerschaft ersetzt werden.
SPRECHER
Die Kommunistische Partei in China, sagt Bertrand Badie, schließe niemals Allianzen, weigere sich sogar den Begriff in den Mund zu nehmen. In anderen Teilen der Welt besiegeln Länder zwar Handelszonen, verzichten aber meist auf Allianzen, die andere ausschließen. Getreu einem alten Zitat, das Charles de Gaulle während des Zweiten Weltkriegs zugeschrieben wird: „Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.“ Derselbe de Gaulle unterzeichnete zwei Jahrzehnte später den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Doch welche Vorteile sollen losere Partnerschaften im Verhältnis zu Allianzen bieten? Bertrand Badie:
4 Bertrand Badie, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris
Partnerschaften mit jedermann zu entwickeln, bedeutet nicht, sie zu heiraten. Es ist wie mit der freien Liebe im privaten Bereich. Je nach Umständen wechseln Sie den Partner, was die Grundlage für ein neues Gleichgewicht in der Welt schaffen könnte. In einer globalisierten Welt akzeptiert jeder, mit jedem zu arbeiten. Gerade befinden wir uns noch in einer Welt der Vertikalität.
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In der internationalen Staatengemeinschaft, meint Bertrand Badie, gebe es immer noch zu große Ungleichheiten. Früher redete man in westlichen Staaten noch häufiger über die Erste, Zweite und Dritte Welt, was viele als abfällig empfanden. Diese Ungleichbehandlung, meint Badie, ist in der Architektur der Nachkriegsordnung angelegt. Auffällig sei sie bei den Vereinten Nationen. Zwar sollen diese für Austausch und Interessensausgleich sorgen, doch gibt es immer Ungleichgewichte. Von den fünf permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrates mit Veto-Recht sind drei westlich: die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich. Der Soziologe Stephan Lessenich denkt, wenn westliche Staaten sich nicht darum bemühen, anderen Teilen der Welt mehr auf Augenhöhe zu begegnen, werde der Westen automatisch unbedeutender. Internationale Organisationen müssten demokratisiert werden, fordert Lessenich, auch, wenn das dann massive Konsequenzen für den „alten Westen“ hätte:
5 Stephan Lessenich, Professor Soziologie Uni Frankfurt
Das würde ja auch da heißen "One Man, One vote" - dass man das abbildet. Die Struktur der Weltgesellschaft in eine Institutionordnung, in der natürlich dann der Westen peripherisiert wird oder provinzialisiert wird, das wäre die Folge davon. Dass der Westen dann nicht mehr, keine Ahnung, 50, 40, 30% Stimmanteile hat, sondern eben deutlich weniger.
SPRECHER
In der Welt von morgen, sind Badie und Lessenich überzeugt, sollten westliche Staaten also nicht mehr tonangebend sein, sondern eine von vielen gleichberechtigten Parteien. Beharren sie weiter auf der alten Logik, fachen sie nur die Abneigung an, die ihnen jetzt schon entgegengebracht wird. Auf lange Sicht ein gefährliches Szenario, das den Wohlstand des Westens erst recht gefährden könnte.
MUSIK
Aber wie sieht eine gerechtere, eine partnerschaftliche Welt aus? Sollte jedes Land, egal wie groß es ist, eine Stimme haben? Ginge es danach, hätten drei Viertel der Staatengemeinschaft den russischen Großangriff am 24. Februar 2022 auf die Ukraine verurteilt. ((Ähnlich deutlich wäre das Ergebnis, ginge es nach der wirtschaftlichen Stärke der Länder.)) Nehmen wir aber die Größe der Bevölkerungen, so wäre die Sache nicht mehr eindeutig. Länder wie China, Indien, Vietnam, Südafrika, Pakistan und Iran enthielten sich. Zählt man die Staaten dazu, die bei der Abstimmung abwesend waren, haben die Vertreter von 4,6 Milliarden Menschen der Resolution ES-11/1 nicht zugestimmt. Das ist mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Das heißt nicht, dass diese Staaten Russlands Einmarsch ausdrücklich befürworten würden. Aber sie haben eben nicht öffentlich verurteilt. Jedenfalls zeigt diese Zahl: Der Westen ist nicht die Welt. Dass gehandelt werden muss, darüber sind sich eigentlich alle einig. Aber wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Erwartungsgemäß liegt die Antwort nicht leicht auf der Hand: So hat unter deutsch-namibischer Führung die Vollversammlung der Vereinten Nationen Ende September den sogenannten Zukunftspakt angenommen. Sicherheitsrat und globale Finanzarchitektur sollen reguliert werden, damit Länder des Globalen Südens leichter an Kredite kommen. Klingt vage, für Kritiker ist es der kleinste gemeinsame Nenner. Doch selbst gegen diesen stimmte Russland. Es hat schon mehrere Initiativen gegeben, den Einfluss von nicht-westlichen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zu steigern. Sogar angetrieben vom Westen, berichtet Thomas Gomart von der Pariser Denkfabrik Ifri. Doch diese Vorstöße scheiterten häufig an den aufstrebenden Ländern selbst - im folgenden Beispiel an China:
Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris
Frankreich befürwortet als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, dass dieser um vier Länder erweitert wird. Nur ist es nach Ansicht von China inakzeptabel, dass Indien oder Japan in den Sicherheitsrat aufgenommen werden.
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Trotzdem wird China in den Ländern des Globalen Südens oft als fairerer und besserer Partner wahrgenommen als die USA oder ehemalige Kolonialmächte wie Frankreich und das Vereinigte Königreich. China wirbt damit, dass es einst von denselben Ländern unterworfen wurde wie Staaten im Nahen Osten oder in Afrika. China investiert. Zugstrecken, Staudämme, Flughäfen, Raffinerien, ja sogar Fußballstadien baut es in Afrika. Inzwischen hat Peking die USA und Frankreich als ersten Handelspartner des Kontinents abgelöst. 170 Milliarden Dollar beträgt das Volumen. Dafür sichert sich China wichtige Rohstoffe, die es braucht, um zum Beispiel Elektroautos zu bauen. Wir sind wieder bei dem Punkt angekommen, den wir schon in der zweiten Folge angerissen haben. Das Zitat der aus Nigeria stammenden Generaldirektorin der Welthandelsorganisation WTO, Ngozi Okonjo-Iweala: „Wenn wir mit China reden, bekommen wir einen Flughafen. Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Der nigerianische Politikwissenschaftler Abubakar Umar Kari fordert, der Westen müsse sein Verhältnis mit den ehemaligen Kolonien auf neue Füße stellen:
7 Abubakar Umar Kari, Professor Politikwissenschaften Uni
Und zwar durch Kooperationen und Partnerschaften, die für beide Seiten vorteilhaft sind, und kein einseitiges, parasitäres Verhältnis, das die Beziehungen in der Vergangenheit geprägt hat.
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In dieser Forderung schwingen zwei Vorwürfe mit: Der erste lautet, selbst Jahrzehnte nach dem Kolonialismus beute der Westen weiterhin den Kontinent aus. Aber afrikanischen Staatschefs und Intellektuellen geht es auch um die Werte, die der Westen proklamiert. Hilfen würden zurückgehalten, dringend benötigte Infrastrukturprojekte auf Eis gelegt, wenn westliche Staaten Defizite bei Rechtsstaat und Demokratie feststellten. Dabei, wenden Kritiker wie Abubakar Umar Kari ein, seien diese Werte von Nordamerikanern und Europäern. Denkt man diesen Vorwurf zu Ende, bedeutet das, dass zum Beispiel die Menschenrechte nicht universell sind und damit nicht für alle Menschen gelten würden. Dem widerspricht Thomas Gomart entschieden. Niemand werde gerne gefoltert, Punkt. Nur weil eine kleine Gruppe diese Werte erfand, ändere das nichts an ihrer Allgemeingültigkeit, so der Franzose. Trotzdem tut sich der Westen schwer, diese Werte einzufordern. Der Historiker Heinrich August Winkler:
8 Heinrich August Winkler, Historiker
Die westlichen Demokratien können ihre Werte niemandem aufzwingen, sie können aber immer für die unveräußerlichen Menschenrechte werben und sich für ihre weltweite Einhaltung einsetzen. Glaubwürdig wirkt das Engagement für die westlichen Werte freilich nur, wenn sich die Demokratien des Westens selbst an ihre Werte halten und selbstkritisch mit ihren Verstößen dagegen ins Gericht gehen. Die westlichen Demokratien dürfen nie mehr versprechen, als sie halten können.
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Nur wer seine eigenen Werte einhält, kann anderen vorwerfen, sich nicht an diese zu halten. Dafür ist entscheidend, dass westliche Länder afrikanische, südamerikanische oder asiatische nicht von oben herab behandeln. Allerdings müssen westliche Staaten auch lernen, mit Parteien umzugehen, die sich selbst häufig widersprechen, wenn es ihrer Erzählung passt, sagt der französische Historiker Thomas Gomart. Auf der einen Seite fordern nämlich Staaten des Globalen Südens, der Westen solle sich zurückhalten, dem Rest der Welt mehr Raum einräumen. Er habe viele Krisen auf der Welt zu verantworten, in Afrika, in Südamerika, im Nahen und Mittleren Osten. Der Interventionismus westlicher Staaten habe Weltregionen in Kriege und Krisen gestürzt. Gleichzeitig aber beklagen sich oft dieselben Länder, wenn der Westen sich in geopolitischen Fragen zurückhält. Ob im Nahostkonflikt, in Syrien, Jemen oder im Sahel: Wenn sich der Westen nicht einschaltet, scheint es genauso falsch zu sein, wie wenn er es tut.
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Der Westen muss neue Logiken aufbauen, meint Thomas Gomart. Er muss aber auch die an Konflikten beteiligten Parteien dazu ermuntern, selbst Lösungen zu finden. Seine eigenen Allianzen dagegen über Bord zu werfen, davon rät der französische Historiker ab. Brasilien, einige afrikanische Staaten, aber auch Indien verfolgen laut Gomart einen transaktionalen Ansatz. Sie schließen keine Allianzen, sondern machen Geschäfte mit allen. Indien zum Beispiel kauft französische Kampfflugzeuge, verurteilt jedoch nicht den russischen Einmarsch in der Ukraine. Klingt rational, birgt aber Risiken, meint Gomart – speziell für Deutschland.
9 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris
Dieser Ansatz breitet sich zwar aus, er hat aber auch Grenzen. Und das sieht man speziell beim Thema Sicherheit in Europa. Die meisten Mitgliedsstaaten sind angewiesen auf die Sicherheit, die ihnen die EU und die Nato bieten. Das trifft ganz besonders auf Deutschland zu. Deutschlands Sicherheit hängt von der Nato ab.
SPRECHER
Man kann, man muss mit allen reden und in einer multipolaren Welt Beziehungen zu allen pflegen. Doch geht es um das Überleben des Staates und seiner Bürger, sei es wichtig, sein Lager nicht zu verlassen, meint Thomas Gomart. Sicherheit beschränkt sich dabei nicht allein auf einen militärischen Angriff eines feindlichen Staates. Es geht auch darum, dass jeder einzelne Staat seine Bürgerinnen und Bürger bestmöglich vor Risken und Gefahren schützen und Ängste ernst nehmen soll. In westlichen Ländern werden dabei häufig Debatten über Zuwanderung geführt. Ein großes Thema: Die Sorge vor einer Veränderung, gar Gefährdung der westlichen Kultur durch Migration von Menschen, die mit anderen als westlichen Werten aufgewachsen sind. Vor allem aus patriarchalisch geprägten islamischen Kulturen. Einige politische Kräfte, nicht nur extremistische, kritisieren zuviel Einwanderung. Diese gehe mit hörerer Kriminalität einher und verändere die Gesellschaften zum Schlechteren. Erfolgsgeschichten, die es auch im großen Stil gibt, werden dabei meistens unterschlagen.
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Tatsache ist, dass der Anteil an Zuwanderern an der Gesamtbevölkerung wesentlich höher ist als in anderen Teilen der Welt. So sei in Europa, so die Internationale Organisation für Migration, fast jeder Achte zugewandert, lebe also in einem Land, in dem sie oder er nicht geboren wurde. Binnenflüchtlinge zählen also nicht mit rein, deshalb ist die Zahl in Asien und Afrika sehr gering; nicht einmal zwei Prozent.
Mehr als 50 Millionen Migranten leben in den USA, viele kamen aus Lateinamerika.
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Politikerinnen und Politiker in westlichen Ländern wie Donald Trump, Viktor Orban und Marine Le Pen, beschreibt Anne Applebaum, bedienen sich der Ängste vieler Menschen vor Zuwanderung und Veränderungen. Sie trügen eine nationalistische Erzählung vor, sagt die Kolumnistin und Historikerin. In einer Zeit des schnellen Wandels versprechen sie die Rückkehr in eine Vergangenheit, in der alles gut gewesen sein soll:
10 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Es ist kein Zufall, dass viele politische Bewegungen nicht über die Zukunft sprechen, sondern in die Vergangenheit blicken. Make America great again ist ein Paradebeispiel dafür. Diese Politiker bedienen Nostalgie und sprechen von Revivals/Wiederaufleben. Das ist die Auswirkung eines sehr, sehr schnellen sozialen, politischen, demografischen und wirtschaftlichen Wandels.
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Der alte und neue Präsident Donald Trump versprach seinen Landsleuten im Wahlkampf, sich wieder auf sie zu besinnen. America first, les Francais d’abord, Deutschland zuerst. Diese Erzählung hat in vielen westlichen Staaten mal mehr, mal weniger Erfolg. Ein großes Problem unserer derzeitigen politischen Debatten im Westen, meint Applebaum, sei es, dass viele den innenpolitischen Wettstreit mit kriegsähnlichen Zuständen gleichsetzten. Es gehe um Gut gegen Böse, den Untergang des Abendlandes, das Ende der Zivilisation:
11 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Und genau hier wird es gefährlich, denn Politiker können Identitäten nicht ändern, sondern sich nur darüber aufregen. Wir sollten uns dafür stark machen, dass sich die Politik um Probleme kümmert, die sie lösen kann. Das Gesundheits- und das Bildungssystem, Straßen und Schulen. Wenn Sie es schaffen, die Debatte dorthin zurückzubringen, bekommen Sie eine normalere Politik.
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Egal ob in den USA, Frankreich oder Polen: Politik müsse wieder normaler werden, sich auf wesentliche Politikfelder konzentrieren, fordert die Historikerin, die 2024 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde.
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Die Welt setzt sich neu zusammen – und wo ist unser Platz? Der Platz des Westens? Von Gesellschaften, die in den vergangenen Jahrhunderten entscheidend dazu beitrugen, dass die Welt auf verschiedene Weisen revolutioniert wurde. Sei es gesellschaftlich oder auch technologisch. Vielleicht ist an dieser Stelle, so kurz vor dem Ende dieser dreiteiligen Serie, die Zeit für eine Zusammenfassung gekommen. In der ersten Folge ging es um die Grundpfeiler des Westens, warum Menschen aus westlichen Ländern nicht „normal“, sondern „seltsam“ sind, wie der Harvard-Anthropologe Joseph Henrich sagt:
12 Joseph Henrich, Humanbiologe Universität Harvard
In einigen Regionen der Welt ist besonders wichtig, wie man sich anderen gegenüber präsentiert. Es geht darum, das Gesicht zu wahren, darum wie ein Netzwerk von Personen über Sie als Individuum denkt. (…) In westlichen Gesellschaften müssen Sie sich dagegen abheben und von anderen unterscheiden, um erfolgreich zu sein.
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Es ging außerdem um Gewaltenteilung, um Checks and Balances, um Vertrauen in unabhängige Institutionen. Die zweite Folge handelte davon, warum andere Teile der Welt Kritik am Westen üben. Besonders prägnant fasste das Sadiq Abba zusammen, der nigerianische Professor für Internationale Beziehungen:
13 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja
Unsere Wahrnehmung der westlichen Welt ist die eines bösen Imperiums, das nur für sich selbst da ist. Wenn du ihre Spiele, ihre Regeln mitspielst, bleibst du für immer ein Gefangener und ein Untertan, der ausgebeutet und enteignet wird.
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Es ging um die Vorwürfe, die den westlichen Staaten gemacht werden. Dass sie auf der einen Seite versprechen, jeder Mensch habe dieselben Rechte und eine unveräußerliche Würde. Andererseits hatten und haben viele Entwicklungsländer den Eindruck, westliche Leben seien mehr wert als die von sagen wir Venezolanern, Maliern oder Palästinensern.
Es ging um die Ambitionen der BRICS-Staaten, insbesondere Chinas, eine neue Weltordnung aufzubauen, in der dem Westen eine kleinere Rolle zukommen soll. Und natürlich ging es auch um die Bedrohungen des westlichen Projekts aus dem Inneren: Wie stark werden Demokratie, Rechtsstaat und internationale Zusammenarbeit von Autokraten bedroht, die durch Wahlen an die Macht kamen – oder kommen könnten?
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Jahrhundertelang hat der Westen die globale Wirtschaft dominiert. Der Westen hat andere Teile der Welt unterworfen und ausgebeutet, Grenzen gezogen, die bis heute Krieg und Zerstörung nach sich ziehen. Man nehme nur den Nahen Osten mit den Grenzziehungen der Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg. Das kapitalistische Wirtschaftssystem und der Energiehunger der Menschen fördern einen solchen Raubbau an der Erde, dass wir inzwischen fast zwei brauchen, um unseren Wohlstand aufrechtzuerhalten. Aber der Westen brachte auch große Errungenschaften hervor: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. In Europa wurden aus Erbfeinden Freunde, Frieden wurde geschlossen, internationale Zusammenarbeit gefördert, es entstand technologischer Fortschritt, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hatte.
Im Laufe der Jahrtausende gab es immer wieder Zivilisationen, die einen Vorsprung hatten und ihn einbüßten, gar verschwanden. Die alten Ägypter, Griechen und Römer, das Osmanische Reich oder China etwa, das heute seinen alten Platz für sich beansprucht. Wird es dem Westen ähnlich ergehen, dessen Bevölkerung immer kleiner und älter wird? In Deutschland hat sich wahrscheinlich niemand so intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt wie der Historiker Heinrich August Winkler. Und so ist es für mich nur logisch, dass ich ihm das letzte Wort lasse:
14 Heinrich August Winkler, Historiker
Der Westen hat seine weltpolitische und weltwirtschaftliche Dominanz längst verloren, aber die Anziehungskraft der Ideen von 1776 und 1789, also der Ideen der Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der repräsentativen Demokratie - diese Anziehungskraft hält unvermindert weltweit an.
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Ich bin Jean-Marie Magro, und das war „Der Westen“.
Mit der dritten und letzten Folge: Was kann aus ihm werden?
