Fokus Europa ist eine Interview-Serie mit Experten über die europäische Idee, den Stand der Vereinigung und ihren aktuellen Zustand. Moderator Tim Pritlove hinterfragt und diskutiert im Dialog über Ziele, Träume und Wirklichkeit in Europa.
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Das Verhältnis der EU zu den USA, China, Russland und dem Rest der Welt
Reinhard Bütikofer
Neuerdings wird in den Mitgliedsstaaten und auf Ebene der EU viel davon geredet, die Europäische Union solle weltpolitikfähig werden, sie solle als eine Großmacht auftreten und geopolitische Ziele verfolgen. Nein, meint Reinhard Bütikofer im Interview mit Fokus Europa, die EU solle nicht Großmachtpolitik betreiben, sondern die regelbasierte multilaterale Ordnung verteidigen und ausbauen. Reinhard Bütikofer ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments, bis November diesen Jahres war er Ko-Vorsitzender der Europäischen Grünen, seit der Neukonstituierung des Europäischen Parlaments ist er Mitglied in dessen Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und Mitglied der Delegationen für die Beziehungen zu den USA und zu China.
Er hält eine Positionierung der EU zwischen den USA und China für einen strategischen Fehler. Erstens gebe es trotz aller Entfremdung von den USA und allem Befremden über die US-Regierung keine Äquidistanz der EU zu den Vereinigten Staaten einerseits und China andererseits. Mit den USA als Demokratie und Rechtsstaat habe die EU ein gemeinsames Wertefundament. China hingegen habe sich zu einem totalitären Regime entwickelt, das seit einiger Zeit auch noch sein Modell der (meist unfairen) Konkurrenz auf dem Weltmarkt und der totalitären Kontrolle im Inneren zu exportieren beginne.
Zweitens bestehe die strategische Aufgabe der EU als Verbund kleiner und mittlerer Staaten darin, ein Netzwerk mit anderen mittelgroßen und kleinen Ländern auszubauen, die wie Japan, Kanada, Australien oder die ASEAN-Staaten sich nicht zwischen den USA und China entscheiden und ihrer jeweiligen Hegemonie unterwerfen wollen. Mit ihrer neuen, erst noch in den Anfängen steckenden Konnektivitätsstrategie will die EU zu diesen Ländern Verbindungen herstellen, die für die EU vorteilhaft sind, die aber auch Raum lassen für die Interessen der anderen Länder.
Im Interview geht Reinhard Bütikofer Aspekte dieser Konnektivitätsstrategie im Verhältnis der EU zu China, zu Russland und zu anderen Ländern durch. Dabei betont er, dass die EU durchaus von Chinas Seidenstraßenstrategie lernen könne. Die nehme nicht nur Handelsinteressen, sondern auch die Infrastrukturbedürfnisse seiner Handelspartner in Afrika, Asien, Südamerika und Südosteuropa in den Blick. In Bezug auf Russland fordert Reinhard Bütikofer in erster Linie eine gemeinsame europäische Haltung. Gegenwärtig sei vor allem Dissonanz vernehmbar. So etwa in Bezug auf die europäische Verteidigungspolitik, die gegenwärtig zwischen der (für die nächsten Jahre illusorischen) Forderung nach einer europäischen sicherheitspolitischen Souveränität einerseits und immer engeren bilateralen Bindungen einzelner (meist osteuropäischer) Länder an die Sicherheitszusagen der USA andererseits schwanke.