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Autor: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Jerzy May, Christopher Mann, Florian Schwarz, Benjamin Stedler, Peter Veit und Hemma Michel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak
Im Interview: Joseph Hendrich, Sadiq Abba, Abubakar Umar Kari, Bertrand Badie, Stephan Lessenich, Thomas Gomart, Heinrich August Winkler, Anne Applebaum, Yasheng Huang
Linktipps:
Deutschlandfunk (2023): Putin und der Westen – Strategien der Destabilisierung
Der russische Präsident Wladimir Putin tut alles, um sich aus der Schlinge der Kriegsfolgen zu winden und seine Partner auf eine neue Allianz einzuschwören. Das gemeinsame Ziel: dem Westen schaden. Aber was hat Westen dem entgegenzusetzen? JETZT ANHÖREN
ARD alpha (2022): China und wir
Innerhalb von wenigen Jahrzehnten haben sich die Machtverhältnisse zwischen China und Deutschland fundamental verschoben. Aus dem einstigen Empfängerland deutscher Entwicklungshilfe ist eine Weltmacht geworden, wirtschaftlich und politisch. Unsere Abhängigkeit von China würden wir gern verringern - aber in welchem Maß ist das überhaupt möglich? alpha-demokratie befasst sich mit den zentralen Fragen und Entwicklungen unserer Demokratie in einer unruhigen Welt - über die Aktualität hinaus. JETZT ANSEHEN
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Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, das sind, so behaupten viele, historische Errungenschaften des Westens. Gegen diese Werte kann man doch gar nichts haben, denken viele. Aber so einfach ist es nicht. Ich bin Jean-Marie Magro und das ist: Der Westen – Eine Überlegung in drei Teilen. Folge 2: Wie uns die anderen sehen. In vielen Teilen der Welt wird das Auftreten des Westens als anmaßend und belehrend wahrgenommen. Andere gehen sogar so weit zu sagen, die internationale Weltordnung sei von westlichen Staaten allein zu deren Vorteilen errichtet worden und müsse umgebaut werden. 2023 ging ein Zitat um den Erdball, ein Satz der aus Nigeria stammenden Generaldirektorin der Welthandelsorganisation WTO, Ngozi Okonjo-Iweala. Sie sagte auf einer Botschafterkonferenz im Auswärtigen Amt in Berlin: „Wenn wir mit China reden, bekommen wir einen Flughafen. Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Joseph Henrich, Harvard-Professor für biologische Anthropologie und Autor von „Die seltsamsten Menschen der Welt“, kam schon in Folge eins zu Wort. Als ich den Satz zitiere, muss er lachen:
1 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard 10
„Ja, ich glaube, das ist wahr. Und eines der Dinge, die ich in dem Buch versucht habe anzusprechen, ist, obwohl die allgemeinen Menschenrechte für mich einfach zu verstehen und wichtig sind: Es ist nicht so, dass alle von ihnen überzeugt sind.“
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Der Westen dominiert seit Jahrhunderten Weltpolitik und Weltwirtschaft. Und, aus Sicht vieler Staaten im sogenannten Globalen Süden, zulasten der anderen. Selbst viele Jahre nach Kolonialismus und Sklaverei beuten westliche Länder noch immer andere aus – so lautet zumindest der Vorwurf. Besonders deutlich wird dieser in afrikanischen Staaten formuliert. Sadiq Abba ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Abuja, der Hauptstadt Nigerias:
2 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 5
„Wir haben genug. Afrika ist der westlichen Welt überdrüssig. Es ist sehr wichtig, dass die westliche Welt damit beginnt, offen über ihr bösartiges Verhalten gegenüber Afrika zu sprechen.“
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Sadiq Abba spitzt in seiner Kritik sehr zu: Er sagt, Zitat: Die angeblich universellen Menschenrechte haben keinen Wert, weil für die Europäer ein Menschenleben in Westafrika weniger Wert hat als ein Straßenköter in Paris. Das sind die Doppelstandards des Westens. Zitat Ende. In den vergangenen Jahren habe ich häufig aus Marokko berichtet. Dort ist mir immer wieder der Vorwurf begegnet, dass sich westliche Staaten empört zeigen, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert. Wenn aber in Afrika Menschen sterben, interessiere das die Weltgemeinschaft recht wenig. Besonders häufig wird auch der Vergleich zwischen Israel und Palästina gezogen. Hier verweisen Kritiker des Westens auf die Todeszahlen: Egal, ob man denen der Hamas glauben möchte oder nicht, klar ist: Auf palästinensischer Seite sterben viel mehr Menschen als auf israelischer. Trotzdem verurteilen westliche Staaten das Vorgehen der Netanjahu-Regierung zögerlicher als das der Hamas und liefern Israel sogar Waffen. Ein Vorwurf, der sich folgendermaßen zuspitzen lässt: Der Westen misst mit unterschiedlichem Maß. Egal, ob man sich dem Urteil anschließen will oder nicht: Es verdeutlicht, dass in einigen Teilen der Welt der Eindruck vorherrscht: Der Westen fordere andere auf, seine Regeln zu befolgen, halte sich selbst aber nur an diese, wenn sie ihm passen. Abubakar Umar Kari lehrt wie Sadiq Abba ebenfalls an der Universität Abuja. Der Politologe meint mit einem Blick auf die Geschichte:
3 Abubakar Umar Kari, Professor Politikwissenschaften Uni Abuja 5
„Die westlichen Staaten predigen Dinge, die sie nicht ernsthaft glauben. Es gibt so viele Beispiele, z. B. sprechen sie von Demokratie und Freiheit, aber sie haben in der Vergangenheit diktatorische Regime unterstützt und Militärjuntas gefördert. Sie schaffen Monopole, sorgen für Instabilitäten und sie tolerieren Despoten. Das steht im Widerspruch zu ihrem Engagement.“
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Und der Vorwurf wird noch eine Runde weitergedreht: Einer der Hauptkritikpunkte, die sich der Westen immer wieder anhören muss, ist: „Eure Werte sind nicht die unseren: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit – klingt gut, aber diese Werte habt ihr entworfen. Nicht wir.“ Bertrand Badie ist emeritierter Professor an der renommierten Pariser Hochschule Sciences Po. Er sagt:
4 Bertrand Badie 2, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris
„Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, ein sehr schönes Dokument. Es wurde von einer Kommission ausgearbeitet, in der nur Europäer und Amerikaner vertreten waren, mit zwei kleinen Ausnahmen:“
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Eine Ausnahme, so Badie, war ein Libanese, der aber als Maronit den katholischen Glauben praktizierte. Der andere war ein Chinese, der in den USA studiert hatte. Ein Ähnliches Bild liegt bei den Institutionen vor, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden: Die Vereinten Nationen mit fünf ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat, die jeweils ein Veto-Recht besitzen. Drei davon sind westlich, womit eine Machtverteilung entsteht, die weder im Verhältnis zur Bevölkerung noch zur wirtschaftlichen Stärke dieser Länder steht. Als Sonderorganisation der UN wurde auch der Internationale Währungsfonds gegründet, der Ländern in Zahlungsschwierigkeiten helfen soll, aber unter anderem wegen seiner drakonischen Sparforderungen immer wieder in der Kritik steht. Seit 1946 stammen alle seine Präsidentinnen und Präsidenten aus Europa. Ebenso eine Sonderorganisation der UN ist die Weltbank, die Entwicklungsprojekte finanzieren soll: Seit ihrer Gründung hatte nur eine Präsidentin keine US-amerikanische Staatsbürgerschaft, die Bulgarin Kristalina Georgiewa 2019, die nur kommissarisch für kurze Zeit übernahm. In den vergangenen Jahren wurden deshalb die Rufe nach einer neuen Weltordnung immer lauter. Einer Weltordnung, die nicht den Westen bevorteilt, sondern aufstrebende Mächte aus den unterschiedlichen Teilen der Welt mehr einbezieht. Das bekannteste und wahrscheinlich auch einflussreichste Bündnis haben die sogenannten BRICS-Staaten geschlossen: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Der Nigerianer Sadiq Abba setzt hierauf große Hoffnungen:
5 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 7
„BRICS Ist ein Wind der Veränderung, der 1979 angefangen hat zu blasen. BRICS steht am Ende einer langen Geschichte der unterentwickelten, der unterdrückten, der ausgebeuteten Welt. Eine Welt, die endlich aufatmen und einen Hauch von Freiheit und Wohlstand spüren kann.“
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BRICS nahm zu Jahresbeginn 2024 weitere Mitglieder auf: Ägypten, Äthiopien, die Emirate und Iran. Eigentlich sollten Argentinien und Irans Erzfeind Saudi-Arabien noch dazukommen. Argentinien lehnte ab, Saudi-Arabien prüft den Beitritt noch. Dass Länder mit so entgegengesetzten Interessen, gar offen ausgetragenen Feindschaften, sich verbünden, überrascht den Soziologen Stephan Lessenich von der Goethe-Universität in Frankfurt nicht. Er hat sich in seiner Forschung mit dem sogenannten Globalen Süden befasst. Diese vermeintlichen Partner vereint alle, dass sie, wie Lessenich es nennt, „Geschädigte westlicher Modernisierungsfantasien“ sind.
6 Stephan Lessenich, Professor Soziologie Uni Frankfurt 4
„Das rechtfertigt überhaupt nicht das chinesische Land Grabbing in Afrika oder die neuen Machtasymmetrien, die jetzt in der Weltwirtschaft entstehen. In Lateinamerika gilt ähnliches: Riesige Abhängigkeit der argentinischen Sojaindustrie von den Lieferungen nach China und so weiter. Also da verschieben sich dann auch wiederum Abhängigkeiten. Aber dass es in zentralafrikanischen Staaten keine Lust mehr gibt, sich von Frankreich irgendwie sagen zu lassen, was man zu tun und zu lassen hat, das liegt irgendwie auf der Hand und ist nachvollziehbar.“
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Bleiben wir beim Beispiel Frankreich und Afrika: Die meisten Kolonien erklärten sich in den Jahren zwischen 1956 und 1960 unabhängig. So zum Beispiel Tunesien, Marokko und auch westafrikanische Länder wie Senegal, Mali und Niger. 1962, nach einem blutigen Krieg, zog Frankreich auch aus Algerien ab. Doch noch Jahre danach bauen französische Konzerne wertvolle Ressourcen in Afrika ab. Bis Juli 2024 hatte etwa der Kernbrennstoffhersteller Orano im Norden Nigers eine Uran-Mine unterhalten, damit die französischen Atomkraftwerke versorgt sind. Der schwerwiegendste Vorwurf aber, der Frankreich in den vergangenen Jahren gemacht wurde, hängt mit der Terrorbekämpfung in Westafrika zusammen. Länder wie Mali, Burkina Faso und Niger müssen seit Jahren gegen dschihadistische Terrormilizen kämpfen. Frankreich schickte zwar Soldaten, die Attentate wurden aber nicht weniger. Das nutzte vor allem ein Land, um seinen Einfluss auszuweiten: Russland. Thomas Gomart leitet den Pariser Thinktank Institut francais des relations internationales, kurz Ifri. Er beschreibt:
7 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 4
Viele dieser Länder hatten nach ihrer Unabhängigkeit marxistisch-leninistische Regime. Ihre Führungskräfte wurden oft in Moskau ausgebildet oder haben von sowjetischen Helfern gelernt. Besonders stark ist das zum Beispiel in Mali ausgeprägt. Während wir im Westen Russland als imperiale Macht wahrnehmen, verbinden diese jungen Nationen Moskau mit ihrer Unabhängigkeit, die sie erst 1960 oder 1962 errungen haben. Das hat Russland ausgenutzt.
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Seit Jahren ist Moskau mit Paramilitärs in Afrika aktiv. Sie unterstützen die Staaten im Kampf gegen die Terroristen. Die westafrikanischen Militärregierungen wie Mali und Burkina Faso schätzen sehr, dass Putin keine Bedingungen wie demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien für seine Hilfe stellt. Dafür dürfen die Russen Minen abbauen, in denen sich seltene Erden, Gold und Diamanten befinden. Russland zeigt sich aufmerksam, liefert Waffen, schenkt Getreide und bringt Radiosender an den Start.
Doch nicht nur wegen Afrika ist Putin-Russland unbestritten eine der größten Herausforderungen für den Westen. Putin betrachtet die USA, die Europäer, die Nato als Feinde. Der Westen wolle die Entwicklung Russlands ausbremsen und es unterworfen, so Russlands Präsident. Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 sagte Putin noch im Deutschen Bundestag, der Kalte Krieg sei vorbei. Doch mit den Jahren ändert sich der Ton. Immer wieder spricht er vom dekadenten Westen und kritisiert die Nato-Osterweiterung. 2014 annektiert Russland die Krim völkerrechtswidrig, weil sich die Ukraine Europa annähern möchte. Acht Jahre später, am 24. Februar 2022, startet Putin-Russland einen Großangriff. Schuld daran sei auch der Westen, sagt Putin:
9 Wladimir Putin, Russischer Staatspräsident
„Der Westen nutzt die Ukraine als Rammbock und als Testfeld gegen Russland. Aber eines sollte allen klar sein: Je mehr Langstreckenwaffen in die Ukraine geliefert werden, desto weiter müssen wir die Gefahr von unseren Grenzen verschieben. Sie sollten sich bewusst sein, Russland ist auf dem Schlachtfeld nicht zu besiegen.“
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Den Historiker Heinrich August Winkler kam auch schon in der ersten Folge zu Wort. Er hat vier große Bände über die Geschichte des Westens geschrieben:
10 Heinrich August Winkler, Historiker 8
Putin knüpft an eine alte russische, von der orthodoxen Kirche gepflegte Tradition an. Russland sieht sich seit langem als wahrer Erbe des Christentums, von dem der aufgeklärte, liberale, der angeblich dekadente Westen vor langem schon abgefallen sei.
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Putins Vorgehen verwundert Heinrich August Winkler nicht. Es sei logisch für einen Mann, der den Zusammenbruch der Sowjetunion nie überwinden konnte:
11 Heinrich August Winkler, Historiker 9
Die Ukraine hat sich 1991, wie alle ehemaligen Sowjetrepubliken, für unabhängig erklärt und die Russische Föderation hat diese Unabhängigkeit anerkannt. Aber abgefunden hat sich Putins Russland mit der Unabhängigkeit der Ukraine nicht. Putin betreibt die Wiederherstellung eines Großrussischen Reiches, in dem kein Platz ist für eine selbstständige Ukraine. Seine Politik ist radikal-revisionistisch, ja offen imperialistisch.
SPRECHER
Will Putin die Sowjetunion wiederherstellen? Oder steht hinter den Partnerschaften, die er mit Iran und Nordkorea eingeht, und der Annäherung an China noch mehr? Thomas Gomart ist ebenfalls Historiker und Kenner Russlands:
12 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 3
Ich glaube, Putin hat ein Kalkül: Seiner Meinung nach befinden wir uns in einem Moment, in dem weltweit der Westen, aber vor allem Europa abgelehnt wird. Weil Europa schrumpft und an Bedeutung verliert. Putin möchte diese Situation auf brutale Weise für sich nutzen.
SPRECHER
In diesem Zusammenhang, nimmt Thomas Gomart an, wäre ein Erfolg für Putin:
13 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 6
Wenn sich die USA zunehmend aus Europa zurückziehen. Dadurch, dass die Europäer sicherheitspolitisch und strategisch nicht reif sind, wäre das für Putin gleichbedeutend mit einer Art Vorherrschaft über einen Teil Europas und damit könnte er China mehr auf Augenhöhe entgegentreten.
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China: Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, Exportweltmeister, Mitglied im UN-Sicherheitsrat, Atommacht… Präsident Xi Jinping verurteilt nicht die russische Invasion in der Ukraine. Das kritisierte unter anderem Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in Peking im April 2023 – und fuhr sofort die Retourkutsche ihres Amtskollegen Qin Gang ein:
14 Qin Gang, Außenminister Volksrepublik China
"Diese Meinungsverschiedenheiten sollten uns nicht davon abhalten, im Austausch zu bleiben. Aber dieser Austausch sollte auf gegenseitigem Respekt und Gleichberechtigung basieren. Was China am wenigsten braucht, sind Lehrmeister aus dem Westen."
SPRECHER
Was verbindet die Volksrepublik mit Putin-Russland, Iran und anderen Mächten, die sich gegen den Westen stellen? Die amerikanische Journalistin und Pulitzerpreisträgerin Anne Applebaum:
15 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin 13
„Sie sehen die liberale Welt als eine Bedrohung für sich und arbeiten zusammen, um die Verbreitung liberaler Ideen in ihrem Land zu verhindern. Und sie glauben, dass ihr eigenes Überleben davon abhängt, liberale Ideen zu unterdrücken, wo auch immer in der Welt sie zu finden sind.“
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Unter „liberalen Ideen“ fasst Applebaum vieles zusammen: Freie Wahlen, ein unabhängiger Rechtsstaat, aber auch der Schutz von Minderheiten. Gerade Letzteres wird von Putin immer wieder aufgegriffen als ein Beispiel des Verfalls des dekadenten Westens. Doch so sehr Putin und der chinesische Außenminister auch poltern: Sind sie die größte Gefahr für den Westen? Nein, findet Yasheng Huang:
16 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 6
„Sie brauchen doch nicht China, um Amerika zu untergraben. Das ist einfach lächerlich.“
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Die größte Bedrohung für westliche Demokratien, ist der Direktor des China und India Lab am MIT in Boston überzeugt, stellen antiliberale Kräfte im Westen selbst dar. Menschen, die das politische System aus dem Inneren heraus zerstören wollen. Egal ob aus Politik oder Wirtschaft. Für die USA, wo er lebt, nennt er Elon Musk als Beispiel, der auf seinem sozialen Medium X und mit seinem Vermögen eine politische Agenda verfolge. Wo hingegen liege das Problem, wenn China Brücken, Autobahnen, Zugtrassen und Häfen in Afrika baue, fragt Huang:
17 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 10
„Falls die Neue-Seidenstraße-Initiative objektiv dafür sorgen sollte, dass das Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern gefördert wird, dann sollten wir das feiern. Warum schadet es dem Westen, wenn Afrika nicht mehr in Armut und Hunger versinkt?“
MUSIK
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Können Sie sich noch an den Anfang der Folge erinnern und das Zitat der Präsidentin der Welthandelsorganisation? „Wenn wir mit China reden, kriegen wir einen Flughafen – Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Wenn Yasheng Huang diesen Satz hört, reagiert er fast schon beleidigt. Er ist Professor, verdient sein Geld mit Vorträgen und ist der festen Überzeugung, dass ein richtiger Vortrag mehr wert sein kann als ein Flughafen. So nämlich sei China von einem der ärmsten Länder der Welt zur zweitgrößten Volkswirtschaft geworden – in einem Zeitraum von nicht einmal 50 Jahren:
18 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 12
„Im Jahr 1978 wurde den Führern der Kommunistischen Partei von amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern erklärt, dass die zentrale Planung versagt habe und marktwirtschaftliche Reformen eingeleitet werden müssen. Das war ein Vortrag, kein Flughafen. Nachdem sie die Wirtschaftsreformen eingeleitet hatten, wuchs die Wirtschaft, der Staat sparte und nahm Geld ein, das dann verwendet wurde, um Flughäfen zu bauen. Ich würde sagen, dass sie zu viele Flughäfen bauen, aber das ist eine andere Diskussion.“
SPRECHER
Man darf das Pferd nicht von hinten aufzäumen, meint Yasheng Huang. China habe einen Vortrag bekommen – und genau zugehört:
19 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 8
„China ist reich geworden, weil es sich dem Westen angenähert hat. Ein bekanntes Zitat von Deng Xiaoping lautet: "Schauen Sie sich die Freunde der Sowjetunion an. Sie sind alle arm geworden. Die DDR, Rumänien, Polen. Und schauen sie auf die Freunde der Vereinigten Staaten, die sind alle reich geworden: Japan und Südkorea und auch Westdeutschland." Die Kommunistische Partei Chinas hat als Institution enorm von der engeren Bindung an den Westen profitiert.“
SPRECHER
Während die Sowjetunion zusammenbrach, weil sie die Wirtschaft nicht entwickelte und zu viel Geld für Militär ausgegeben habe, habe China wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung profitiert, so Huang. Wer aber wirtschaftlich erfolgreich ist, wolle auch mehr Macht: Wie ein Pilzgeflecht breite China sich mit seiner Neue-Seidenstraßen-Initiative auf unterschiedlichen Kontinenten aus. Eine gute Entwicklung, meint der nigerianische Professor für Internationale Beziehungen Sadiq Abba:
20 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 8
„Die Welt von morgen wird bereits ohne den Westen gebaut. Der Westen versucht nur verzweifelt, seinen Rückstand aufzuholen. Die Welt braucht den Westen nicht. Der Westen braucht die Welt.“
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Das sind Worte, die sitzen. Vorhin hatte Abba schon gesagt, dass BRICS ein Wind der Hoffnung sei. Die Sehnsucht, dass sich etwas ändert, ist in China, in Afrika, aber auch in anderen Regionen groß. Thomas Gomart aus Paris kann die Kritik nachvollziehen. Der Westen sei nicht unfehlbar. Trotzdem, so Gomart, müssten sich dieselben Staaten, die Vorwürfe erheben, auch welche gefallen lassen:
21 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 15
„Wir beobachten auch, dass die Führer der Länder, die den Westen heftig kritisieren, Vermögen im Westen haben, ihre Kinder hier auf Schulen und Universitäten schicken. Sie kaufen Privilegien und Sicherheit. Und das ist auch ein Paradoxon, das man ansprechen muss. Menschen machen sich auf den Weg nach Europa, nach Kanada, in die USA, in offene Systeme. Da sieht man, welch Anziehungskraft die westlichen Gesellschaften haben.“
SPRECHER
An Gomarts Argument merkt man, dass es der Debatte guttut, wenn man sie differenziert führt. Ja, die westlichen Länder haben viele Fehler gemacht und sich auf Kosten von schwächeren Staaten bereichert. Aber heißt das, dass sie für alles verantwortlich gemacht werden können? Als erstes müsse der Westen vor allem eines schaffen, meint der Leiter des Thinktanks Ifri: Entwicklungsländer als gleichwertige Partner anzuerkennen. Und Anerkennung fängt damit an, verstehen zu wollen, wie der andere die Welt sieht:
22 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 18
„Der grundlegende Unterschied zwischen dem Westen und dem globalen, ich sage lieber transaktionalen, also geschäftsorientierten Süden auf der anderen Seite ist meiner Meinung nach der historische Referenzpunkt. Wir bauen unsere Politik, unsere politische Kultur, unsere philosophischen und intellektuellen Debatten seit 1945 auf der Erinnerung an die Shoah auf. Im globalen Süden wiederum, so kommt es mir vor, ist der Referenzpunkt die Erinnerung an den Kolonialismus.“
SPRECHER
Natürlich müssten auch konkrete politische und wirtschaftliche Ergebnisse aus einer Zusammenarbeit folgen. Aber dem vorgeschaltet ist, so Gomart, dass der Westen nicht mehr als belehrend und anmaßend wahrgenommen werden darf. Sondern dass sich die ehemals unterworfenen Länder von denen, die sie einst beherrschten, ernstgenommen und gleichberechtigt fühlen. Der Historiker Heinrich August Winkler bleibt zuversichtlich, dass das möglich ist:
23 Heinrich August Winkler, Historiker 10
„Sklaverei und Sklavenhandel, Kolonialismus und Imperialismus, die gehören zum historischen Sündenregister des Westens. Die Geschichte des Westens war immer auch eine Geschichte von brutalen Verstößen gegen die eigenen Werte, sie ist aber auch eine Geschichte von Selbstkritik und Selbstkorrekturen, also von Lernprozessen.“
SPRECHER
Der Westen hat es über Jahrhunderte geschafft, sich immer wieder neu zu erfinden, sagt Heinrich August Winkler. Gelingt ihm das auch dieses Mal? Oder steht das, wie Winkler es nennt, „normative Projekt des Westens“ vor dem Aus? Darum wird es in der dritten und letzten Folge gehen.
Ich bin Jean-Marie Magro, und das die zweite Folge unseres Dreiteilers „Der Westen“: Wie uns die anderen sehen.
Alle drei Folgen gibt’s in unserem Feed „Alles Geschichte“ - in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. Da können Sie auch „Alles Geschichte“ abonnieren.
Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.
Credits
Autor: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Benjamin Stedler, Heinz Gorr, Jerzy May und Hemma Michel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak
Im Interview: Joseph Hendrich, Tappei Nagatsuki, Yasheng Huang, Sadiq Abba, Anne Applebaum
Besonderer Linktipp der Redaktion:
WDR (2024): Killing Jack – Warum der Ripper-Mythos uns nicht loslässt
Es ist der wohl bekannteste True-Crime-Fall der Welt: Jack the Ripper. Was fasziniert uns am Mythos eines brutalen Frauenmörders? Und muss die Geschichte vom Ripper heute nicht ganz anders erzählt werden? In „Killing Jack“ gehen die Hosts Caro und Jürg zurück zur Geburt des vielleicht bekanntesten Cold Case der Welt. Dem Godfather of True Crime. Sie stoßen auf brutale Fakten; fragen, wie der Mythos entstand - und versuchen ihn zu killen. Warum? Und wie das gehen soll? ZUM PODCAST
Linktipps:
ARD alpha (2019): Andere Länder, andere Verbote
Wann darf der Staat etwas verbieten? Dana Newman, gebürtige Amerikanerin, fragt nach den Grenzen der individuellen Freiheit in Deutschland. Die ist zwar in der Verfassung vielfach garantiert, aber sie endet dort, wo sie Freiheiten anderer oder das Gemeinwohl berührt. Wo diese Grenze konkret erreicht ist, darüber wird in der Demokratie oft heftig gestritten. Die Reportage zeigt verschiedene Freiheitskämpfende – von Klimaaktivisten bis zum Ernährungswissenschaftler – und zeigt, dass Fakten und Vernunft längst nicht immer entscheiden sind, wenn es um die Freiheit geht. JETZT ANSEHEN
Deutschlandfunk Kultur (2019): Warum sich der Westen neu erfinden muss
Viel zu lang habe der Westen gebraucht, um die Veränderungen im weltpolitischen Machtgefüge nach 1990 zu begreifen, kritisiert Ramon Schack. Und hat dabei vor allem den Aufstieg Chinas im Blick. Uns dagegen droht der Rückfall in die Mittelmäßigkeit. JETZT ANHÖREN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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MUSIK
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Wer bin ich?... Wenn Sie jetzt befürchten, das könnte eine Folge über den Existenzialismus werden: Keine Angst. Aber je nachdem, wo Sie aufgewachsen sind, werden Sie diese Frage „Wer bin ich?“ höchstwahrscheinlich unterschiedlich beantworten. Wenn Sie mich, den Autor dieser Folge fragen, wer ich bin, dann würde ich Ihnen so antworten:
Jean-Marie Magro, Journalist, ich spreche in Mikrofone, fahre viel Rad, lese in meiner Freizeit, mal ein Sachbuch, mal eine japanische Romanreihe oder einen Manga. So in der Art. Ich definiere mich also über meinen Beruf und das, was ich gerne tue. In anderen Teilen der Welt klingt das völlig anders. Wenn Sie in einem malischen Dorf fragen würden, würde die Person höchstwahrscheinlich erst die Namen ihrer Eltern zitieren. In Südkorea ist das Alter entscheidend, weil man die Älteren respektieren muss. Und so gibt es ganz viele Beispiele. Joseph Henrich ist leidenschaftlicher Kayakfahrer, aber deshalb habe ich ihn nicht für diese Reihe interviewt. Henrich ist Professor für biologische Anthropologe an der Harvard University in Boston. Er sagt, dass viele Psychologen jahrzehntelang einem großen Irrtum aufgesessen seien:
1 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Wir haben festgestellt, dass viele Forscher fast ausschließlich amerikanische Studenten oder Menschen in westlichen Gesellschaften, aber nur sehr wenige Menschen aus anderen Weltregionen untersucht haben. Und so haben diese Wissenschaftler allgemeine Annahmen vorgenommen und formuliert, die verzerrt waren.
SPRECHER
In Wahrheit ist nämlich nicht der Rest der Welt eigenartig, sondern wir – meint jedenfalls Joseph Henrich. Wer sind wir, wer ist der Westen?
MUSIK
Das ist: Der Westen – Eine Überlegung in drei Teilen. Folge 1: Wer sind wir eigentlich? Da fängt das Problem schon an, weil es keine scharfe Trennlinie gibt. Sollte man die Mitgliedsstaaten der OECD nehmen, die NATO oder allgemein jene Länder, die Demokratie, Menschen- und Freiheitsrechte vertreten? Letzteres könnte auch Japan oder Taiwan miteinschließen. In den drei Folgen dieser Reihe möchte ich mich auf Nordamerika und die Europäische Union konzentrieren. Knapp über 800 Millionen Menschen.
MUSIK
Wir, die wir in westlichen Gesellschaften aufgewachsen sind und leben, sind also laut Joseph Henrich komisch. Wir tanzen aus der Reihe. Henrich hat einen weltweiten Bestseller geschrieben. Auf Deutsch heißt er „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Das Wort seltsam ist die Übersetzung für das englische WEIRD, ein Akronym, das Henrich und andere Psychologen gewählt haben. WEIRD steht in diesem Fall für Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic. Also westlich, gebildet, industrialisiert, reich und demokratisch. Henrich meint, aus seinen Studien gehe hervor, dass wir im Westen, in Nordamerika und den europäischen Staaten, ganz anders auf die Welt blicken als alle anderen.
2 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Ein klassisches Beispiel: Sie geben einer Versuchsperson ein Bild mit einem Kaninchen und fragen, ob das Kaninchen besser zu einer Karotte oder zu einem Hund passt. Wenn Sie analytisch denken, würden Sie sagen: Kaninchen und Hund, beides Tiere. Wenn Sie aber holistisch, also ganzheitlich denken, suchen Sie nach Beziehungen. Diese Menschen denken: "Kaninchen fressen gerne Karotten, also gehören Kaninchen und Karotten zusammen. Und wenn man sich in der Welt umschaut, dann ist es so, dass die westlichen Gesellschaften die Orte sind, an denen das analytische Denken sehr stark ausgeprägt ist, und an anderen Orten ist es schwer, jemanden dazu zu finden, der eine analytische Entscheidung trifft.
MUSIK
SPRECHER
Ich persönlich habe mich immer als eine Person gesehen, die versucht, die Welt aus anderen Blickwinkeln und nicht nur durch meine deutsche Brille zu sehen. Das kommt alleine daher, dass ich einen französischen Vater habe und zweisprachig aufgewachsen bin. Ich bin schon lange von japanischer und südkoreanischer Popkultur fasziniert, habe mehrfach für die ARD in Nordwestafrika gearbeitet. Aber ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich bemerkt habe, dass ich WEIRD bin.
MUSIK
Es war in Tokio im Mai 2023. Ich habe den Schriftsteller Tappei Nagatsuki interviewt, der meine Lieblingsfantasy-Reihe schreibt. Nagatsuki schreibt darin echt gruselige Szenen, sein Protagonist Subaru muss unheimlich leiden. Ich habe dem Japaner dann die Frage gestellt, was er von dem, wie ich dachte, weltbekannten US-amerikanischen Autor John Irving hält. Der hat einmal gesagt, er entwerfe in seinen Romanen Figuren, die er wirklich liebt – und dann tue er ihnen das Schlimmste an, das ihm einfiele. Hier antwortet mir Tappei Nagatsuki:
3 Tappei Nagatsuki, japanischer Schriftsteller
Was dieser John Irving sagt, damit kann ich mich sehr gut identifizieren. Je mehr ich Charaktere mag, umso schlimmere Sachen möchte ich Ihnen antun. Und da Subaru mein Protagonist ist, kriegt er am meisten ab. (lacht)
MUSIK
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Mein erster Reflex war: Er kennt John Irving nicht? Und kurz darauf fiel mir dann auf, wie sehr ich die Welt durch meine westliche Brille betrachtet hatte. Woher soll ein japanischer Fantasyautor vom anderen Ende der Welt einen amerikanischen Schriftsteller kennen? Nicht nur hierin unterscheidet sich unsere westliche, deutsche Öffentlichkeit von der östlich-japanischen. Der Anthropologe Joseph Henrich sagt, das hinge damit zusammen, dass im Westen die Schuld eine treibende Kraft für menschliches Handeln sei. In anderen Teilen der Welt dominiere jedoch die Scham:
4 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
In einigen Regionen der Welt ist es besonders wichtig, wie man sich anderen gegenüber präsentiert. Es geht darum, das Gesicht zu wahren, darum wie ein Netzwerk von Personen über Sie als Individuum denkt. Das führt oft zu Konformität und einer großen Sorge, wie man sich selbst darstellt. Der innere Geisteszustand spielt dabei keine große Rolle. Es geht um das äußere Verhalten und darum, wie sich die Menschen der Welt präsentieren. In westlichen Gesellschaften müssen Sie sich abheben und von anderen unterscheiden, um erfolgreich zu sein. Hier neigen Menschen dazu, nicht Scham-, sondern Schuldgefühle zu haben.
SPRECHER
Ein Beispiel für solche Schuldgefühle: Sie können sich schlecht fühlen, weil sie nicht ins Fitnessstudio gegangen sind. Ihrem Nachbarn ist das wohl egal. Schämen würden sie sich also vor ihm nicht. Stattdessen fühlten sich im Westen viele dazu verpflichtet, etwas für sich und ihren Körper zu tun, um mit sich selbst im Reinen zu sein. Es geht also um uns selbst, das Individuum. Ein Beispiel dafür ist das Tragen eines Mund-Nasenschutzes. In Japan gab es während der Corona-Pandemie nie eine Maskenpflicht – das war gar nicht nötig, die Menschen trugen sie freiwillig. In fast allen westlichen Staaten dagegen schon. In Europa und den USA wurde das Tragen von Masken zunehmend heftig kritisiert. Eines der am häufigsten genannten Argumente dabei war: Die Maskenpflicht schränke die individuelle Freiheit ein.
MUSIK
Warum sind wir so „eigenartig“? Und es geht ja noch viel weiter: Warum sind wir im Westen verhältnismäßig wohlhabend? Für Joseph Henrich ist dabei zentral, wie schnell sich Lesen und Schreiben in Europa ausgebreitet haben. Dabei hat ein gewisser Martin Luther vor über 500 Jahren eine wichtige Rolle gespielt:
5 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Man kann an den deutschen historischen Daten tatsächlich ablesen, dass die Nähe zu Wittenberg einen Einfluss auf die Lese- und Schreibfähigkeit hatte. Je näher man also dem Zentrum der Reformation war, desto wahrscheinlicher war es, dass man auch im 19. Jahrhundert noch lesen und schreiben konnte.
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Die Reformation war also der Grundstein dafür, dass das sogenannte Abendland abhob? An dieser Stelle hilft vielleicht ein Blick von außen. Der Wirtschaftswissenschaftler Yasheng Huang ist Professor am Massachusetts Institute of Technology in Boston, kurz MIT. Er unterrichtet Internationales Management und leitet das China und India Lab an der Universität. Huang sagt, die Alphabetisierung allein kann nicht der ausschlaggebende Grund dafür sein, warum die Vereinigten Staaten und Europa über Jahrhunderte mehr Wohlstand schufen als China.
6 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT
In China konnten schon recht früh verhältnismäßig viele Menschen lesen und schreiben. Die Zahl stagnierte dann aber. Im Westen war es umgekehrt. Am Anfang gab es relativ wenige Alphabeten, dann aber wurden es schnell immer mehr.
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Huang hat ein Buch geschrieben, das sich fast wie eine Fortsetzung von Joseph Henrichs „Die seltsamsten Menschen der Welt“ liest. Huangs Buch trägt den Titel: „The Rise and Fall of the EAST”, also Aufstieg und Fall des Ostens. Huang, 1960 in Peking geboren, meint: Die Stärke des Westens liegt in seiner Fähigkeit, sich neu zu erfinden. Und das lasse sich schon vor rund 1000 Jahren sehen:
7 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT
Die katholische Kirche erhob sich, um die damalige politische Autorität herauszufordern, und dann wurde die katholische Kirche selbst von anderen Ideen wie dem Protestantismus und weltlichen Ideen herausgefordert. Es entstand also ein Markt der Ideen.
MUSIK
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Vor dem sechsten Jahrhundert hatte es auch in China so einen Marktplatz der Ideen und auch einen regen Handel gegeben, sagt Huang. Es gab unterschiedliche Glaubensrichtungen: Konfuzianismus, Buddhismus, Daoismus. Westen und Osten waren sich ähnlich, meint der Professor. Doch dann endete das abrupt. Huang meint, das hänge damit zusammen, dass in China ein Regime die Macht übernahm, das andere Ideen unterdrückte und nicht mehr herausgefordert wurde. Während im Westen die Revolutionen in den USA und Frankreich Demokratie, Nationalstaat und Rechtsstaatlichkeit hervorbrachten, wurden in China trotz mehrerer Rebellionen nur die Köpfe ausgetauscht, die Ordnung blieb gleich. Der Harvard-Anthropologe und Psychologe Joseph Henrich stimmt dem China-Experten zu: Die westliche Kirche spielt für den Westen und wie unsere Gesellschaften heute strukturiert sind, eine besonders wichtige Rolle. Verbot der Vielehe und des Heiratens enger Verwandter waren nur eine Sache. Die katholische Kirche hatte auch ihre eigene Streitmacht, erhob gegen die Königshäuser das Schwert. Rund 900 bis 1000 nach Christus schließen sich Menschen zu freiwilligen Vereinigungen zusammen. Auch und vor allem innerhalb der Kirche.
8 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Man schloss sich einer Stadt oder einem Verein an, und wenn sich jemand von ihnen verletzte oder alt wurde, kümmerten sich die anderen um diese Person. Es handelte sich also um eine Art Versicherungssystem, das auf Gegenseitigkeit beruhte. An einigen Orten entstanden daraus Gilden. Das waren Berufsgilden vorstellen müssen, die als gegenseitige Selbsthilfe begannen und bestanden lange Zeit als Gesellschaften bestanden.
MUSIK
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Viele Historiker und Anthropologen sagen, dass diese freiwilligen sozialen Versicherungssysteme, die über die Familienbande hinausgehen, eine frühe Besonderheit westlicher Gesellschaften waren. Später, als es zu Abkommen zwischen Königen und Kirchen kam, wurde die katholische Kirche selbst durch den Protestantismus herausgefordert. Dazu kommen Revolutionen. Politische, wie etwa die amerikanische 1776 und die französische 1789, die jeweils zu gesellschaftlichen Umstürzen führten. Aber auch technologische wie die Erfindungen des Buchdrucks, der Dampfmaschine oder der Elektrizität. Westliche Gesellschaften erlangen so einen Vorsprung, auch auf Kosten anderer Weltregionen. Dem Thema Kolonialismus wollen wir uns aber erst näher in der zweiten Folge widmen. Zuerst einmal sollten wir klären: Welche sind die Pfeiler des Westens? Einer, der sich wie kaum ein anderer mit dieser Frage beschäftigt hat, ist Prof. Heinrich August Winkler. Der Historiker hat vier Bände über die Geschichte des Westens geschrieben. Er schlägt dabei einen weiten Bogen, über die alten Ägypter und das byzantinische Reich, die Magna Carta und die Bill of Rights bis ins Heute. Winkler spricht vom „normativen Projekt des Westens“:
9 Heinrich August Winkler, Historiker
Zu diesem Projekt gehören die Ideen der allgemeinen unveräußerlichen Menschenrechte, des Rechtsstaates oder der Rule of Law, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Man kann diese Ideen, auch die politische Konsequenz der Aufklärung nennen.
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Fassen wir mal all diese Punkte in einem Satz zusammen: Der Westen gründet auf dieser einen Idee:
10 Heinrich August Winkler, Historiker
Die Maxime, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind, ist die säkularisierte Fassung des Satzes, dass vor Gott alle Menschen gleich sind.
MUSIK
SPRECHER
Sprich: Die Trennung zwischen Staat und Religion, die Säkularisierung. Die hat auch im Westen unterschiedliche Formen. In Deutschland wird Kirchensteuer fällig und Religion an Schulen unterrichtet, in den USA werden Millionen Kinder zuhause unterrichtet, was vor allem Evangelikale und Erzkonservative in Anspruch nehmen. Frankreich hingegen bezeichnet sich als laizistischen Staat, Religion darf in öffentlichen Gebäuden im Prinzip nicht stattfinden. Die Trennung zwischen Staat und Religion, sagt Heinrich August Winkler, gehe auf ein Wort Jesu zurück. In der Bibel heißt es nämlich:
11 Heinrich August Winkler, Historiker
"Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Damit wird der weltlichen Gewalt eine Eigenverantwortung zugestanden und einem Gottesstaat oder einer Priesterherrschaft eine Absage erteilt.
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Wobei man natürlich immer wieder Einschränkungen machen muss. In einigen osteuropäischen Ländern spielt die Kirche in der Politik weiterhin eine wichtige Rolle. Sie werden nun vielleicht denken, dass die Kommunistische Partei in China auch keine Priesterherrschaft anstrebt. Doch was bei westlichen Demokratien besonders wichtig ist, sagt Heinrich August Winkler, ist die Gewaltenteilung, die Checks and Balances. Dass Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Gerichte unabhängig voneinander sind:
12 Heinrich August Winkler, Historiker
Für den Westen, das sogenannte Abendland, war diese Entwicklung grundlegend. Im Europa der Ostkirche, dem byzantinisch-orthodoxen Osten Europas, kam es nicht zu einer solchen Ausdifferenzierung der Gewalten und damit auch nicht zu einer freiheitlichen Evolution wie sie sich im Westen vollzogen hat.
MUSIK
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Grundlegend für das normative Projekt des Westens ist also die Teilung der Gewalten. Aus dem Vertrauen in den Rechtsstaat leiten Menschen im Westen ein Verständnis von Gerechtigkeit ab, das sich im Vergleich zu anderen Teilen der Welt grundlegend unterscheidet, wie der Harvard-Anthropologe Joseph Henrich beobachtet. Ein Gedankenexperiment veranschaulicht das deutlich: das sogenannte Passagierdilemma.
13 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard
Sie sind mit einem Freund oder einem Familienmitglied im Auto unterwegs. Sie stoßen mit jemandem zusammen, weil ihr Freund rücksichtslos gefahren ist und dabei stirbt die andere Person. Es gibt einen Rechtsstreit. Der Anwalt Ihres Freundes sagt Ihnen, dass niemand sonst den Unfall gesehen habe und wenn Sie aussagen, dass Ihr Freund nicht zu schnell gefahren ist, wird er freigesprochen. Wenn Sie aber die Wahrheit sagen, kommt Ihr Freund ins Gefängnis. Was also tun? An vielen Orten auf der Welt scheint es absurd, die Frage überhaupt zu stellen: Natürlich werde ich meinen Freund bzw. mein Familienmitglied unterstützen. Aber an manchen Orten sind die Menschen der Meinung, dass sie den Rechtsstaat respektieren müssen. Sie sind also eher geneigt, die Wahrheit zu sagen.
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Während also die einen – komme, was wolle – zu ihren Nächsten halten, finden in westlichen Gesellschaften die meisten Menschen, der Übeltäter habe eine Strafe verdient. Um also nochmal zusammenfassen: Westliche Gesellschaften sind im Vergleich zum Rest der Welt individueller, sie zeichnen sich dadurch aus, dass Staat und Religion zumindest zu einem gewissen Grad voneinander getrennt sind – und sie haben mehrheitlich ein anderes Verständnis von Gerechtigkeit. Dieser Prozess hat nicht gleichzeitig in allen westlichen Gesellschaften stattgefunden. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich die Ideen der amerikanischen und der französischen Revolution im Alten Westen selbst durchgesetzt haben. Heinrich August Winkler:
14 Heinrich August Winkler, Historiker
In Deutschland etwa wurde im 19. Jahrhundert zwar der Rechtsstaat verwirklicht, gegen die Ideen der allgemeinen Menschenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie aber gab es bis weit ins 20 Jahrhundert hinein vor allem bei den Herrschaftseliten und im gebildeten Bürgertum massive Vorbehalte. Der Höhepunkt der deutschen Auflehnung gegen die Ideen des Westens war die Herrschaft des Nationalsozialismus. Erst nach der totalen Niederlage von 1945 öffnete sich der westliche Teil Deutschlands auf breiter Front der politischen Kultur des Westens.
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Und in Ostdeutschland sind die Ideen des Westens erst nach dem Fall der Mauer eingeführt worden. Auch wenn die DDR rhetorisch versuchte, diese Werte zu repräsentieren: Es gab keine freien Wahlen und erst recht keinen von der Partei unabhängigen, funktionierenden Rechtsstaat. Keine individuelle Freiheit, sondern der Versuch der absoluten Kontrolle. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama wurde damals mit seiner These berühmt, die liberale Demokratie habe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gesiegt. Die Geschichte sei nun zu Ende.
15 Heinrich August Winkler, Historiker
Der Sieg der Freiheit, der 1989 gefeiert wurde, war aber kein weltweiter Sieg. Russland wurde nur zeitweise und oberflächlich von den revolutionären Ideen des Westens erfasst. In China wurden die Freiheitsbestrebungen der akademischen Jugend im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking blutig unterdrückt. Die Geschichte ist 1989 / 90 eben nicht zu Ende gegangen, sie ist in ein neues Stadium eingetreten.
MUSIK
SPRECHER
Die westlichen Ideen – Demokratie, Rechtsstaat, unabhängige Medien, der Schutz von Minderheiten – , sie müssen sich heute aber in jeder westlichen Gesellschaft Angriffen erwehren, sagt Anne Applebaum. Die Journalistin ist eine der anerkanntesten Expertinnen für Osteuropa und Russland. Für ihr Werk „Der Gulag“, in dem sie über die sowjetischen Gefangenenlager schreibt, erhielt sie den weltweit wichtigsten Journalistenpreis, den Pulitzer-Preis. Im Oktober 2024 wurde außerdem sie mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Applebaum ist mit dem aktuellen polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski verheiratet und lebt seit vielen Jahren in Polen. Die Amerikanerin schrieb seit Jahren über die rechtsnationale PiS-Regierung in Warschau, die Staatsmedien und Gerichte nach ihrem Geschmack besetzte. 2023 verlor die PiS jedoch die Mehrheit an eine Koalition aus Liberalen, Konservativen und Linken. Das Bündnis versucht nun, die Entscheidungen der PiS rückabzuwickeln.
16 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Diese Veränderung wird von der Bevölkerung in hohem Maße unterstützt. Die Regierungskoalition verfügt über eine klare Mehrheit und hat eine große öffentliche Unterstützung. Aber es wird hart. Es ist viel einfacher, den Rechtsstaat zu zerstören, als ihn wiederherzustellen.
SPRECHER
Applebaum hat schon vor Jahren in Essays und ihrem Buch „Die Verlockung des Autoritären“ gewarnt: Die Gleichschaltung der Medien und die Beschneidung des Rechtsstaats passierten in Ungarn und Polen nicht nur, weil diese Länder Republiken der ehemaligen Sowjetunion waren.
17 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Fast jede westliche Demokratie ist von diesen ideologischen Angriffen gegen die Demokratie ausgesetzt, wenn sie auch an verschiedenen Orten unterschiedliche Formen annehmen. Die extreme Rechte und die extreme Linke könnten sowohl die französische als auch die deutsche Demokratie bedrohen. Die Vereinigten Staaten, Polen und Ungarn: Niemand ist vor dieser Gefahr gefeit.
MUSIK
SPRECHER
Was sind die Gründe für die Krise des Westens? Es ist unstrittig, dass die westlichen Staaten, allen voran die europäischen, international an Bedeutung verlieren. Ihr Anteil an der Bevölkerung und an der Weltwirtschaft wird kleiner. Diese Tatsachen sind aber nur eine Erklärung für die Krise. Wesentlich sind für Anne Applebaum die Folgen der gegenwärtigen Kommunikationstechnologie. Sie führen dazu, befürchtet die Journalistin, dass in westlichen Gesellschaften immer mehr Menschen Vertrauen in Demokratie und seine Repräsentanten verlieren:
18 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Es geht um eine demokratische Krise, die mit den Entwicklungen zusammenhängt, die uns die moderne Wirtschaft und das moderne Informationssystem gebracht haben. Also wie Menschen untereinander kommunizieren und an politische Informationen gelangen und sie verarbeiten. Da gibt es ähnliche Muster in wirklich jeder westlichen Demokratie.
SPRECHER
Zu einer gut funktionierenden Demokratie gehört, dass die Bevölkerung frei und geheim ihre Vertreterinnen und Vertreter wählen kann. Das Ergebnis muss von allen Seiten akzeptiert werden. Schon hier merkt man, dass dies keine Selbstverständlichkeit mehr in westlichen Ländern ist.
MUSIK
In dieser Folge haben wir uns damit beschäftigt, was uns Menschen im Westen ausmacht, was die Grundpfeiler des Westens sind und wie sie entstanden sind, und wir haben angeschnitten, warum sich westliche Demokratien in der Krise befinden. Freiheit, die Gleichheit von Menschen, Demokratie und der Rechtsstaat. Viele würden diese Grundsätze wahrscheinlich unterschreiben und stolz auf sie sein. In der nächsten Folge wollen wir uns aber damit beschäftigen, wie der Rest der Welt auf den Westen blickt. Und was soll man sagen: Dort wird ganz anders empfunden:
19 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 1
Unsere Wahrnehmung der westlichen Welt ist die eines bösen Imperiums, das nur für sich selbst da ist. Wenn du ihre Spiele, ihre Regeln mitspielst, bleibst du für immer ein Gefangener und ein Untertan, der ausgebeutet und enteignet wird.
MUSIK
SPRECHER
Ich bin Jean-Marie Magro, und das war die erste Folge des Dreiteilers „Der Westen“: Wer sind wir eigentlich? Alle drei Folgen gibt’s in unserem Feed „Alles Geschichte“ - in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. Da können Sie auch „Alles Geschichte“ abonnieren.
Nach der Ausstrahlung der ersten drei Folgen von "Paula sucht Paula" bekommen wir viele Zuschriften. Eine davon von einer Dame, die Paula Schlier persönlich kannte. BR-Autorin Paula Lochte trifft sie und erfährt eine Geschichte, mit der sie nicht gerechnet hat. Und die heute aktueller ist denn je.
Credits
Autorin: Paula Lochte
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Xenia Tiling, Rainer Schaller
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview: Monika Decker, Katja Wildermuth a
Linktipps:
Hitlerputsch 1923: Das Tagebuch der Paula Schlier
Dokumentation in der ARD Mediathek
Deutschland 1923: Inflation, Hunger, instabile politische Verhältnisse. In dieser Zeit schleicht sich die 24-jährige Paula Schlier undercover beim "Völkischen Beobachter", dem Kampfblatt der NSDAP, ein und gerät mitten in Hitlers Putschversuch.
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Der Hitlerputsch 1923. Demokratie in Gefahr
Podcastfolge / Bayerisches Feuilleton / ARD Audiothek
Am Abend des 8. November 1923 stürmte Adolf Hitler mit seinen Gefolgsleuten eine politische Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller, schoss mit einer Pistole in die Luft und verkündete die nationale Revolution. Der Putschversuch scheiterte blutig vor der Feldherrenhalle. Die Folgen aber waren gravierend. Thomas Grasberger rekonstruiert die historischen Ereignisse jener Tage.
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Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
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Der vielfach preisgekrönte Alles Geschichte-Podcast "Paula sucht Paula" geht in die Verlängerung mit einer neuen Folge! Undercover-Reporterin - so würde man sie heute nennen: Paula Schlier. Kurz vor dem Hitlerputsch 1923 hat sie sich beim Nazi-Hetzblatt "Völkischer Beobachter" eingeschleust. Nur knapp entging sie KZ-Haft und Ermordung in der Psychiatrie. Nun kommt ein neues Kapitel hinzu: Denn nach der Ausstrahlung haben wir viele Zuschriften erhalten, darunter von einer alten sehr guten Bekannten Paula Schliers....
Credits
Autorin: Paula Lochte
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Xenia Tiling
Technik: Adele Meßmer
Redaktion: Andrea Bräu, Susanne Poelchau
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Hitlerputsch 1923: Das Tagebuch der Paula Schlier
Dokumentation in der ARD Mediathek
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Der Hitlerputsch 1923. Demokratie in Gefahr
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Am Abend des 8. November 1923 stürmte Adolf Hitler mit seinen Gefolgsleuten eine politische Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller, schoss mit einer Pistole in die Luft und verkündete die nationale Revolution. Der Putschversuch scheiterte blutig vor der Feldherrenhalle. Die Folgen aber waren gravierend. Thomas Grasberger rekonstruiert die historischen Ereignisse jener Tage.
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Wir empfehlen außerdem den fünfteiligen Podcast, der 2020 anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung der bayerischen Konzentrationslager Flossenbürg und Dachau veröffentlicht wurde:
Die Befreiung | Folge 1-5
ZUM PODCAST
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Autorin: Paula Lochte
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Xenia Tiling, Frank Manhold, Rainer Schaller
Technik: Adele Meßmer
Redaktion: Andrea Bräu, Susanne Poelchau
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Hitlerputsch 1923: Das Tagebuch der Paula Schlier
Dokumentation in der ARD Mediathek
Deutschland 1923: Inflation, Hunger, instabile politische Verhältnisse. In dieser Zeit schleicht sich die 24-jährige Paula Schlier undercover beim "Völkischen Beobachter", dem Kampfblatt der NSDAP, ein und gerät mitten in Hitlers Putschversuch.
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Am Abend des 8. November 1923 stürmte Adolf Hitler mit seinen Gefolgsleuten eine politische Versammlung im Münchner Bürgerbräukeller, schoss mit einer Pistole in die Luft und verkündete die nationale Revolution. Der Putschversuch scheiterte blutig vor der Feldherrenhalle. Die Folgen aber waren gravierend. Thomas Grasberger rekonstruiert die historischen Ereignisse jener Tage.
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Die eine steigt als First Lady der jungen USA zur Ikone auf. Die andere wird als Königin geköpft. Martha Washington und Marie Antoinette sind Frauen an der Spitze von Staaten in revolutionären Zeiten. Getroffen haben sie sich nie, aber ähnliche Erfahrungen gemacht auf der Suche nach ihrer Rolle. Folge 3. Von Susi Weichselbaumer (BR 2024)
Credits
Autorin & Regie : Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Florian Schwarz, Katja Schild, Peter Weiß, Friedrich Schloffer, Hemma Michel, Peter Veit, Gudrun Skupin, Jennifer Güzel
Technik: Josef Angloher
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Catherine Allgor, Michaela Lindinger
Besonderer Linktipp der Redaktion:
ARD (2024): Kalte Füße
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind ständig Orte in den Nachrichten, die die italienische Autorin Francesca Melandri aus Erzählungen und Büchern ihres Vaters kennt, aus seinen Geschichten über den Zweiten Weltkrieg bei den Alpini, den italienischen Soldaten, die an der Seite Hitler-Deutschlands in die Sowjetunion, eigentlich aber in die Ukraine einmarschierten. Was wurde nicht erzählt? Bestsellerautorin Melandri verknüpft in ihrem neuen Buch Familiengeschichte mit Weltgeschichte angesichts des erneuten Endes des Friedens in Europa. Vollständige Lesung mit Nina Kunzendorf. ZUM HÖRBUCH
Linktipps:
Deutschlandfunk (2019): First Ladies in Deutschland – Die Rolle der Bundespräsidenten- und Kanzlergattinnen
Mal sozial engagiert, mal selbst politisch aktiv: Die Frauen der deutschen Staatsmänner hatten durchaus Einfluss – doch ihr Engagement geriet im Schatten der Ehemänner oft in Vergessenheit. Historikerin und Buchautorin Heike Specht hat die First Ladies seit 1949 porträtiert. JETZT ANHÖREN
radioWissen (2021): Frei, gleich und brüderlich – Die Französische Revolution
In schwarzem Trauergewand sitzt Marie Antoinette in ihrer primitiven Zelle in der Conciergerie - bewacht von Soldaten der Revolutionsregierung. Mit der Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" schafften die Revolutionäre nicht bloß die Abkehr vom feudalen Ständestaat - sie formulierten ein Ideal, das heute in den Verfassungen der Demokratien zur selbstverständlichen Norm geworden ist. Noch heute gedenken die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag, dem 14. Juli, des Sturms auf die Bastille. Doch das anfängliche Hochgefühl wich bald dem Terror. JETZT ANHÖREN
Deutschlandfunk (2024): George Washington – Das Erbe des ersten „Mr. President“
Am 30. April 1789 wurde George Washington als erster US-Präsident vereidigt. Er begründete nicht nur den Supreme Court, die US-Marine und die nach ihm benannte Hauptstadt. Washington prägte auch das neue Amt und wie sich ein Mr. President inszeniert. JETZT ANHÖREN
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK & ATMO
1 ERZÄHLERIN
Die Independence Hall in Philadelphia, Pennsylvania – ein breites Backsteingebäude mit weißem Glockenturm. Es ist der 4. Juli 1776. Die 13 britischen Kolonien in Nordamerika proklamieren die Loslösung von Großbritannien und das Recht einen eigenen, souveränen Staatenbund zu bilden. Als Gründerväter gehen in die Geschichte ein Washington, Franklin, Jefferson, Adams, Madison –
2 ERZÄHLERIN
Insgesamt nur Männer.
1 ERZÄHLERIN
Martha Washington zum Beispiel hätte es auch verdient gehabt.
2 ERZÄHLERIN
Sie kümmert sich nun bald um ihr erstes Enkelkind: ein Mädchen. Elizabeth. Kurz: Betsy.
1 ERZÄHLERIN
Dass die Oma demnächst die erste First Lady der Vereinigten Staaten sein wird, ahnt zu dem Zeitpunkt noch niemand.
2 ERZÄHLERIN
Die Vereinigten Staaten erringen nach dem Frieden von Paris endgültig ihre Eigenständigkeit. Die Arbeit scheint jetzt beendet. Die Geschichtsbücher schließen sich für die Washingtons.
1 ERZÄHLERIN
Vorrübergehend.
MUSIK
05 ZITATOR PRESSE 1
Am 23. Dezember 1783 tritt George Washington vor den versammelten Kongress in Annapolis. Die Anspannung der Abgeordneten ist groß. Kaum jemals hat ein siegreicher Feldherr alle Macht einfach wieder zurückgeben an eine zivile Gesellschaft. Kein Cäsar und kein Cromwell. Aber ein George Washington. Ein gutes Omen für den jungen amerikanischen Staat.
1 ERZÄHLERIN
Und eine Erleichterung für seine Frau Martha. Nach langen Jahren des Krieges wird Weihnachten 1783 wieder zusammen daheim gefeiert. Zuhause auf Mount Vernon.
1 ERZÄHLERIN
Was in den USA weiter passiert, ist offen. Die neue Nation geht auf volles Risiko, wagt etwas Unbekanntes. Wie der Staat künftig aussehen wird? Wer ihm wie vorsteht? Eine Schablone dafür existiert nicht.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Bloß der überkommene Entwurf aus dem alten Europa, den viele in Amerika nicht wollen. Genauso wie sich Europa dagegen auflehnt. Die Menschen begehren auf gegen Monarchie, Despotie und Willkür. Das absolutistische System muss weg. Frankreich ächzt unter Hungersnöten. Die Staatskasse ist leer. Der König baut groß um in Versailles. Denkmäler im eigenen Land will er sich setzen. International mitmischen auch, also beteiligt er sich am Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Damit möchte Louis XVI. dem großen Rivalen Großbritannien eins auswischen.
MUSIK
ZITATOR INFO
Beide Länder versuchen Fuß zu fassen in Nordamerika und kommen sich in die Quere. Auseinandersetzungen gibt es mit indigenen Bevölkerungsgruppen und untereinander: Wer kolonisiert wo was und wen? Die Briten erkämpfen sich die Vorherrschaft. Frankreich will Revanche und unterstützt die amerikanischen Rebellen finanziell wie militärisch. Handels- und Bündnisverträge sichern schließlich zu, dass Frankreich bis zur Unabhängigkeit an der Seite der jetzt noch abhängigen Kolonien stehen wird. In der entscheidenden Schlacht bei Yorktown verhelfen französische Truppen der amerikanischen Revolution zum Sieg. 1783 fädelt Frankreich ein, dass die Briten im „Frieden von Paris“ die Souveränität der USA anerkennen.
2 ERZÄHLERIN
Problem bloß: Frankreich ist nach dem amerikanischen Einsatz erst recht pleite. Die Bevölkerung begeistert sich noch mehr als eh schon für die antimonarchistische Sache.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Und Die Zeitungen erfinden immer wildere Geschichten über die Königin: Verschwendungssucht! Sex mit Frauen. Mit Männern. Mit allen zugleich. Der Versailler Intrigenstadel bestätigt die Gerüchte.
1 ERZÄHLERIN
Marie Antoinette ist jung und unbedarft. Das wird ihr immer wieder zum Verhängnis.
6 ZU Lindinger 24:54
Ich glaube, wie sie gemerkt hat, dass gar nix mehr geht. Ich glaube, das war erst die Halsband Affäre.
2 ERZÄHLERIN
Wertet Biografin Michaela Lindinger.
7 ZU Lindinger 25:44
Das war dann schon in Richtung auf die Revolution hin, wie man ihr unterstellt hat, sie habe mehr oder weniger das teuerste Halsband der Welt auf Kredit gekauft, was überhaupt nicht gestimmt hatten.
1 ERZÄHLERIN
Das Komplett ist vertrackt. Adel und Klerus übervorteilen sich gegenseitig, wer am Ende was war, weiß man nicht.
2 ERZÄHLERIN
Nur eins: Schuld an allem ist Marie Antoinette. Die von nichts eine Ahnung hat.
1 ERZÄHLERIN
Das will aber niemand glauben. Man traut der prunksüchtigen Königin eine solche Charade zu.
8 ZU Lindinger 25.44
Ja, da war dann gar nichts mehr für sie zu machen. (26:36) Man wollte diese Königin fertigmachen.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Und diese Königin hat nichts entgegenzusetzen. Sie kriegt in Frankreich keinen Fuß auf den Boden. Man mag sie nicht. Kollektiv.
1 ERZÄHLERIN
Dabei hatte ihr die Mutter Kaiserin Maria Theresia eingeschärft: Sieh zu, dass die Leute Dich lieben! Die Menschen müssen ihre Monarchen lieben.
2 ERZÄHLERIN
Aber wie bringt man die Menschen dazu?
1 ERZÄHLERIN
Vielleicht in dem man es gar nicht erst versucht. Weil man es nicht versuchen muss. Martha Washington betreibt null Eigen-PR.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Die amerikanischen Unabhängigkeitskriege sind vorbei. George und sie leiten wieder die florierende Plantage Mount Vernon an den Ufern des Potomac, kümmern sich um die Enkelkinder, empfangen Gäste aus der Alten und Neuen Welt. Viele wollen den berühmten Feldherren sehen. Der etwas ungelenk und ein bisschen kühl wirkt. Anders als seine Frau:
06 ZITATOR PRESSE 1
„Mrs. Washington ist die Güte in Person. Ihre Seele scheint damit überzufließen wie ein sprudelnder Springbrunnen.“
1 ERZÄHLERIN
Notiert ein junger Besucher.
07 ZITATOR PRESSE 1
„Und ihre Fröhlichkeit bemisst sich ganz nach der Zahl der Menschen, denen sie ihr Wohlwollen schenken kann“. (Brady 2005: 185)
MUSIK & ATMO
1 ERZÄHLERIN
Martha wird dieses ungezwungene Leben vermissen. Ihr Mann wird gewählt. Ab 1789 ist George Washington Mister President. An seiner Seite geht es erst nach New York, Ende 1790 steht der Umzug an in die damalige Hauptstadt Philadelphia.
05 ZITATOR INFO
Für angemeldete Besucher gibt es zweimal wöchentlich Empfänge zur Mittagszeit. Niemand Wichtiges darf bevorzugt oder übergangen werden. Regelmäßig stehen Theaterbesuche an. Datum und Uhrzeit erfährt man aus der Zeitung. Wenn Präsident und Gattin die Loge betreten, erhebt sich das Publikum, das Orchester intoniert „The President´s March“.
2 ERZÄHLERIN
Pendant heute ist „Hail to the Chief”... Bälle muss das Paar geben oder Einladungen dazu folgen. Wobei: „Muss“ ist relativ, sagt die Bostoner Historikerin Catherine Algor:
9 ZU (1.07 Algor) I would say…
OV w
Martha Washington hat schon deshalb eine Sonderrolle, weil sie die erste der First Ladies ist. Sie muss innovativ sein, ein Protokoll erfinden. An Europas Höfen gibt es solche Protokolle längst. In Marthas DNA liegt ein steifes Zeremoniell aber nun mal einfach nicht.
10 ZU (2.14 Algor) Martha had to invent …
OV w
Sie soll aus dem Stand Veranstaltungs- und Dialogformen ausdenken für eine neue Nation, die ausgesprochen antiaristokratisch und antimonarchisch ist. Jetzt.
ATMO Pferdekutsche
2 ERZÄHLERIN
Ihr Mann grübelt ebenfalls: Wie viele Pferde soll Mister President anspannen lassen, wenn er durch die Straßen fährt? Zehn? Zwei? Er entscheidet sich für sechs.
11 ZU Algor 20:58 He wants enough
OVw
Er will genug Pferde, um anerkannt zu werden als Autorität, aber nicht so viele, dass man ihn für einen König halten könnte. Und das sind die Herausforderungen: Spricht man den Präsidenten an als Hoheit? Sollen Kongressabgeordnete Titel bekommen wie „Lord“? Das ist ja eigentlich verrückt, denn gegen all das Aristokratische hatte man ja jahrelang in der Revolution gekämpft.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Aber: Alles ist jetzt Statement.
2 ERZÄHLERIN
Und Kalkül.
1 ERZÄHLERIN
Martha fühlt sich mit den Jahren füllig. Sie tanzt nicht mehr so gern wie früher.
2 ERZÄHLERIN
George schon. Am liebsten Menuette bis nach Mitternacht.
1 ERZÄHLERIN
Ums Gernemachen geht es aber nicht mehr.
12 ZU (Algor 8.28) This is a very patriarchal society…
OVw
Das ist damals eine patriarchale Gesellschaft. Ob das jetzt bei Hofe ist oder eine brandneue Republik: Wer Politik machen will, braucht zwei Sphären. Eine offizielle, da entstehen Gesetze und Verträge. Wichtig ist aber genauso eine zweite Ebene, die politische Prozesse überhaupt ermöglicht. Das ist meist eine inoffizielle Ebene, da finden Gespräch statt bei Partys, beim Abendessen, im heimischen Umfeld. Und hier kommen besonders die Frauen ins Spiel.
1 ERZÄHLERIN
Raum geben für sozialen und damit politischen Austausch. Frauensache. Martha beherrscht das aus dem Effeff.
2 ERZÄHLERIN
Der neue Staat hat noch keine Bürokratie. Wer welchen Job im System bekommt, machen wenige unter sich aus.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Bevorzugt beim Abendessen. Die Tage sind aus Marthas Sicht viel zu fremdbestimmt. Sie kümmert sich um ihren Mann, wie sie es in all den Jahren auf Mount Vernon getan hat oder während der Revolution in den Heerlagern der Armee.
1 ERZÄHLERIN
Das wertet sie als ihre Hauptaufgabe als First Lady.
2 ERZÄHLERIN
Andere sehen das anders. Plötzlich sind da Repräsentationspflichten, weil die Menschen das zu erwarten scheinen und weil Macht offenbar Repräsentation braucht. Und eine gewisse Aura.
1 ERZÄHLERIN
Die – oder eine sehr ähnliche - Aura, wie sie in der alten Welt oftmals Könige und Kaiser umgab.
MUSIK
06 ZITATOR INFO
Bis Mitte der 1770er Jahre betrachten sich viele Einwanderer in Amerika als Europäerinnen und Europäer. Etliche kommen gerade erst aus der alten Welt, die meisten aus Großbritannien und Deutschland. Selbstverständlich gilt: Herrschaft ist Aristokratie, und das wiederum meint Autorität. Nach den Unabhängigkeitskriegen ist die Frage: Die Monarchie ist man los, wer oder was soll aber nun Autorität verkörpern? Und kann oder muss man aus Europa bekannte aristokratische Modelle adaptieren – wenn auch dezent - für ein neues, republikanisches Zeremoniell? Weil einen sonst keiner als Staatsoberhaupt ernst nimmt?
1 ERZÄHLERIN
Martha Washington als erste Präsidentengattin nimmt es pragmatisch. Zuerst rekrutiert sie einen eigenen Stab. Mit Polly Lear verfügt sie über eine Sekretärin, die ihr vor allem bei der Korrespondenz behilflich ist. Bob Lewis wird Sekretär und Leibwächter.
2 ERZÄHLERIN
Buchhaltung beherrscht sie als langjährige Managerin von Mount Vernon. Mit spitzem Stift rechnet sie nach, ob die Repräsentationskosten die monetäre Ausstattung des Präsidentenamtes übersteigen.
1 ERZÄHLERIN
Samuel Francis ist Wirt einer Taverne. Ihn macht Martha zu ihrem Caterer um tea times auszurichten, Parties und Abendessen.
02 ZITATOR
„Ich habe Bälle anlässlich des Geburtstags des Präsidenten erlebt“ -
2 ERZÄHLERIN
Berichtet ein französischer Besucher, der Herzog de la Rouchefoucauld-Liancourt.
03 ZITATOR
„Die an Glanz der Räumlichkeiten, an Vielfalt und Pracht der Kleider keinen Vergleich mit Europa zu scheuen brauchen“. (Gerste 2000:24)
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Wann immer es geht, versucht Martha ein bisschen altes Leben zurückzugewinnen. Mit einigen Frauen anderer führender Politiker ist sie seit den Revolutionsjahren befreundet. Abigail Adams, Betsy Hamilton oder Lucy Knox bilden ihren inneren Zirkel. Vertraute, die es braucht.
2 ERZÄHLERIN
Und die es bleiben, selbst als die Ehemänner anfangen, politisch sehr andere Richtungen einzuschlagen.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Über Kinder reden, echte Freunde haben statt nur Intriganten in Versailles und vor den Palasttoren das aufgebrachte Volk und eine geifernde Presse - Das würde Frankreichs Königin Marie Antoinette auch gerne. Die jüngste Tochter hat sie verloren, den ältesten Sohn nach langer Krankheit ebenso.
13 ZU Lindinger 30.52
Das war 1789 eben, da hat sie sagen müssen ja, mein Sohn ist tot, und es interessiert niemanden.
2 ERZÄHLERIN
Die Revolutionäre nehmen es als Zeichen von oben: Der Kronprinz ist tot, der Adel kann weg.
1 ERZÄHLERIN
Marie Antoinette will auch weg. Ins Exil, in Sicherheit mit den beiden verbliebenen Kindern.
14 ZU Lindinger 35:54
Das Problem war es, dass ihr Mann nicht mitgezogen hat. Er war grundsätzlich ein unfassbar unentschlossener Mensch. Und dann ist Ludwig XVI. in einen Alkoholismus und in eine Depression verfallen. Und das war dann auch die Zeit, wo Marie Antoinette bei den diversen politischen Sitzungen präsidiert hat. Weil ihr Mann unpässlich war, wie man offiziell gesagt hat, also, der ist durch die Gegend getorkelt und ist vor den Ministern gestürzt. Es war relativ kurz vor der Revolution und dann, als die Revolution wirklich ausgebrochen ist im Juli 1789, da wollte sie fliehen. Wie alle anderen Adeligen auch.
15 ZU Lindinger 35:54
Und dann ist aber der König gekommen und hat gesagt „Nein, ich bin der König von Frankreich, ich bleibe in meinem Land“. Und es geht natürlich nicht, dass sie Entscheidungen ganz allein trifft, hat sie die Koffer wieder ausgepackt.
MUSIK & ATMO Revolutionsmenge
ZITATOR INFO
Im Oktober 1789 ziehen die Arbeiterfrauen – darunter auch viele Männer – nach Versailles. Sie singen Revolutionslieder, schlagen alles kurz und klein, holen die Pferde aus den Stallungen, schlachten und braten sie. Die Königsfamilie muss nach Paris umziehen, in den seit Jahrhunderten unbewohnten Tuilerien-Palast. Kein Schritt mehr ohne Erlaubnis. Ausflüge in den Garten oder in die Stadt – nur unter Bewachung. Nach der Versammlung der Generalstände geht die Macht über an die Volksvertretung. Eine Verfassung gilt es noch auszuarbeiten, man gestünde dem König sogar eine Art Machtposition zu. Der will von einer konstitutionellen Monarchie wie andernorts in Europa nichts wissen. Er regiert. Nein, entgegnet die Volksvertretung: Dann ist die Monarchie eben ganz vorbei.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Zum ersten Mal in ihrer Zeit auf dem Thron nimmt Marie Antoinette das strategische Heft in die Hand.
2 ERZÄHLERIN
Ihr schwedischer Geliebter Hans Axel von Fersen ist zu der Zeit wieder in Paris.
1 ERZÄHLERIN
Die beiden werden zum politischen Powerpaar wie George und Martha Washington.
16 ZU Lindinger 41.18
Der war in Europa sehr gut vernetzt, und sie hat dann alle mögliche Geheimpost, verschlüsselte Post, nicht sichtbare Post mit Zitronensaft versucht, hinauszuschmuggeln. Und manche von diesen Briefen sind ja auch durchaus angekommen, mit den exilierten Adeligen hat es Versuche gegeben, die Monarchie in Frankreich wieder zu reinstallieren sozusagen.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Marie Antoinette verhandelt, arbeitet Ideen aus zusammen mit Fersen. Fluchtrouten werden erstellt.
1 ERZÄHLERIN
Der König sitzt in seinem Zimmer, trinkt Wein und tut nichts.
2 ERZÄHLERIN
Als Frau allein gelingen Allianzen unter solchen Umständen nicht.
17 ZU Lindinger 41.18
Ich glaube, dass Marie Antoinette keine reale Chance gehabt hat, sich selber wieder zu installieren als Königin. Und das hat sie dann auch eingesehen.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Ein letzter Fluchtversuch aus dem Gefängnis scheitert. Das Urteil Tod durch die Guillotine ist längst gefällt. Auch auf Basis einer erzwungenen Falschaussage ihres kleinen Sohnes. Der König ist zu diesem Zeitpunkt schon hingerichtet. Einzig die älteste Tochter wird es außer Landes schaffen und die Revolution überleben.
1 ERZÄHLERIN
In ihrer engen dunklen Zelle im schlichten dunklen Gewand wäre Marie Antoinette jetzt die züchtige Königin, die Frankreich immer aus ihr machen wollte.
2 ERZÄHLERIN
Sie betet für ihre Kinder und wünscht sich eines: Ein letztes Mal den geliebten Fersen sehen.
1 ERZÄHLERIN
Selbst der hat aufgegeben. Und was sie nie erfahren wird, schon eine neue Herzensdame gefunden weit weg von Paris. Dort wird Marie Antoinette am 16. Oktober 1793 auf der Guillotine hingerichtet.
2 ERZÄHLERIN
Während in der Alten Welt das Ende der des Absolutismus eingeläutet ist, bahnt sich in der Neuen längst ein republikanischer Anfang.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Martha Washington hätte gerne mehr Zeit für die Enkel, würde gerne endlich wieder heim auf die Plantage Mount Vernon. Sie sieht aber auch, wie sehr politische Freunde auf eine zweite Amtszeit ihres Mannes drängen, wie sehr die jungen Vereinigten Staaten noch ein bisschen länger diesen Vater der Nation brauchen, um stabil zu werden. Die Kongressarbeit läuft, aber es bilden sich Parteien heraus, die sich nichts schenken. Die Kluft zwischen Nord- und Südstaaten klafft tiefer. George berät sich mit seiner Frau.
1 ERZÄHLERIN
Wenn er bereit ist, ist sie es auch.
2 ERZÄHLERIN
Wie immer.
1 ERZÄHLERIN
Im Frühjahr 1793 ist er zum zweiten Mal der erste Mann im Staat. Die innen- und außenpolitischen Umstände sind verschärft. Die Französische Revolution radikalisiert sich zunehmend.
MUSIK
07 ZITATOR INFO
Weniger als eine Woche nach Georges erneutem Amtsantritt kommt die Nachricht aus Frankreich: Nach König Louis XVI. ist jetzt auch seine Frau Marie Antoinette hingerichtet worden. Viele der aristokratischen französischen Offiziere, die im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten, sind eingekerkert und warten auf die Guillotine. In Philadelphia und anderen Städten feiern Anhänger den Sieg der französischen Revolution. Die reiche konservative Oberschicht an der Ostküste dagegen fordert lautstark, nun wieder Großbritannien zu unterstützen. Theoretisch sind die USA noch als Partner an Frankreich gebunden, das ja einst die amerikanische Unabhängigkeit unterstützt hatte.
2 ERZÄHLERIN
Aber das Frankreich Louis XVI. gibt es nicht mehr, argumentiert Washington. Er versucht vehement, sein Land zu den französischen Ereignissen auf Abstand zu halten.
1 ERZÄHLERIN
Martha unterstützt ihn. Sie hat genug gesehen von Krieg. Die Gräuel in Frankreich machen sie fassungslos. Das junge amerikanische Staatswesen hat aus ihrer Sicht Europa einiges voraus.
08 ZITATOR PRESSE 1
„Das außerordentliche Wissen, das sie erworben hat im Austausch mit Menschen aus aller Welt, macht sie zu einer besonders interessanten Gesprächspartnerin.“
1 ERZÄHLERIN
Schreiben Journalisten über sie.
09 ZITATOR PRESSE 1
„Sie hat ein lebhaftes Gedächtnis und kann die komplette Historie eines halben Jahrhunderts aufleben lassen.“ (Brady 2005:215)
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Im März 1797 zieht Martha Washington mit ihrem Mann zurück nach Mount Vernon, endgültig. Ihr bekanntester Satz in den Geschichtsbüchern wird sein:
08 ZITATORIN MARTHA
Bleiben sie standhaft meine Herren. George wird es auch sein.
1 ERZÄHLERIN
Von Marie Antoinette bleibt als prominentestes Zitat:
03 ZITATORIN MARIE
Wenn das Volk kein Brot hat, soll es Kuchen essen.
2 ERZÄHLERIN
Das hat sie so nie gesagt.
1 ERZÄHLERIN
Es traute ihr nur jeder zu. Und das ist typisch für Marie Antoinette, die Dauerverleumdete. Der die Presse alles unterstellte – die aber vielleicht auch einfach nur sie selbst sein wollte, doch zerrieben wurde in einem überkommenen System, das sie zeitlebens vor das Rätsel stellte: Was will die Welt denn nun von einer Königin Frankreichs?
2 ERZÄHLERIN
Martha Washington hatte eine ganz ähnliche Frage: Was wollen die USA von der Gattin des ersten Präsidenten? Auch sie gab einfach mal sich selbst – im Unterschied zu Marie Antoinette durfte sie das. Weil es für sie noch keine Folie gab, kein Zeremoniell und keine dynastischen Verpflichtungen, weil das Amt des Mannes es in sich hat, dass man es irgendwann abgibt, und der nächste ist gewählt.
1 ERZÄHLERIN
Martha und Marie – Marie und Martha: Mit der einen geht eine Ära zu Ende.
2 ERZÄHLERIN
Mit der anderen beginnt ein neues Zeitalter.
Die eine steigt als First Lady der jungen USA zur Ikone auf. Die andere wird als Königin geköpft. Martha Washington und Marie Antoinette sind Frauen an der Spitze von Staaten in revolutionären Zeiten. Getroffen haben sie sich nie, aber ähnliche Erfahrungen gemacht auf der Suche nach ihrer Rolle. Folge 2. Von Susi Weichselbaumer (BR 2024)
Credits
Autorin & Regie : Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Florian Schwarz, Katja Schild, Peter Weiß, Friedrich Schloffer, Hemma Michel, Peter Veit, Gudrun Skupin, Jennifer Güzel
Technik: Josef Angloher
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Catherine Allgor, Michaela Lindinger
Besonderer Linktipp der Redaktion:
NDR (2024): Föhr nach New York – eine Auswanderergeschichte
Erst die Weltwirtschaftskrise, dann der Zweiter Weltkrieg – mittendrin zwei junge Friesen in New York. Inge und Hermann sind unabhängig voneinander hierher ausgewandert und verlieben sich 1938. Doch dann muss Hermann für die Amerikaner an die Front. Wird er als Deutscher auf Deutsche schießen? Wie geht es weiter? Ihr Enkel Bente Faust hat ihre Spuren bis nach Harlem, New York, verfolgt und erzählt in sechs Folgen ihre Liebesgeschichte. ZUM PODCAST
Linktipps:
Deutschlandfunk (2019): First Ladies in Deutschland – Die Rolle der Bundespräsidenten- und Kanzlergattinnen
Mal sozial engagiert, mal selbst politisch aktiv: Die Frauen der deutschen Staatsmänner hatten durchaus Einfluss – doch ihr Engagement geriet im Schatten der Ehemänner oft in Vergessenheit. Historikerin und Buchautorin Heike Specht hat die First Ladies seit 1949 porträtiert. JETZT ANHÖREN
radioWissen (2021): Frei, gleich und brüderlich – Die Französische Revolution
In schwarzem Trauergewand sitzt Marie Antoinette in ihrer primitiven Zelle in der Conciergerie - bewacht von Soldaten der Revolutionsregierung. Mit der Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" schafften die Revolutionäre nicht bloß die Abkehr vom feudalen Ständestaat - sie formulierten ein Ideal, das heute in den Verfassungen der Demokratien zur selbstverständlichen Norm geworden ist. Noch heute gedenken die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag, dem 14. Juli, des Sturms auf die Bastille. Doch das anfängliche Hochgefühl wich bald dem Terror. JETZT ANHÖREN
Deutschlandfunk (2024): George Washington – Das Erbe des ersten „Mr. President“
Am 30. April 1789 wurde George Washington als erster US-Präsident vereidigt. Er begründete nicht nur den Supreme Court, die US-Marine und die nach ihm benannte Hauptstadt. Washington prägte auch das neue Amt und wie sich ein Mr. President inszeniert. JETZT ANHÖREN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK & ATMO
1 ERZÄHLERIN
Es ist Frühling 1789: Martha Washington ist gerade angekommen in New York, dem provisorischen Amtssitz des ersten, eben erst gewählten Präsidenten der neuen Vereinigten Staaten von Amerika. Die Menge jubelt ihrem Mann George und ihr zu. Sie ist die erste First Lady.
2 ERZÄHLERIN
Bloß, dass der Begriff „First Lady“ damals noch gar nicht richtig etabliert ist und auch keiner weiß, welche Aufgaben die Ehefrau eines gewählten Präsidenten so übernehmen könnte. Soziales Engagement zeigen? Politische Ämter übernehmen? Oder nichts tun, außer an Gattenseite huldvoll lächeln?
ZITATORIN MARTHA
„Ich schätze nur das, was von Herzen kommt.“
1 ERZÄHLERIN
Betont Martha Washington in ersten Interviews häufig.
2 ERZÄHLERIN
Und jedes Mal will die Presse direkt wissen: Wofür genau schlägt dieses Herz? Die Gazetten drängen auf Privates.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Nicht verwunderlich, würde eine Königin wie Frankreichs Marie Antoinette urteilten. Für sie, wie überhaupt, den europäischen Hochadel der damaligen Zeit ist klar: Privatheit gibt es bei Königs nicht. Von Gottes Gnaden meint für alle, ganz und gar. Am besten, man legt sich ein dickes Fell zu.
1 ERZÄHLERIN
Aber gilt das auch in einem demokratischen System, wie es zu der Zeit in den USA entsteht? Martha Washington ringt lange und oft mit der Frage: Was sollen und dürfen die Menschen sehen und erfahren von einer First Lady der Vereinigten Staaten?
2 ERZÄHLERIN
Als Frau eines gewählten Staatsoberhauptes für eine bestimmte Zeitspanne sich völlig ausliefern?
1 ERZÄHLERIN
Martha wird zu dem Schluss kommen: Sie ist der Geschichtsschreibung nichts schuldig.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Nach dem Tod ihres Mannes 1799 verbrennt sie die Briefe der beiden. 41 gemeinsame Jahre, hunderte Dokumente. Weil sie die Nachwelt nichts angehen.
2 ERZÄHLERIN
Übrigens: Ihre Korrespondenz schreibt sie selten selbst.
1 ERZÄHLERIN
Vielleicht ausgenommen der Liebesbriefe an ihren George, den sie wirklich gerne hat, was für damalige Ehen keine Selbstverständlichkeit ist. Ansonsten diktiert sie einem Sekretär.
2 ERZÄHLERIN
In Grammatik ist sie nicht firm. Geboren am 13. Juni 1731 ist Martha das ältestes von acht Kindern eines solide gestellten Tabakpflanzers. Auf dem weitläufigen Landgut am York River erzieht sie der Vater, wie für Oberschichtmädchen in der Region gängig:
05 ZITATOR PRESSE 2
Lesen und Schreiben in Grundzügen genügt.
ATMO Stadt viktorianisches England
1 ERZÄHLERIN
Der Vater setzt aufs Praktische, Kaufmännische. Weil das einer vermutlich angehenden Plantagenbesitzergattin nicht schaden kann, nimmt er die junge Martha oft die paar Kilometer mit nach Williamsburg, in die Hauptstadt des Commonwealth of Virginia, der ältesten englischen Kolonie in Nordamerika.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Im Provinzparlament beobachtet die Tochter, wie Politik gemacht wird. Die wohlhabenden Pflanzer dominieren – wiederum untereinander abgestuft nach Hektar, Ertrag, Gewinn. Geld, Beziehungen, Hierarchien bestimmen Entscheidungen, weniger die besseren Argumente.
2 ERZÄHLERIN
Spannenderweise sind es genau diese Mechanismen von „Ober sticht Unter“, die man in der neuen Welt zwar selbst bedient, die man sich aber nicht gefallen lassen will von einem Kolonialherren. Geldadel – ja. Erbaristokratie – ganz und gar nicht.
ATMO Offiziersclub
1 ERZÄHLERIN
So verkürzt erfährt das auch Martha, wenn der Vater sie nach den Parlamentssitzungen mitnimmt in Tavernen wie „Raleigh´s“ oder den „Apollo Room“. Am Biertisch schmieden Revolutionäre erste Pläne, um sich loszulösen vom Mutterland England.
MUSIK & ATMO
2 ERZÄHLERIN
Noch liegt die amerikanische Revolution in der Ferne. Mit 17 Jahren heiratet Martha ihren ersten Mann. Dem nahezu doppelt so alten Daniel Park Curtis gehören umfangreiche Ländereien und wie bei Virginias Grundherren damals üblich eine stattliche Anzahl von Sklavinnen und Sklaven.
1 ERZÄHLERIN
Die dunkelhaarige Martha mit den warmen braunen Augen ist hübsch, einfühlsam, grundsätzlich gut gelaunt, vertritt aber – wenn geboten –einen eigenen Standpunkt. So zierlich sie ist, so zupackend kann sie sein. Geldzählen interessiert sie peripher. Gesellschaftliche Verpflichtungen kümmern sie nur, wenn man dabei ausgelassen tanzen kann.
2 ERZÄHLERIN
Sie ist in erster Linie ein Familienmensch.
1 ERZÄHLERIN
Es trifft sie schwer, als zwei ihrer vier Kinder früh sterben.
2 ERZÄHLERIN
Dieses Schicksal teilt sie mit vielen Eltern in den Kolonien. Krankheiten grassieren, die medizinische Versorgung ist sogar in den Großstädten prekär. Die Kindersterblichkeit ist hoch.
1 ERZÄHLERIN
Martha trauert lange, will für sich sein.
2 ERZÄHLERIN
Ist aber auf einen Schlag wieder ganz gefordert.
1 ERZÄHLERIN
Der überraschende Tod ihres Manns Daniel reißt sie aus der Lethargie. Sohn Jack und Tochter Patcy sind noch klein.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Martha ist 25 Jahre alt und die mit Abstand reichste Witwe in weitem Umkreis. Mit Verve übernimmt sie die Plantagengeschäfte. Die Herren geben sich die Klinke in die Hand. Anteilnahme und Brautwerbung gehen nahtlos ineinander über.
1 ERZÄHLERIN
Bis dann der eine kommt, 1758. Sie kennt ihn von früheren gesellschaftlichen Anlässen, hat auf Bällen mit ihm getanzt.
2 ERZÄHLERIN
Virginias Oberschicht ist überschaubar.
1 ERZÄHLERIN
George Washington, groß, athletisch, elegant –
2 ERZÄHLERIN
Die Nase etwas zu lang, die Haut leicht pockennarbig –
1 EZRÄHLERIN
Das rotbraune Haar kess gewellt, die grauen Augen - er schaut nur eben zum Dinner vorbei und reitet, wie es die Legende will…
ZITATOR WASHINGTON
„Erst am nächsten Morgen weiter als die Sonne schon hoch am Himmel stand“.
1 ERZÄHLERIN
Liebe auf den ersten Blick?
2 ERZÄHLERIN
Eher praktische Überlegungen?
1 ERZÄHLERIN
Sie finden sich und heiraten.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Washingtons Vita ist bereits zum Zeitpunkt des Dinners, das bis zum Frühstück dauert, beeindruckend.
02 ZITATOR INFO
Ländereien in Virginia, am Potomac und am Rappahannock. Geschäftssinn in Sachen Immobilienkauf und -verkauf. Plus der Ruf eines jungen Kriegshelden. Seit fast drei Jahren tobt der Kolonialkrieg Briten gegen Franzosen. Die Lage generell: chaotisch. Für Washington aber bislang durchaus ruhmreich. Beispiel:
ZITATORIN
Die erfolgsverwöhnten britischen Soldaten versuchen den französischen Stützpunkt Fort Duquesne in der westlichen Wildnis, hinter dem heutigen Pittsburgh zu erobern. Die Franzosen aber stellen mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung eine Falle. Die Briten verlieren die Nerven, werfen die Waffen weg oder schießen aus Versehen auf die eigenen Leute. Der Einzige, der mit seiner Einheit einen einigermaßen geordneten Rückzug hinbekommt, ist George Washington, der Colonel der Miliz von Virginia. Die Briten nennen seine Truppe aus Freiwilligen lange „Freizeitmannschaft“. Nach dem Debakel bei Duquesne nicht mehr.
1 ERZÄHLERIN
Am 6. Januar 1759 ist Hochzeit. Ein Leben in der Politik an der Seite eines bekannten Feldherren bahnt sich für Martha Washington an. In der neuen Welt gerät vieles in Aufruhr. Die Unzufriedenheit mit dem despotischen Kolonialherren in Großbritannien, George III., wächst.
2 ERZÄHLERIN
Warum an irgendeine Hoheit horrende Steuern zahlen auf alles Mögliche – für nichts?
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Im alten Europa fragen sich das die Menschen auch. Sei es in England oder Frankreich. Doch durch die dicken Schlossmauern Versailles beispielsweise, wo eine unglückliche Königin Marie Antoinette ihren Platz sucht, dringen solche Stimmen selten.
2 ERZÄHLERIN
Man lebt weiterhin nach der bewährten Gebrauchsanleitung für Monarchen. Was soll schon schief gehen?
ATMO Marktplatz Frankreich
1 ERZÄHLERIN
Es sind die 1780er, die Jahre vor der Französischen Revolution. In Paris schwirrt die Luft. An Straßenecken und in Cafés tauscht man Neuigkeiten aus, tratscht. Das Lieblingsthema egal welcher Gesellschaftsschicht: Die Eskapaden der Königin. Billige Heftchen, genannt „Libelles“, bringen einen Skandal nach dem anderen. Sex, Alkohol, Intrigen –
2 ERZÄHLERIN
Wer nicht lesen kann, lässt es sich vorlesen. Wer sich die Libelles nicht leisten kann, klaubt sie aus dem Müll.
ZITATORES
l'Autrichien/ Die Ausländerin/ l'étranger/ Die Fremde
1 ERZÄHLERIN
Ist offensichtlich zu allem fähig!
2 ERZÄHLERIN
Tatsächlich will Marie Antoinette nur endlich zu einem fähig sein: Mama werden. Die Ehe mit Ludwig XVI. ist zu lange kinderlos. Ihre Mutter in Wien, Kaiserin Maria Theresia bangt um die Allianz mit Frankreich.
1 ERZÄHLERIN
Ein Thronfolger muss her, bitte danke!
1 ZU Lindinger 15:50
Deswegen hat sie dann zum Josef II. gesagt, der war Mitregent, dann schon später Kaiser, war sehr berühmt in Österreich für eben seine aufklärerischen Prinzipien, und der ist hinuntergefahren nach Paris, hat sich getroffen mit dem Ludwig XVI. und hat ihm erklärt, wie der eheliche Verkehr funktioniert.
1 ERZÄHLERIN
Erzählt Michaela Lindinger. Die Kuratorin des Wien Museums hat 2023 eine Biografie veröffentlicht über Marie Antoinette.
2 ZU Lindinger 15:50
Da gibt's einen Brief, den er geschrieben hat an seinen anderen Bruder zwar Leopold II., der war später auch Kaiser. Damals war er noch Fürst in der Toskana, und der Brief lässt wirklich an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und am Schluss steht halt dann ja, seine Schwester sei ja auch eine unfassbar leidenschaftslose Person, und gemeinsam sind sie die größten Stümper, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Es ist ein sehr, sehr böser Brief. Aber trotzdem es hat etwas gebracht. Es sind ja dann doch in relativ kurzer Zeit mehrere Kinder hintereinander zur Welt gekommen.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Endlich erfüllt die französische Königin die Erwartungen eines Volkes, das gar nicht ihres ist oder sein will. „Die Österreicherin“ nennt Frankreich Marie Antoinette hartnäckig. Am Versailler Hof fasst sie nicht Fuß, in den Straßen und Gassen Paris und an etlichen anderen Orten im Land köchelt bereits der Aufstand gegen das überkommene System der Monarchie.
1 ERZÄHLERIN
Während in Frankreich eine Epoche zu Ende geht, beginnt einen Kontinent weiter eine neue: Die jungen Vereinigten Staaten von Amerika wählen ihren ersten Präsidenten an die Spitze des neuen Staates. An seiner Seite Martha Washington als – ja was? Das Konzept der First Lady wird sie definieren, während im alten Europa mit Marie Antoinette des Konstrukt Königin zu Grabe getragen wird zumindest in Frankreich. Zwei Frauen – zwei Schicksale, sehr verschieden, aber in vielem auch ganz ähnlich.
2 ERZÄHLERIN
Treffen werden sie sich nie.
1 ERZÄHLERIN
Verstanden hätten sie sich vielleicht.
MUSIK & ATMO Kinder
2 ERZÄHLERIN
Beide sind Familienmenschen. Martha Washington, weil sie es liebt und sein darf. Marie Antoinette gegen alle Konventionen. Sie stillt ihre Kinder –
1 ERZÄHLERIN
Ein No Go für französische Königinnen.
2 ERZÄHLERIN
Sie liest den vier Kleinen vor, musiziert mit ihnen, tollt zusammen durch den Park. Kümmert sich um den Ältesten, der an einer Erbkrankheit leidet und nicht laufen kann – was das Volk nicht wissen darf.
1 ERZÄHLERIN
Besser gestellte Damen in Paris sind längst beides: Begeisterte Mutter und Grand Dame.
2 ERZÄHLERIN
In Versailles meckert man. Marie Antoinette ist von vornherein abonniert auf Kritik. Eine festgelegte Aufgabe für Königinnen gibt es nicht. Was soll sie machen? Hofzeremoniell? Weil das einengend ist und der Ehemann desinteressiert, schafft sie sich eine eigene Welt.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Sie lässt einen pompösen Gartenpalast bauen und trifft in diesem Trianon ausgesuchte Freundinnen und Freundin.
1 ERZÄHLERIN
Wählerisch ist die Königin nicht. Lust an Spiel und Tanz und neuster Mode genügt.
2 ERZÄHLERIN
Eine Gast ist besonders: Der schwedische Diplomat Hans Axel von Fersen.
3 ZU Lindinger 17:35
Es war ihre große Liebe, mit dem sie innerlich sehr eng verbunden war und ihr Mann, der natürlich selber gewusst hat, er kann sie nicht glücklich machen. Also er hat diese Beziehung zum Fersen ja auch definitiv erlaubt.
2 ERZÄHLERIN
Fersen wird ihre Konstante sein. Als er Anfang der 1780er Jahre nach Amerika geht, um dort zu kämpfen für die Unabhängigkeit der Kolonien, fiebert Marie Antoinette mit. Freiheit – das ist ihr großer Wunsch, ihr Antrieb. Leben wie man will und sagen was man möchte und entscheiden, handeln und dafür nicht ständig angegriffen und verleumdet werden.
1 ERZÄHLERIN
Man kann alles auswarten, hat ihr die Mutter, Kaiserin Maria Theresia beigebracht.
2 ERZÄHLERIN
Die Wiener Boulevardzeitungen sind jedoch milde im Vergleich. Die französischen Spottschriften überbieten sich an reißerischen Fake News.
4 ZU Lindinger 24:54
Es ist ein Pamphlet erschienen. Und das hieß „Vor Sonnenaufgang“. Da hat man so beschrieben wie sie mit ihren jugendlichen Freunden in irgendwelche Gebüsche in Versailles Schlosspark kriecht und sich dort mit Männern und Frauen vergnügt. Das war ein sehr, sehr langes Pamphlet, das so zahlreiche unterschiedliche sexuelle Beziehungen verdeutlicht hat. Und es ist immer wieder zitiert worden am Hof.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Marie Antoinette bekommt Angst. Der König wimmelt sie ab.
1 ERZÄHLER
Er ist froh, als der enge Freund seiner Frau, Fersen, endlich aus den USA zurückkehrt und sich mit ihr beschäftigt.
2 ERZÄHLERIN
Sie auch.
MUSIK
5 ZU Lindinger 48.50
Es war ihre Art der persönlichen Rettung. Ja, wenn ich mit einem Mann verheiratet bin, der so ist wie Ludwig XVI. - und wenn ich gleichzeitig diese ganze Hofgesellschaft rund um mich habe, die mich jeden Tag nur fertig macht. Und dann weiß ich auch noch, dass diese Hofgesellschaft in Paris die Journalisten zahlt, die Lügen über mich verbreiten. Ich glaube diese Beziehung mit dem Fersen, das war das große Glück in Marie Antoinettes Leben. Auf Dauer nicht, der war ja viel weg.
2 ERZÄHLERIN
Fersen wird tatsächlich auch diesmal bald abkommandiert, er muss den schwedischen König auf einer Europa-Reise begleiten. Marie Antoinette lenkt sich ab: Sie designt Kleider, sitzt für Portraits, tobt im Garten mit den Kindern, abends ist Party.
1 ERZÄHLERIN
Über die am nächsten Morgen die wildesten Gerüchte in den Spottzeitungen stehen. Das Leben der Königin von Frankreich: Ein infernalisches Chaos!
MUSIK & ATMO
1 ERZÄHLERIN
Ganz anders das Eheleben der später ersten First Lady der USA, Martha Washington in den 1770er Jahren. Sie muss nicht lange überlegen, was ein Zeitvertreib sein könnte. Einen Ersatzalltag, eine Flucht braucht sie nicht. Sie hat reichlich Aufgaben auf der Plantage Mount Vernon. Um vier Uhr morgens steht sie auf, kümmert sich um den Haushalt und die Kinder, sie ist auch die, die die Arbeitseinteilung der Sklaven organisiert, die vorwiegend auf den Feldern schuften müssen. Ihrem Mann hält sie den Rücken frei. Der engagiert sich politisch als Abgeordneter des House of Burgesses in Virginia. Höhen und Tiefen gehen beide an. An einem strahlenden Sommertag 1773 beim Familiendinner hat Marthas Tochter aus erster Ehe, Patcy, einen epileptischen Anfall. Wie oft. Nur diesmal weit heftiger als sonst. Der Teenager stirbt in den Armen des Stiefvaters.
2 ERZÄHLERIN
Es ist eine persönliche Tragödie. Auch Königin Marie Antoinette wird Kinder zu Grabe tragen, aber immer unter den Augen der französischen Öffentlichkeit. Der Fortbestand der Monarchie hängt an gesundem Nachwuchs.
1 ERZÄHLERIN
Martha und George Washington bewältigen den Schmerz über den Verlust gemeinsam, reden viel. Darüber und alles andere.
MUSIK
03 ZITATOR INFO
Die politische Situation spitzt sich zu. Im Dezember 1773 entern erboste Bürger im Hafen von Bosten Handelsschiffe und werfen deren Ladung ins Wasser: Es ist Tee aus Indien, den die britische Krone mit eklatanten Steuern belastet hat. In Virginia bilden sich Fronten. Auf der einen Seite steht der Gouverneur, der die Kolonie verwalten soll, zusammen mit englandtreuen Loyalisten. Auf der anderen Seite eine Opposition, die auf die Einhaltung ihrer Rechte pocht, sich den Menschen in Boston an die Seite stellt und Zulauf bekommt, aus den verschiedensten Schichten. Ihr Slogan: Keine Besteuerung ohne Repräsentation. Ihr Ziel: Entweder Mitspracherecht im britischen Parlament oder kein britischer König mehr als Kolonialherr. Der Erste Kontinental-Kongress in Philadelphia will ein gemeinsames Vorgehen der 13 Kolonien beraten gegen ein zunehmend repressives Mutterland Großbritannien. George Washington ist eingeladen als Repräsentant von Virginia.
2 ERZÄHLERIN
Am Vorabend des Kongresses treffen sich einige Delegierte auf Mount Vernon und diskutieren:
1 ERZÄHLERIN
Überhaupt am nächsten Tag hinzufahren – das ist keine einfache Entscheidung.
2 ERZÄHLERIN
Schon die Teilnahme am Kongress werden die Engländer ansehen als Verschwörung zum Hochverrat.
1 ERZÄHLERIN
Washington entscheidet sich für Philadelphia.
2 ERZÄHLERIN
Seine Kollegen auch.
1 ERZÄHLERIN
Und Martha. Als sich die Gesellschaft am Morgen auf den Weg macht dorthin, sagt sie ihren wohl berühmtesten Satz:
04 ZITATORIN MARTHA
„Bleiben Sie standhaft, Gentlemen – ich weiß, dass George es sein wird.“
MUSIK
ZITATOR INFO
Im Frühjahr 1775 eskaliert die Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und den Kolonien. Washington wird Oberbefehlshaber einer Armee, die er erst aufbauen muss. Und die der größten Militärmaschinerie der Welt trotzen soll. Er zieht direkt ins Feldlager der Freiwilligenarmee von Boston.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Martha folgt ihm – und später von Heerlager zu Heerlager. Sie pflegt verwundete Soldaten, spendet Trost, stopft Socken. Sie kümmert sich um die Menschen und um militärische Belange. Bei den strategischen Planungssitzungen in Washingtons Hauptquartier sitzt ist sie gerne dabei. Sie sitzt bei ihrem Mann an der Tafel, wenn bedeutende Besucher ins Heerlager der Kontinentalarmee kommen, etwa amerikanische Befehlshaber oder in der späteren Phase des Krieges französische.
2 ERZÄHLERIN
Der aus Deutschland stammende General von Steuben nennt sie:
01 ZITATOR
„Eine römische Matrone!“
1 ERZÄHLERIN
Das Kompliment amüsiert sie. Als Tochter eines Tabakpflanzers, Witwe eines Gutsbesitzers und nun wieder Frau eines solchen ist sie reine Männerrunden gewohnt. Ob Geschäftspartner daheim beim Diner – gewinnbringend – zu unterhalten oder eben jetzt am Tisch im Zelt des Kommandanten strategische Wogen zu glätten – Martha Washington schüttelt sowas aus dem Ärmel.
2 ERZÄHLERIN
Wobei die Revolution langsam mal rum sein könnte.
MUSIK
05 ZITATORIN MARTHA
„Ich hoffe und vertraue darauf, dass alle Staaten den großen Durchbruch schaffen, die britischen Grausamkeiten stoppen und uns Frieden, Freiheit und Freude bringen, nach denen wir uns so lange bereits sehnen“.
1 ERZÄHLERIN
Schreibt Martha Washington in ihren Briefen.
06 ZITATORIN MARTHA
„Ich wünschte, der Krieg ginge zu Ende.“
2 ERZÄHLERIN
Der zieht sich. Mehrfach ist die Moral der Truppe am Boden. Es fehlt an Ausrüstung und Lebensmitteln, die Niederlagen gegen die oft übermächtig erscheinenden Briten sind schmerzlich. George Washingtons Charisma reißt seine Männer ein ums andere Mal mit.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Und vielleicht überzeugt die Soldaten auch der unerschütterliche Glaube seiner Frau an ihn – nach wie vor gilt ihr:
07 ZITATORIN MARTHA
„Bleiben Sie standhaft, Gentlemen – ich weiß, dass George es sein wird.“
2 ERZÄHLERIN
Marie Antoinette hat keine Ahnung, auf was sie sich bei Louis XVI. verlassen kann und ob überhaupt. Arrangierte Adelsehen sind politisch, nicht pathetisch.
1 ERZÄHLERIN
Altbewährtes Konzept.
2 ERZÄHLERIN
Nein, es macht sie nicht glücklich – aber: … Was soll schiefgehen?
Die eine steigt als First Lady der jungen USA zur Ikone auf. Die andere wird als Königin geköpft. Martha Washington und Marie Antoinette sind Frauen an der Spitze von Staaten in revolutionären Zeiten. Getroffen haben sie sich nie, aber ähnliche Erfahrungen gemacht auf der Suche nach ihrer Rolle. Folge 1. Von Susi Weichselbaumer (BR 2024)
Credits
Autorin & Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Florian Schwarz, Katja Schild, Peter Weiß, Friedrich Schloffer, Hemma Michel, Peter Veit, Gudrun Skupin, Jennifer Güzel
Technik: Josef Angloher
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Catherine Allgor, Michaela Lindinger
Linktipps:
Deutschlandfunk (2019): First Ladies in Deutschland – Die Rolle der Bundespräsidenten- und Kanzlergattinnen
Mal sozial engagiert, mal selbst politisch aktiv: Die Frauen der deutschen Staatsmänner hatten durchaus Einfluss – doch ihr Engagement geriet im Schatten der Ehemänner oft in Vergessenheit. Historikerin und Buchautorin Heike Specht hat die First Ladies seit 1949 porträtiert. JETZT ANHÖREN
radioWissen (2021): Frei, gleich und brüderlich – Die Französische Revolution
In schwarzem Trauergewand sitzt Marie Antoinette in ihrer primitiven Zelle in der Conciergerie - bewacht von Soldaten der Revolutionsregierung. Mit der Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" schafften die Revolutionäre nicht bloß die Abkehr vom feudalen Ständestaat - sie formulierten ein Ideal, das heute in den Verfassungen der Demokratien zur selbstverständlichen Norm geworden ist. Noch heute gedenken die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag, dem 14. Juli, des Sturms auf die Bastille. Doch das anfängliche Hochgefühl wich bald dem Terror. JETZT ANHÖREN
Deutschlandfunk (2024): George Washington – Das Erbe des ersten „Mr. President“
Am 30. April 1789 wurde George Washington als erster US-Präsident vereidigt. Er begründete nicht nur den Supreme Court, die US-Marine und die nach ihm benannte Hauptstadt. Washington prägte auch das neue Amt und wie sich ein Mr. President inszeniert. JETZT ANHÖREN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK & ATMO
1 ERZÄHLERIN
Martha kommt. In dichten Reihen drängen sich die Menschen an diesem Frühlingstag in den staubigen Straßen von New York. Die Menge jubelt, schwenkt Fahnen, wirft Hüte.
2 ERZÄHLERIN
Ellbogen stechen in Rippen. Hände schieben.
1 ERZÄHLERIN
Dreizehnmal donnern die Kanonen zum Salut. Als die prächtig geschmückte Fähre - Stoffbahnen und Blumenranken an Bug und Heck in rot, weiß und blau - als die prächtig geschmückte Fähre anlegt an der Südspitze Manhattans –
2 ERZÄHLERIN
Sehen die meisten in der Masse gar nichts vor lauter wedelnder Wimpel und grüßender Taschentücher.
1 ERZÄHLERIN
Dabeisein ist alles an diesem 27. Mai 1789.
ZITATOR PRESSE 1
Der erste Präsident bezieht offiziell seinen provisorischen Amtssitz an der Ecke Cherry und Queen Street –
ZITATOR PRESSE 2
Wochenlang haben George Washington und sein Stab hier alles vorbereitet – nun kommt seine Frau Martha nach –
ZITATOR PRESSE 1
Cherry Street Number 3 –
ZITATOR PRESSE 2
Später wird der Präsident mit seiner Familie in Philadelphia wohnen, in der neuen Hauptstadt der – neuen – Vereinigten Staaten.
1 ERZÄHLERIN
Die USA haben einen Präsidenten, gewählt vom Volk, seine Macht ist eine qua Amt. Damit beginnt eine neue Zeitrechnung: Die westliche Moderne.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Nur drei Wochen später, am 14. Juli 1789 geht eine andere Ära zu Ende. Im alten Europa, in Frankreich stürmen die Revolutionäre die Bastille. Die Monarchie muss weg.
1 ERZÄHLERIN
Im Zentrum dieser beiden Großereignisse so knapp hintereinander, stehen zwei Frauen, deren Leben gar nicht so unähnlich sind. Getroffen haben sie sich nie. Aber sicher ähnliche Erfahrungen gemacht – wenn auch mit sehr unterschiedlichem Ausgang. Die eine: Marie Antoinette, Königin von Frankreich, bekannt für ihre berüchtigte Verschwendungssucht, ihre modischen Exzesse, frivolen Partys. Die andere: Martha Washington. Die erste Mutter einer neuen Nation. Die eine Tochter aus österreichischem Kaiserhaus. Der Vater der anderen ein Tabakpflanzer aus Virginia. Beide stehen irgendwann an der Spitze eines Staates, in der Rolle einer Königin, einer First Lady. Die eine wird helfen ein neues System zu etablieren, der anderen wird ein altes System aus den Fingern gleiten.
2 ERZÄHLERIN
Ausgesucht haben sich die beiden ihre jeweiligen Spitzenposten nicht.
MUSIK & ATMO
2 ERZÄHLERIN
Als am 27. Mai 1789 ganz Manhattan auf den Beinen ist, um die Gattin des Präsidenten zu begrüßen, macht Martha Washington mit, weil man an die Seite des Mannes gehört, wie sie findet:
ZITATORIN MARTHA
„Er ist viel zu alt, um nochmal groß einzusteigen in die Politik. Aber da es nicht zu verhindern ist, gehe ich mit.“
1 ERZÄHLERIN
Per Fähre holt er sie feierlich ab von der anderen Seite des Hudson River. Die begeisterten Bürgerinnen und Bürger der rund 33.000 Einwohner zählenden Stadt New York, überhaupt der neuen Nation, der United States of America, feiern: Martha Washington…
2 ERZÄHLERIN
Die winkt. Wohl eher verhalten.
MUSIK & ATMO
2 ERZÄHLERIN
Die kleine, rundliche Frau mit den weißen Locken unter der Haube ist 58 Jahre alt, mehrfache Großmutter und mit Leib und Seele Managerin des Familienanwesens Mount Vernon. Das liegt 250 Meilen, also mehrere Tagesreisen entfernt, idyllisch an den Ufern des Potomac River, mit Blick auf die grünen Hügel und Wälder des ländlichen Virginia.
1 ERZÄHLERIN
Jetzt ist sie zudem die erste –
2 ERZÄHLERIN
Ja, was eigentlich?
1 ZU (0.52+5.42) It is interesting… without job description
OVw
Diese Rolle der „First Lady“, hatte keine Jobbeschreibung.
2 ERZÄHLERIN
Sagt Catharine Allgor. Sie ist Vorsitzende der Massachusetts Historical Society in Boston.
2 ZU (6.02) This happens a lot…
OVw
Wenn man sich mit Frauengeschichte beschäftigt, hat da vieles keinen offiziellen Rahmen. Bei George Washington als erstem Staatsoberhaupt einer Republik war klar, eine aristokratische Ansprache geht gar nicht. Also wurde er auf eigenen Vorschlag „Mister President“.
2 ERZÄHLERIN
Und sie?
MUSIK
03 ZITATOR PRESSE 1 + 03 ZITATOR PRESSE 2 + div.
„Gott schütze Lady Washington!“
1 ERZÄHLERIN
Rufen die Menschen bei ihrer Ankunft in New York.
2 ERZÄHLERIN
Die Zeitungen titeln genauso. Oder ganz anders. Der Daily Advertiser vom 15. Juni 1789 etwa berichtet:
04 ZITATOR PRESSE 2
„Ihre Hoheit (Martha Washington), die letzte Woche durch einen Schmerz im dritten Gelenk des vierten Fingers der linken Hand sehr indisponiert war, ist – wir sind in der glücklichen Lage, dies kundzutun – auf dem Wege der Genesung, nachdem sie sich eine Erkältung zugezogen hatte, als sie in jenem Pelzmantel ausging, den ihr jüngst der russische Botschafter als Geschenk der Prinzessin vermacht hatte.“
2 ERZÄHLERIN
Lady Washington. Hoheit. Prinzessiale Pelzmantelgeschenke. Und plötzlich ist das dritte Gelenk des vierten Fingers -
1 ERZÄHLERIN
Der linken Hand -
2 ERZÄHLERIN
Ist selbst das von allseitigem Interesse. Offizielle Dinner und Empfänge müssen sein -
ZITATORIN MARTHA
“Mein Leben ist langweilig. Tatsächlich fühle ich mich wie eine Staatsgefangene.”
2 ERZÄHLERIN
Schreibt Martha Washington am 23. Oktober 1789 aus New York an ihre Lieblingsnichte Fanny, wenige Monate nach dem Amtsantritt ihres Mannes.
MUSIK
03 ZITATORIN MARTHA
“Es gibt bestimmte Grenzen für mich, die ich einhalten muss. Und da ich nicht hartnäckig angehen kann dagegen, sitze ich eben viel zuhause. Der Präsident ist diese Woche aufgebrochen zu einer Reise an die Ostküste.“
2 ERZÄHLERIN
Einsamkeit von Amtswegen. Genauer ob Amt des Ehemannes. In Europa kennen diesen Zustand Kaiserinnen und Königinnen seit Jahrhunderten. An den Höfen ist alles Ritus. Wer da was warum mehr oder weniger traditionell zu tun und zu lassen hat, wird nicht hinterfragt. Man unterwirft sich der Routine, folgt der Folie, weil es erwartet wird.
1 ERZÄHLERIN
Rang und Rolle definieren, wo man geht und steht. Neben wem, hinter wem und bei wem gar nicht. Ausbrechen aus dem Regelwerk wäre Verrat am System. Die europäischen Adelshäuser funktionieren als streng geführte Familienunternehmen.
2 ERZÄHLERIN
Nicht die oder der einzelne ist bedeutsam als Person, die Firma muss weiterlaufen, expandieren, Gewinne bringen. Kinder, besonders Söhne, sichern die Zukunft. Gebiete erweitert man durch Kriege - oder Heirat. Dabei gilt: Allianzen mit Nachbarn entstehen und vergehen.
2 ERZÄHLERIN
Die Sippe soll bleiben –
1 ERZÄHLERIN
Und zwar an der Macht.
2 ERZÄHLERIN
Ein Paradebeispiel dafür:
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Fünfzehn Jahre, bevor Martha Washington „Lady Hoheit Mrs. President“ wird, am 10. Mai 1774, besteigt in Frankreich Louis XVI. den Thron. Seine Frau Marie Antoinette macht das zur Königin.
01 ZITATORIN MARIE
"Die Leute glauben es sei so einfach die Königin zu spielen, aber sie irren. Nichts als Vorschriften und Zeremoniell, natürlich zu sein ist anscheinend ein Verbrechen."
1 ERZÄHLERIN
Dabei wäre Marie Antoinette –
2 ERZÄHLERIN
Ganz anders als Martha Washington, Tochter eines Tabakpflanzers in der Kolonie Virginia –
1 ERZÄHLERIN
Maria Antoinette, eigentlich Maria Antonia Josepha Johanna, wäre
vorbereitet gewesen auf ein Leben an der Spitze eines Staates in Pracht und Prunk.
2 ERZÄHLERIN
Theoretisch. Schon als kleinem Mädchen ist ihr vieles, um es Österreichisch zu sagen, wurscht.
1 ERZÄHLERIN
Ihrer Mutter nicht. Die nur Regentin, aber gerne genannt Kaiserin Maria Theresia ist ehrgeizig. Auch für das Nesthäkchen, Kind Nummer 16, Maria Antonia Josepha Johanna, gibt es keine Ausnahme.
3 ZU Lindinger 1:30
Es ist kein Honigschlecken gewesen.
1 ERZÄHLERIN
Sagt Michaela Lindinger. Die Kuratorin des Wien Museums hat 2023 eine Biografie veröffentlicht: „Marie Antoinette. Zwischen Aufklärung und Fake News“.
4 ZU Lindinger 1:30
In Österreich ist noch immer dieses Bild von Maria Theresia, dass sie so eine Mutterfigur war und alles so wunderbar und auch die vielen Kinder, die hat sie nicht bekommen, weil sie eine große Familie wollte, sondern die wollte Macht und Kontrolle, die sie mit Hilfe dieser Kinder in Europa ausüben kann.
2 ERZÄHLERIN
Eroberungskriege sind teuer, also expandiert Maria Theresia lieber mittels Heirat. Statt Herz – Kalkül.
1 ERZÄHLERIN
Hauptsache Throne besetzen. Wenn nicht durch die eine, dann durch die andere Tochter.
5 ZU Lindinger 1:30
Maria Josepha hätte Königin werden sollen von Neapel-Sizilien. Nachdem die tot war, hat sie eine Woche später schon den Leuten unten die nächste Kandidatin präsentiert: Maria Carolina. Die ist dann Königin von Neapel-Sizilien geworden und es war dadurch für die nächste Maria Antonina: So und Du wirst jetzt Königin von Frankreich.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Mit Toben im Spielzimmer ist Schluss. Schnell engagierte französische Lehrer sollen das Kind im Crashkurs vorbereiten.
2 ERZÄHLERIN
Das Kind hat keine Lust auf Lesen. Lernen nach Lehrbuch fällt dem Mädchen schwer. Klassische Bildung langweilt. Maria Antonia liebt Musik, Tanz und Theater.
1 ERZÄHLERIN
Die Kaiserin resigniert und setzt auf Aussteuer und Aussehen der Tochter. Aus Paris kommt ein neuer Schönheitstrend: Lächeln. Also muss ein französischer Zahnarzt an die Hofburg, um Maria Antonia eine Spange zu verpassen.
1 ERZÄHLERIN
Mit korrekt reguliertem Lächeln kommt die künftige Braut in Versailles an.
2 ERZÄHLERIN
Und merkt: Pariser Bürgerinnen mögen übers ganze Gesicht strahlen, das gilt als modern. In der Hauptstadt treffen sich die besser gestellten Damen in fröhlichen Salons, flanieren durch Parks, spielen nachmittags mit den Kindern, tanzen abends auf Bällen.
ATMO Tischglocke
1 ERZÄHLERIN
In französischen Königspalästen, erklären die ältlichen Madams, die Marie Antoinette zur Seite gestellt werden, blickt man angemessen drein.
6 ZU Lindinger 4:30
Dieser hohe Adel in Versailles hat den Mund verkniffen zugehabt und es war ja das ganze Gesicht auch mit einer sehr giftigen Paste zu gepudert. Also man hat den Mund kaum aufgebracht. Und somit war das Mädchen, das mit 14 Jahren nach Frankreich gekommen ist, für das Umfeld, in dem sie leben sollte, überhaupt nicht vorbereitet. In Paris glaube ich, hätte es ihr sehr gut gefallen, in Versailles war sie eine Katastrophe.
2 ERZÄHLERIN
Insgesamt ist hier gar nichts wie daheim in Wien.
7 ZU Lindinger 7:24
Maria Theresia hat diese 16 Kinder gehabt und dauernd Kriege führen müssen und hat schauen müssen, dass Geld in die Staatskasse kommt und dadurch war dieser Hof ein bissl schlampig. Durchreisende haben das immer wieder betont, es funktioniert schon alles irgendwie. Im Vergleich zu Versailles, wo alles durchorganisiert war, wo jeder genau gewusst hat, wo er an welchem Tag zu welcher Stunde sein wird, wo man nur Floskeln sagen durfte, überhaupt nicht frei herausreden, was man denkt, das war die Marie Antoinette überhaupt nicht gewohnt.
MUSIK
ZITATOR INFO
Von einem aufgeklärten Absolutismus wie in der Wiener Hofburg ist Versailles damals weit entfernt. Das französische Staatssystem orientiert sich streng an der Vergangenheit. Ludwig XV. macht weiter, wie Ludwig XIV. es vor ihm gemacht hat – und Ludwig XVI. es nach ihm beibehalten wird. Man ist auf Bestand ausgerichtet, auf Wahrung dessen, was man kennt. Der politische Weitblick der französischen Monarchen endet denn meist an den mit reichen Tapeten geschmückten Wänden Versailles. Statt weltmännisch mitzumischen auf europäischem Parkett, zerreiben sich der König und alle unter ihm in der kleinteiligen Tagestaktung des Hofzeremoniells.
2 ERZÄHLERIN
Das ist so filigran austariert, dass man es einer Neuen im System wie Marie Antoinette lang und ausführlich erläutern müsste.
1 ERZÄHLERIN
Das lassen die ältlichen Tanten, deren Aufgabe es hätte sein sollen. Vielleicht denken sie, das Kind müsste das doch eh wissen.
2 ERZÄHLERIN
Oder sie wollen gar nicht, dass die Ausländerin etwas weiß. Ihnen womöglich den Rang abläuft, Einfluss gewinnt. Marie Antoinette bleibt folglich nur das, was sie von daheim kennt.
8 ZU Lindinger 10:27
Zum Beispiel hat sie gesagt okay, wenn ich das Zimmer verlasse, dann kann die Kerze ruhig dort in dem Kerzenständer drinnen bleiben. Und wenn ich wieder zurückkehre, hat sie zum Personal gesagt, dann zündet sie einfach wieder an. So ist es in Wien gehandhabt worden.
MUSIK
Aber der Hausbrauch in Versailles war eben so: Die Kerzen, die bereits angezündet waren, wurden dem Dienstpersonal übergeben. Die haben die weiterverkauft. Und dadurch, dass diese neue Dauphin gesagt hat, wir lassen die Kerzen einfach drinstehen, haben die einen Verdienstentgang gehabt. Und was man dann weitererzählt hat, war: Die neue Dauphine nimmt den Dienstboten das Geld weg. So ist von Anfang an ist diese junge Frau in einem sehr schlechten Ruf geraten.
ZITATORES
l'Autrichien/ Die Österreicherin/ Die Ausländerin/ l'étranger
1 ERZÄHLERIN
Ganz Versailles schüttelt darüber den Kopf. Und über ihren Kleidungstil. Ihr noch wenig geschliffenes Französisch. Ihre unverblümte Art. Über alles an ihr. Ständig.
2 ERZÄHLERIN
Und man sticht alles und ständig durch an die Boulevard-Presse. Die entsteht in Paris gerade, immer mehr Menschen können lesen. Klatschheftchen wie die sogenannten „Libelles“ überschlagen sich bald in Geschichten und Skandalen über eben:
ZITATORES
l'Autrichien/ Die Österreicherin/ Die Ausländerin/ l'étranger
2 ERZÄHLERIN
Von ihrem Mann Ludwig XVI. kommt keine Hilfe.
9 ZU Lindinger 13.06
Was natürlich auch alle gewusst haben, dass er überhaupt kein Interesse an ihr hat. Und somit waren da im Endeffekt sieben Jahre, wo kein ehelicher Verkehr stattgefunden hat und dadurch natürlich Marie Antoinette keine Kinder bekommen hat und wo immer dieses Damoklesschwert über ihr gehangen ist. Sie hat keinen Thronfolger auf die Welt gebracht.
MUSIK
ZITATORIN MARIA THERESIA
Bitte sei doch nett zu deinem Mann. Alles hängt von dir ab. Also schau, dass du möglichst viel Zeit mit deinem Mann verbringst.
10 ZU Lindinger 13.06
Diese Marie-Antoinette hat sich unfassbar unter Druck gesetzt gefühlt durch diese ständigen Schreiben ihre Mutter.
2 ERZÄHLERIN
Zugleich setzen ihr die kursierenden Spottschriften zu. Auch weil immer irgendein Bediensteter oder Adeliger ganz zufällig so ein Papier in Versailles herumliegen lässt. Sie ist die Königin von Frankreich.
1 ERZÄHLERIN
Die nicht zu Frankreich passt. Was soll sie anfangen mit dieser Rolle?
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
15 Jahre später und einen Kontinent weiter steht unter sehr anderen Umständen, aber doch ähnlich eine andere Frau vor genau der Frage. Der große Unterschied: Die Menschen lieben sie und ihr George auch. Dazu kommt: Sie steckt in keinem tradierten System fest, in keiner Dynastie, die auf Gedeih und Verderb weiter existieren muss. Die Kinderfrage ist keine Staatsraison, sondern eine private. Verwandtschaftsbeziehungen über Grenzen hinweg spielen keine Rolle. Die Gnade Gottes erweist sich vielleicht in kleinen Dingen und spendet Trost in großen Tragödien. Prädestiniert aber nicht für eine Thronfolge. Hier wählt das Volk. Oder wählt ab.
1 ERZÄHLERIN
Als Martha Washington im Mai 1789 ankommt in New York, bejubelt von den Massen, weiß sie nicht, was von ihr erwartet wird. Aber wahrscheinlich weiß das niemand so recht.
MUSIK
01 ZITATOR INFO
Präsident George Washington leitet ein völlig neues Staatskonstrukt. Es wundert wenig, dass sich die ebenfalls neu eingeführten Wahlmänner als Repräsentanten des amerikanischen Volkes entschieden haben für ihn. Washington, den integren, hochangesehenen Helden der Unabhängigkeitskriege. Ehemaliger Chef der Kontinentalarmee, ein herausragender Stratege und General, der den Sieg über die Briten herbeigeführt hat und damit das Ende der Kolonialherrschaft von George III. besiegelt. Politische Gegner halten ihn mit 67 Jahren für zu alt, zu schwach, zerrieben und verbraucht in den langen, durchaus nicht durchgängig erfolgreichen Revolutionsjahren. Befürworter koppeln an diesen unermüdlichen Einsatz und seine Lebenserfahrung die Erwartung: Washington wird die Vereinigten Staaten zusammenführen zu etwas Ganzem, Einheitlichem. Der Präsident soll gemeinsam mit dem frisch gewählten Kongress aus vormals 13 Kolonien eine unabhängige Nation formen, als demokratisch legitimierter Vater der Nation, nicht als Herrscher von Geburtswegen und Gottes Gnaden.
2 ERZÄHLERIN
Wird man als Ehefrau damit automatisch zur „Mutter der Nation“? Martha Washington ist ein Familienmensch, kümmert sich rührend um ihre Enkel, die bei ihr leben. Familie ist für sie etwas Privates.
1 ERZÄHLERIN
Auf einmal wird all das Gegenstand begeisterter Neugier. Allein schon, was sie anzieht, erregt plötzlich höchstes öffentliches Interesse. Martha trägt gerne Weiß. Die Zeitungen schwärmen: Weiß, die Farbe der Bescheidenheit! Der Güte! Freundlichkeit, menschlichen Wärme.
MUSIK
04 ZITATOR PRESSE 1
„Sie war gekleidet in Gewänder unseres Landes, in denen ihre natürliche Güte und ihr Patriotismus auf das Vorteilhafteste herausgestellt wurden.“
1 ERZÄHLERIN
Martha mag am liebsten französische Schnitte. In jungen Jahren verspielt und enganliegend, später gesetzter, reifer.
03 ZITATORIN MARTHA
„Schönheit liegt nicht in unserem Aussehen, sondern in dem Gefühl, das wir anderen Menschen geben“.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Königin Marie Antoinette in Frankreich teilt diese Ansicht. Auch wenn sich die beiden nicht kennen, nie begegnen werden. Diesen Drang nach Leben außerhalb jeglicher von anderen zugeschriebenen Rollen formulieren beide in ihren erhaltenen Briefen. Marie Antoinette ist weit jünger als Martha Washington, als sie erste Frau im Lande wird. Sie will weniger einfach mal nur Ruhe mit der Familie und Bekannten wie Martha. Marie möchte unter Menschen sein, mittendrin, frei – lachen und romantisch lieben. Wie die Heldinnen in den damals angesagten Romanen, die sie verschlingt.
1 ERZÄHLERIN
Ihr Mann erweist sich weiter als Totalausfall. Auf dem Thron und im Bett.
9 ZU Lindinger 13.06
Das hat dann sehr viel damit zu tun gehabt, dass
sie eine sehr tanzfreudige, eine sehr amüsierwütige junge Frau geworden ist, die sich hauptsächlich in Paris eben mit ihren Freundinnen und Freunden aufgehalten hat und versucht hat, diesem unfassbar anstrengenden Leben mit diesem schrecklichen Mann an der Seite so viel wie möglich fernzubleiben. Das war eine innere Rebellion.
1 ERZÄHLERIN
Zeremoniell hin oder her: Versailles ist ein perfekt und perfide eingespielter Intrigenstadel.
2 ERZÄHLERIN
Dem Teenager aus Österreich ist das egal! Ihre Vorgängerinnen sieht man vielleicht einmal im Jahr bei öffentlichen Auftritten, sittsam gekleidet. Die einzige Aufgabe: Kinder bekommen und Erzieher für sie aussuchen. Die Männer sollen Geschichte schreiben, fahren per Prunkgespann durch die Avenuen.
MUSIK
2 ERZÄHLERIN
Marie Antoinette ist eine Frohnatur. Frisch in Frankreich ist sie der Obhut der ältlichen Tanten bald überdrüssig. Sie versammelt eine Clique Gleichaltriger um sich. Jeden Tag: Picknick, Schnitzeljagd, Ausfahrt. Jeden Abend: Gelage und Party.
1 ERZÄHLERIN
Politisch verhandelt wird bei diesen Veranstaltungen nichts. Auch wenn die Mutter, Kaiserin Maria Theresia, aus Wien mahnende Briefe schreibt, das Kind möge helfen mehr österreichische Botschafter am Versailler Hof zu installieren, die eine oder andere strategische Strippe ziehen, sich nicht dauernd von der angeheirateten Familie abwimmeln lassen und abstempeln als „Die Österreicherin“. Und: Sie kleide sich bitte angemessen!
2 ERZÄHLERIN
Marie Antoinette liebt Designerstücke, die oft märchenhaft-bürgerlich anmuten. Schneidern lässt sie dort, wo es ihr gefällt: Hoflieferant oder Hinterhof-Atelier. Wichtig ist nur: Üppige Prachtroben, eng geschnürt, in denen man sich kaum bewegen kann und permanent Atemnot droht –
Nein, Danke! Das grand corps, ein spezielles Korsett, edelsteinbestickt von französischen Prinzessinnen bleibt im Schrank.
1 ERZÄHLERIN
Das kommt beim Hochadel nicht gut an.
2 ERZÄHLERIN
Luftig soll es sein – in angedeuteter Bescheidenheit absolut extravagant.
1 ERZÄHLERIN
Und orbitant. Teuer. Das steuergeplagte Volk verurteilt sie dafür.
2 ERZÄHLERIN
Was weiß das Volk schon?
1 ERZÄHLERIN
Das, was die Gazetten schreiben, erklärt Biografin Michaela Lindinger.
10 ZU Lindinger 20:39
Dann hat sie es auch noch gewagt, Herrenkleidung zu tragen. Und hat sie sich auch noch zu Pferd in eben diesen Herrenhosen porträtieren lassen, also praktisch wie ein König. Und man hat nicht nur den Kopf geschüttelt. Man hat versucht, gegen diese Frau vorzugehen. Sie war eine Persona non grata, wirklich von Anfang an.
MUSIK
1 ERZÄHLERIN
Das weiß das Volk.
2 ERZÄHLERIN
Aber eins kann man ihr nicht nehmen: Sie ist die Königin!
1 ERZÄHLERIN
Was soll schon schiefgehen?
Die Wall Street ist eine kleine Straße in Lower Manhattan, New York - und gleichzeitig der Inbegriff von Geld, Macht und Kapitalismus. In der Wall Street Nummer elf sitzt die größte Wertpapierbörse der Welt. Hier spekulieren Händlerinnen und Händler seit über 200 Jahren - mittlerweile täglich mit zig Milliarden Dollar. Wegen der exorbitanten Summen können Krisen der Wall Street, Börsen-Crashs, die ganze Welt erschüttern. Von Maike Brzoska (BR 2023)
Credits
Autorin: Maike Brzoska
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Caroline Ebner, Andreas Neumann, Diana Gaul, Benjamin Stedler, Clemens Nicol
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Prof. Boris Gehlen, Prof. Julia Rischbieter
Besonderer Linktipps der Redaktion:
ZDF – Terra X (2024): USA – Der Riss
Am 5. November 2024 wird bei den US-Präsidentschaftswahlen nicht nur über den nächsten Präsidenten, sondern auch über die demokratische Entwicklung des Landes entschieden. Vieles deutet darauf hin, dass diese, je nach Gewinner, sehr unterschiedlich verlaufen könnte. Dabei spielt der tiefe Riss, der die US-Gesellschaft durchzieht, eine wichtige Rolle. Jetzt, wo Donald Trump zum zweiten Mal zur Wahl steht, wird er besonders offensichtlich. In den Medien, vor Gericht, beim Beten, in Sachen Einkommen, Bildung und Ernährung. Und natürlich immer und überall beim Thema Race. ZUM PODCAST (externer Link)
Linktipps:
WDR (2020): Der große Crash – Die Wirtschaftskrise von 1929 in Deutschland
Am 24. und 25. Oktober 1929 stürzen an der New Yorker Börse Aktienkurse ins Bodenlose. Innerhalb kurzer Zeit werden gewaltige Vermögenswerte vernichtet: der "Schwarze Freitag" an der Wall Street. Nach den Jahren des Booms kann sich auch Deutschland dem Sog nicht entziehen. Der Film berichtet detailgenau, wie die Krise an den Börsen das alltägliche Leben veränderte. Eindrucksvoll erzählen Zeitzeugen von Not, Hunger und dem Verlust der Würde. Auch die Gier von Spekulanten ist Thema der Sendung.
JETZT ANSEHEN
Deutschlandfunk Kultur (2016): Geld schläft nie – Ein Blick hinter die Kulissen der Wallstreet
Nach der Finanzkrise ist die Wallstreet wieder Ziel der Träume junger Ökonomen. Nicht jeder hält der exzessiven Arbeit stand. Unternehmen haben darauf reagiert. Sie verbieten Mitarbeitern, nachts E-Mails zu bearbeiten und verordnen einen freien Tag in der Woche. JETZT LESEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
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Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Die Geschichte der Wall Street begann unter einem Baum – und zwar mit einem Versprechen:
ZITATOR
We the Subscribers do hereby solemnly promise, that we will not buy or sell from this day on any kind of Public Stock, at a less rate than one quarter percent Commission and that we will give a preference to each other in our Negotiations.
ZITATOR
Wir, die Unterzeichner, versprechen hiermit feierlich, dass wir von diesem Tag an keine Aktien zu einem geringeren Satz als einem Viertel Prozent Kommission kaufen oder verkaufen und dass wir uns gegenseitig den Vorzug geben werden.
SPRECHER
24 Männer unterzeichneten diese Vereinbarung im Mai 1792. Sie trafen sich unter einer Platane, einem buttonwood, deshalb spricht man vom Buttonwood Agreement. Es gilt als Gründungsdokument der mächtigsten Börse der Welt – die New York Stock Exchange, wie sie später heißen wird.
MUSIK
SPRECHERIN 2
Die ersten Jahre – oder: Das Geld fließt in die Neue Welt
SPRECHERIN
Die Platane, unter der sich die Männer trafen, stand in der Wall Street im südlichen Manhattan. Die Straße heißt so, weil es dort tatsächlich einen Wall, also eine kleine Mauer gab.
SPRECHER
Ende des 18. Jahrhunderts begannen Händler dort Wertpapiere feilzubieten. Ihre Geschäfte machten sie in Kaffeehäusern, vor allem im Tontines Coffee House, Wall Street Nr. 85. Die Geschäfte gingen gut, aber immer wieder kam es zu Betrug und Tricksereien, schreibt Charles R. Geisst in seinem Buch „Geschichte der Wall Street“. Kurse wurden manipuliert, Gelder veruntreut. Das sollte sich ändern. Und so gründeten mit dem Buttonwood Agreement die 24 Unterzeichner eine Art Club. Mit bestimmten Regeln, festen Gebühren und Handelszeiten. Wer sich nicht daran hielt, flog raus.
SPRECHERIN
In der Anfangszeit konnte man in der Wall Street vor allem Staatsanleihen erwerben. Wer der jungen US-amerikanischen Bundesregierung Geld leihen wollte, brachte es zu den Händlern und bekam im Gegenzug das Versprechen, das Geld nach einer bestimmten Zeit zurückzubekommen, inklusive Zinsen versteht sich.
SPRECHER
Gleich die allererste Anleihe brachte dem Staat 80 Millionen Dollar ein – damals eine enorme Summe. Das Geld war aber auch nötig, denn die amerikanische Bundesregierung hatte sämtliche Schulden aus dem Unabhängigkeitskrieg übernommen.
MUSIK
SPRECHERIN
An Kapital mangelte es nicht. Amerika war für viele Menschen in Europa ein verheißungsvolles Land. Die junge Republik bot ausreichend Land und barg Unmengen an Rohstoffen wie Holz und Eisenerz. Das versprach riesige Gewinne. Viele wollten deshalb ihr Geld dort investieren – oder wanderten gleich selbst in die USA aus.
SPRECHER
Im Tontines Coffee House gab es täglich zwei Sitzungen, eine am Vormittag und eine am Nachmittag. Die zum Verkauf stehenden Wertpapiere wurden ausgerufen und die Händler gaben Gebote ab. Alle Verkäufe zusammen ergaben am Ende des Tages den Börsenkurs. Die Geschäfte liefen gut. In der Wall Street herrschte reges Treiben, sagt der Wirtschaftshistoriker Boris Gehlen. Er ist Professor an der Universität Stuttgart.
01 O-TON (Gehlen)
Man muss sich das tatsächlich sehr hektisch vorstellen, weils da eben in kurzer Zeit um sehr große Geldsummen ging, die dann bewegt werden sollten und eben auch um die Möglichkeit als Erster an einem Geschäft teilzunehmen.
SPRECHERIN
Um Geschäfte geordnet abwickeln zu können, führte man Verhaltensregeln für das Börsenparkett ein.
02 O-TON (Gehlen)
Bekannt ist aus den Regelwerken, dass man explizit verboten hat, über das Parkett zu laufen, um dieser Hektik ein wenig entgegenzuwirken.
MUSIK
SPRECHER
Die Zahl der Wertpapiere stieg. Viele der damals neu gegründeten Eisenbahngesellschaften und Schifffahrtsunternehmen brauchten Kapital, das sie sich über die Börsen besorgten. Entweder über Anleihen oder über Aktien, also Anteile an ihrem Unternehmen.
SPRECHERIN
Die Händler verdienten sehr gut, deshalb zog die Wall Street viele Einwanderer an. Aber nicht jeder konnte Mitglied im exklusiven Club der New York Stock Exchange werden – denn dafür musste man schon einiges an Geld mitbringen.
03 O-TON (Gehlen)
Wenn wir uns die Mitgliedschaftskosten anschauen, dann war das das X-fache eines Jahresgehalts von Arbeitern. Also man musste eben erst einmal eine enorm hohe Summe an Geld überhaupt aufbringen, um dort handeln zu können.
MUSIK
SPRECHERIN 2
Fragwürdige Geschäfte – oder: Kurse, die plötzlich purzeln
SPRECHER
Aber es gab auch kleinere Börsen und andere Wege, in der Wall Street Geld zu verdienen. Manche Händler versuchten, hoch spekulative Wertpapiere unter die Leute zu bringen. Die gab es nämlich schon damals. In den Kaffeehäusern waren sie nicht geduldet, deshalb handelten sie auf der Straße. Man nannte sie Curbstone Brokers, also Bordsteinhändler. Später ging daraus die American Stock Exchange hervor.
SPRECHERIN
Wobei fragwürdige Geschäfte überall vorkamen. Es wurden zum Beispiel Kurse manipuliert.
SPRECHER
Um trotzdem das Vertrauen in den Finanzmarkt aufrecht zu erhalten, drohte die New York Stock Exchange mit drastischen Strafen – eine staatliche Regulierung gab es zu dieser Zeit allerdings nicht.
05 O-TON (Gehlen)
Kläger waren Börsenhändler, die Beklagten waren Börsenhändler und die Richter waren Börsenhändler. Und da ging es dann um die Bewertung, ob Transaktionen mit den Regeln der New York Stock Exchange vereinbar waren oder nicht. Und wenn man zu dem Schluss kam, dass jemand gegen die Regeln verstoßen habe, konnten die Strafen sehr, sehr hart sein, bis hin zum dauerhaften Ausschluss von der Börse. Und damit ging einher faktisch die wirtschaftliche und soziale Existenzvernichtung. Und insofern war das natürlich ein Anreiz, sich doch weitgehend an die Regeln zu halten.
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Das dämmte die unlauteren Geschäfte an der Wall Street zwar ein. Dennoch kam es immer wieder zu Kursstürzen, und zwar während des gesamten 19. Jahrhunderts.
06 O-TON (Gehlen)
Und das hat dann mit dazu beigetragen, dass eben auch das Finanzsystem in den USA sehr häufig von Finanzkrisen geschüttelt war und dass auch die Spekulation doch andere Dimensionen als in europäischen Staaten angenommen hat.
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Schon damals zeigte sich ein Muster, das wir heute noch kennen: Boom and Bust, übersetzt bedeutet das so viel wie: Aufschwung und Niedergang.
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1837 kam es beispielsweise zu einer Börsenpanik, die einen schwere Wirtschaftskrise nach sich zog. Vorausgegangen war ein Boom, der mit dem Indian Removal Act von 1830 begann. Das Gesetz sah die zwangsweise Umsiedlung und Deportation der indigenen Bevölkerung vor. Das freigewordene Land erzielte Höchstpreise. Eine Spekulationswelle setzte ein. Aktien von Eisenbahngesellschaften und Baumwollfirmen waren stark nachgefragt – in der Annahme, dass sie nun gute Geschäfte machen.
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Aber die Spekulationsblase platzte, nachdem die US-Regierung vorschrieb, dass Land nur noch mit Gold und Silber und nicht mehr mit Banknoten gekauft werden durfte. Das schränkte den Kreis der Käuferinnen und Käufer stark ein. Die Stimmung kippte. Alle wollten so schnell wie möglich ihre Wertpapiere loswerden. In der Wall Street gab es Tumulte. Soldaten marschierten auf, um einen geordneten Ablauf zu gewährleisten.
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Ähnliche Börsenpaniken gab es 1857, 1869, 1873 und 1893. Häufig kam es danach zu Firmenpleiten und Wirtschaftskrisen. Denn Unternehmen geht das Geld aus, wenn Menschen ihre Unternehmensanteile, ihre Wertpapiere im großen Stil verkaufen. Es fehlt an Liquidität.
08 O-TON (Gehlen)
Was auch damit zu tun hat, dass wir bis 1913 eben kein Zentralbanksystem in den USA haben, keinen Lender of Last Resort, also jemand, der einspringen kann, wenn tatsächlich die Liquidität an den Märkten knapp wird.
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Große Geschäfte – oder: Als Banker panisch wurden
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Die Industrialisierung veränderten die US-amerikanische Wirtschaft. Riesige Unternehmen entstanden – und machten einige Männer sagenhaft reich. Zum Beispiel Cornelius Vanderbilt, den man König der Eisenbahnen nannte, oder der John D. Rockefeller mit seinem Öl-Imperium.
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Gleichzeitig war der Kapitalbedarf groß. Die Zahl der Aktien nahm Ende des 20. Jahrhunderts stark zu. Aber auch große Bankhäuser wurden zu dieser Zeit gegründet. Viele davon hatten ihren Sitz in oder nahe der Wall Street.
09 O-TON (Gehlen)
Die beiden größten Bankhäuser Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war Kuhn, Loeb & Co. und der Gegenspieler war JP Morgan, also das große Bankhaus der Wall Street.
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John Piermont Morgan war der einflussreichte Banker seiner Zeit – er hatte fast überall seine Finger im Spiel über sein Bankhaus JP Morgan & Company, damals in der Wall Street Nr. 23, arrangierte er zahlreiche Fusionen und Übernahmen, zum Beispiel bei der United States Steel Corporation, der damals größten Aktiengesellschaft der Welt. Zeitweise hatten er und seine Partner von JP Morgan & Company mehr als 72 Aufsichtsratsmandate in 47 großen Gesellschaften inne.
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Morgan war es dann auch, der die Geschicke des Landes nach dem nächsten Börsensturz lenken sollte …
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Im Herbst 1907 gab es erneut einen Kurssturz an der Wall Street. Auslöser war ein gescheiterter Versuch von Augustus Heinze, Spross deutscher Einwanderer, Aktien seiner Firma zurückzukaufen. Er verspekulierte sich aber und scheiterte grandios.
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Die Banken, bei denen er sich Geld geliehen hatten und denen er es nicht mehr zurückzahlen konnte, gerieten in Zahlungsschwierigkeiten. Es folgten Bankruns, weil die Menschen ihr Geld in Sicherheit bringen wollten. Aktienkurse rauschten in den Keller, niemand vergab mehr Kredite. Bald reihte sich ein Konkurs an den anderen.
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Viele der kleineren Banken hatten ihr Geld bei den großen Banken angelegt. Vor allem bei JP Morgan. Eine Zentralbank, wo sie ihr Geld hätten parken können, gab es ja damals nicht. Als die kleineren Banken sich die Gelder vorzeitig auszahlen lassen wollten, weigerte sich JP Morgan zunächst. Eine und Bankenpleite folgte auf die nächste. Und so sagten JP Morgan und andere Banker letztlich doch zu, große Summen, auch aus eigenen Vermögen, als Darlehen bereitzustellen.
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Mehrere solche Rettungsaktionen waren nötig. Die Gespräche fanden zum Teil in Morgans Privatbibliothek statt. Der Patriarch soll viele Banker persönlich überredet haben. Wobei er sie einmal auch einfach in seiner Bibliothek einschloss, bis eine Einigung gefunden war.
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Die sogenannte Bankers Panic blieb nicht ohne Folgen. Um dem offensichtlich gewordenen Machtvakuum zu begegnen, gründete man ein Zentralbankensystem in den USA, das Federal Reserve System, kurz Fed. Die New Yorker Dependance der Fed hat ihren Sitz in der Liberty Street, zwei Blocks von der Wall Street entfernt.
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Die 1920er Jahre – oder: Beifall für die Wall-Street-Banker
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Wenige Jahre später der nächste Aufschwung. Es waren die Roaring Twenties, die wilden 20er Jahre. Der Wohlstand stieg merklich, die USA wurden zur Konsumgesellschaft. Man kaufte Radios, Telefone – und erstmals auch Wertpapiere. Das war jetzt nicht mehr nur wenigen Vermögenden und Bankern vorbehalten, denn nun hatten mehr Menschen etwas Geld übrig.
10 O-TON (Gehlen)
Und die haben im Grunde dann in Aktien investiert. Und dadurch stiegen die Kurse eben weiter an. Das hat dann neue Anleger immer wieder angezogen, so dass da das klassische Phänomen einer Überspekulation zu betrachten war.
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Mit steigenden Kursen stieg auch das Ansehen der Wall-Street-Mitarbeiter. Die Bewunderung und Popularität war so groß, dass sie morgens auf dem Weg zur Börse oder zur Bank von Touristen beklatscht wurden.
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Im Oktober 1929 folgte der Absturz. Und damit der berühmt-berüchtigte Schwarze Freitag – bzw. Black Thursday in den USA. Als möglicher Auslöser gilt der Bankrott eines Londoner Spekulanten, aber schon länger erwarteten viele auf eine Kurskorrektur. Was dann kam, übertraf allerdings die schlimmsten Erwartungen.
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Die Kurse der New Yorker Börse fielen ins Bodenlose. Zeitungen warnten davor, der Wall Street einen Besuch abzustatten. Die Bürgersteige dort seien nicht sicher, weil sich immer wieder Menschen aus dem Fenster stürzten.
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Auf den Börsen-Crash folgte die Great Depression, die Große Depression. In den USA war zeitweise knapp die Hälfte der Bevölkerung ohne Arbeit. Menschen hungerten. Die Kindersterblichkeit war hoch.
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Die Regierung unter Franklin D. Roosevelt reagierte Anfang der 1930er mit mehreren Gesetzen. Zum ersten Mal in der über 100-jährigen Wall-Street-Geschichte wurde der Wertpapierhandel umfassend reguliert.
11 O-TON (Gehlen)
Im Zuge dessen wird die Securities Exchange Commission eingerichtet. Im Grunde als staatliche Börsenaufsichtsbehörde, weil man inzwischen dann doch gemerkt hat, dass es doch eine einheitliche Rahmensetzung benötigte.
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Daneben gab es mit dem Glass-Steagall-Act von 1933 ein Gesetz, das die Bankenlandschaft in den USA fundamental verändern sollte. Dieses Gesetz wird bis heute in anderen Ländern zitiert und diskutiert. Die Wirtschaftshistorikerin Julia Rischbieter. Sie ist Professorin an der Universität Konstanz.
12 O-TON (Rischbieter)
Der Glass-Steagall-Act sah vor, dass es eine strikte Trennung zwischen Geschäftsbanken und Investitionsbanken geben sollte.
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Auf diese Weise trennte man das risikoreiche Geschäft der Investmentbanken von den Guthaben der Sparerinnen und Sparer. Und auch eine Einlagensicherung wurde eingerichtet, die Sparguthaben im Fall einer Bankenpleite schützt.
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Das Gesetz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigt und blieb viele Jahrzehnte in Kraft, bis es 1999 unter Bill Clinton mehr oder weniger abgeschafft werden soll.
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Zurück zu den 1950ern: In dieser Zeit wurden Investmentfonds zum Verkaufsschlager. Solche Fonds bündeln verschiedene Wertpapiere, so dass auch Kleinanleger und Kleinanlegerinnen an verschiedenen Aktien teilhaben können.
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Und 1967 gab es noch ein Novum: Die erste Frau erhielt einen festen Sitz an der New York Stock Exchange - nach mehr als 170 Jahren Wertpapierhandel. Die Mitgliedschaft kostete übrigens knapp eine halbe Million US-Dollar – denn noch immer war der Börsenhandel den Reichen vorbehalten.
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Der Aufstieg der USA – oder: Als Staatsschulden zur Ware wurden
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Auch auf der weltpolitischen Bühne änderte sich einiges für die USA. Das Land etablierte sich immer mehr als größte Handelsmacht und wurde von einer Schuldner- zu einer Gläubigernation. Sie verlieh und investierten also mehr Geld im Ausland als umgekehrt. Spätestens ab dieser Zeit war die Wall Street nicht mehr nur das Finanzzentrum Amerikas, sondern der Welt.
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Ein Beispiel für Auslandsinvestitionen war der sogenannte Eurodollarmarkt. Er entstand während der Ölpreiskrise Anfang der 1970er Jahre. Die Preise für Erdöl stiegen zu dieser Zeit enorm an.
13 O-TON (Rischbieter)
Das bedeutet, dass die ölfördernden Länder auf einmal sehr hohe Gewinne machen. Und diese Ölförderländer hatten natürlich ein hohes Interesse, ihre Gewinne gut zu verzinsen und einzulegen bei Banken. Und das haben sie getan, vor allem bei europäischen Banken und New Yorker Banken.
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Um die Zinsen auf die eingelegten Gelder zahlen zu können, mussten die Banken es investieren. Es gab zu dieser Zeit allerdings an Überangebot an Kapital – die Banken wussten kaum, wohin damit.
14 O-TON (Rischbieter)
Und somit befanden sich ja diese großen Banken dann in der Situation, dass sie ja Verluste gemacht hätten. Sie hätten eigentlich Zinsen auszahlen müssen und hatten aber gar nicht die Gewinne dafür. Und in dieser spezifischen Situation haben sie angefangen, Ländern weltweit Kredite anzubieten, und diese Länder waren aber nicht unbedingt immer so kreditwürdig wie europäische Länder.
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Die Staatsverschuldung stieg zu dieser Zeit stark an, insbesondere in den lateinamerikanischen Staaten. Das wurde zum Problem, als die amerikanische Fed in den 1980er die Zinsen massiv anhob, wodurch sich die Kredite stark verteuerten. Als eines der ersten gab Mexico 1982 seine Zahlungsfähigkeit bekannt. Die Lage war für viele Staaten dramatisch.
15 O-TON (Rischbieter)
Die Folgen waren desaströs, weil alle Sozialindikatoren sich verschlechtert haben, also Kindersterblichkeit, Lebenserwartung. Und in Lateinamerika heißt das Jahrzehnt deshalb auch lost decade, also das verlorene Jahrzehnt.
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Als absehbar war, dass viele Länder ihre Schulden bei Banken, auch bei den Wall Street Banken, nicht bedienen konnten, suchte man auf internationaler Ebene nach Lösungen. Einige Kredite wurden umgeschuldet, Schuldenerlasse debattiert – und auch ein Mann der Wall Street machte einen Lösungsvorschlag. Er hieß Richard A. Debs, der spätere Gründer von Morgan Stanley International.
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Debs Idee war, die Kredite umzuwandeln in handelbare Anleihen. So konnten diejenigen sie kaufen, die große Risiken eingehen wollten. Internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank unterstützten das Vorhaben. Und so wurde der Plan 1989 umgesetzt – und viele Banken wurden ihre Kredite auf diese Weise los, während die verschuldeten Staaten zum Teil noch höhere Zinsen berappen mussten …
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Etwa zu dieser Zeit passierte der nächste Börsensturz, der heftigste seit über 50 Jahren. Der Handel mit den Wertpapieren wurde ausgesetzt, die Fed stellte Liquidität bereit, viele Unternehmen kauften eigene Aktien auf, um den Kurs zu stabilisieren. Das beruhigte die Lage.
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Nach diesem Börsensturz von 1987 gab es erneut eine Debatte über die Risiken, die von den Finanzmärkten ausgehen. Aber anders als früher sprachen sich nun viele nicht für mehr, sondern für weniger Regulierung aus. Das würde die Finanzmärkte sicherer machen, meinte etwa Alan Greenspan, lange Zeit Chef der amerikanischen Zentralbank.
16 O-TON (Rischbieter)
Er hat argumentiert, dass die bisherige Regulierung, die man habe, nicht nur ausreicht, sondern die würde eigentlich die Geschäfte behindern. Wenn wir diese verschiedenen Regularien aufheben, dann hätten wir eine Situation, in der nämlich die Banken eigenverantwortlich überhaupt handeln könnten und dann könnten sie sozusagen erstens mehr Gewinne machen und würden auch im Sinne des Staates besser handeln können.
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Das führte letztlich zur Abschaffung des Trennbankensystems, das mit dem Glass-Steagall-Act eingeführt worden war, und zu weiteren Liberalisierungen der Finanzmärkte.
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Finanzinnovationen – oder: Rettungsschirme für die Banken
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Die Geschäfte weiteten sich aus, immer neue Finanzprodukte wurden an der Wall Street ersonnen. Derivate wurden der Renner. Damit kann man zum Beispiel auf Kursentwicklungen wetten. Solche hoch spekulativen Wertpapiere gab es schon länger, aber ab den 1990ern wurden sie im großen Stil gehandelt.
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Mit Derivaten kann man auch fallende Kurse setzen, deswegen gab es die Vorstellung, sie würden die Finanzmärkte sicherer machen. Das Gegenteil war allerdings der Fall. Es kam zur Dotcom-Blase, investiert wurde in alles, was mit dem damals neuartigen Internet zu tun hatte. Die Blase platzte im Jahr 2000.
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Wenige Jahre später folgte die weltweite Finanzkrise. Auslöser war eine geplatzte Immobilienblase in den USA. Dort hatten sich viele Menschen teils ohne Vermögen oder Einkommen Häuser auf Kredit gekauft. Man hielt diese „Risiken“ für beherrschbar, weil man sie als komplexe Wertpapiere handelbar machte und in die ganze Welt verkaufte. Das funktionierte allerdings nur solange, wie die Preise am Häusermarkt nicht fielen – was 2007 aber der Fall war. Einige kleinere Banken gingen Pleite – und drohten größere mitzureißen.
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Regierungen unterstützten sie und stellten Liquidität bereit. Sie schossen also Geld in astronomischem Ausmaß zu, indem sie milliardenschwere Rettungsschirme aufspannten. Die Banken seien too big to fail hieß es, sie würden ganze Volkswirtschaften mit in den Abgrund reißen. Teilweise überforderte das die Staaten. Aus der Finanzkrise wurde erst eine Euro- und dann mancherorts eine Staatsschuldenkrise, zum Beispiel in Griechenland. Zeitweise war knapp ein Drittel der Menschen in Griechenland ohne Arbeit. Sozialausgaben wurden zusammengestrichen, Krankenhäuser geschlossen, viele Menschen wurden obdachlos.
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Um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, senkten Zentralbanken weltweit die Zinsen auf neue Tiefststände. Das sollte die Kreditvergabe stimulieren. Auch viele Kleinanlegerinnen und Kleinanleger investierten ihr Geld, weil das Ersparte auf der Bank keine Zinsen mehr einbrachte – der nächste Börsenboom.
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Und ist das nun das Ende der Geschichte? Keineswegs. Denn wenn man eines aus der Geschichte der Wall Street lernen kann, dann das: Auf jeden Boom folgt ein Bust, nach jedem Aufschwung kommt ein Niedergang. Bleibt die Frage, wann es soweit ist – und wie schlimm es dann wird.
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