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Über die schwierige Zeit Griechenlands nach der Finanzkrise und der Auseinandersetzung mit der EU
Olga Drossou
Griechenland hat ein Superwahljahr hinter sich. Kommunal-, Europa- und nationale Wahlen haben die politische Landkarte deutlich verändert. Das Bündnis der radikalen Linken Syriza, das 2015 an die Macht kam, hat auf allen Ebenen gegenüber der konservativen Nea Dimokratia (ND)verloren. Dennoch hat sich Syriza als einzig nennenswerte Alternative zur ND halten können. Das Interview mit Olga Drossou, der Leiterin der Heinrich Böll Stiftung Griechenland, blickt zurück auf 10 Jahre Krise und Krisenmanagement und auf die Ursachen der Krise, die bereits in den 90er Jahren bekannt waren. Griechenlands politische Ökonomie passt nicht zu einem auf Effizienz ausgerichteten gemeinsamen Markt und schon gar nicht zur gemeinsamen Euro-Währung, die nach den Forderungen der fortgeschrittensten Volkswirtschaften etwa Deutschlands oder der Niederlande gestaltet wurde. Griechenlands Mitgliedschaft, wie auch die Spaniens und Portugals, war nicht wirtschaftlich begründet, sondern galt der demokratischen Stabilisierung nach Jahren der Diktatur. Und sie galt geostrategischen Zielen. Das Wachstum, das Griechenland bis zum Ausbruch der Krise dank europäischer Gelder und billigen Euro-Krediten bis 2010 generierte, war ein "Wachstum ohne Entwicklung". Die Krise und das zur Rettung des Euros in Griechenland durchgesetzte Krisenmanagement der "inneren Abwertung" hat Griechenland zu einer Modernisierung gezwungen, für die es trotz besseren Wissens selbst keine demokratischen Mehrheiten herstellen konnte. Daran hat auch die extreme politische Polarisierung ihren Anteil, bei der die Opposition auch vernünftige Maßnahmen der Regierung radikal ablehnt. Ohne einen Minimalkonsens des Parlaments kann es jedoch keine eigenständige Modernisierung geben. So erweist sich die von Anfang an umstrittene Mitgliedschaft im Euro als Wette: Mit Reformen würde es gut gehen, ohne sie drohte der Bankrott, den Europa um den Preis eines auferlegten Modernisierungsprogramms verhindern würde. Am Ende des Interviews hegt Olga Drossou die Hoffnung, dass Syriza aus 4 Jahren Regierung gelernt hat und zu einer konstruktiven Oppositionsarbeit bereit ist. Nur wenn sich Regierung und Opposition auf einen Minimalkonsens verständigen, wird Griechenland sich wieder eigenständig demokratisch regieren können.
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Der Weg Italiens nach Europa, die Krise der zweiten Republik und Italiens Verhältnis zu Europa
Angelo Bolaffi
Seit der Wahl der neuen italienischen Regierung im März 2018 hat das Interesse an, um nicht zu sagen die Besorgnis über Italien stetig zugenommen. Angesichts der offensichtlichen Spaltungslinien in der EU wird man aber auch nicht davon sprechen können, dass Italien eine Außenseiterposition innehabe. Eher hat Italien eine marginalisierte Position innerhalb der Eurozone inne - und die gegenwärtige italienische Regierungskoalition bringt radikal zum Ausdruck, dass die italienischen Wähler und Wählerinnen mit dieser Position nicht länger zufrieden sind.
Im Interview mit Angelo Bolaffi geht es um Italien als ein rebellisches Mitgliedsland der EU, das im System der EU und der EWU nicht gut zurechtkommt, dass sich aber Belehrungen und Vorschriften durch EU oder einzelne Mitgliedsstaaten der EU verbittet. Angelo Bolaffi bekleidete Professuren für Philosophie in Rom und an der Freien Universität Berlin. Er hat viel für den Austausch politischer Ideen der Linken zwischen Deutschland und Italien getan. Von 2007 bis 2011 leitete er das Italienische Kulturinstitut in Berlin. Er lebt heute als Prof. Emeritus für politische Philosophie in Rom, reist aber immer wieder nach viel zu Vorträgen nach Deutschland. Als Mitglied der Grünen Akademie ist er auch der Heinrich Böll Stiftung verbunden.
Im aktuellen italienischen Europawahlkampf wird die marginalisierte Stellung Italiens sehr deutlich: Die Italiener wollen auf jeden Fall in EU und Währungsunion bleiben, sind aber nicht bereit, die dafür notwendigen Reformen und Kosten zu tragen. Die Mitgliedschaft in der Währungsunion sollte diese Reformen auf technokratischem Wege durch die EU erzwingen. Entsprechend sehen sich viele Italiener heute eher als Opfer der EU. Weil es too big to fail ist, gilt das Land als das größte Risiko für die Währungsunion. Zugleich ergibt sich daraus für die italienische Politik aber auch ein viel größerer Spielraum als beispielsweise für das kleine Griechenland, das sich dem Diktat der inneren Abwertung und sozialer Kahlschläge unterwerfen musste. Dieser Spielraum wird heute, so Bolaffi, von einer proto-faschistischen, stark von den sozialen Medien geprägten Bewegung auf der Suche nach dem europäischen Platz Italiens genutzt.
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Soziales Unternehmertum als Basis für eine Umgestaltung der Wirtschaft
Markus Sauerhammer
Markus Sauerhammer vom Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland kommt eigentlich aus der Landwirtschaft. Dort sah er, dass die Renditeorientierung in die Irre führt. Für den kleinen Bauern und sein kleines Kapital rechnet sie sich nicht und für die Gesellschaft, die gute Qualität und keine Umweltschäden will, auch nicht.
So kam Markus Sauerhammer in die Gründerszene, wo sich Menschen treffen und zusammenarbeiten, die zwei Fragen umtreibt: Wie kann ich Alternativen zur herrschenden Wirtschaftsweise entwickeln, die die Kapitalrendite gegenüber dem gesellschaftlichen Mehrwert bevorzugt und oft sogar neue gesellschaftliche Probleme erzeugt (Umwelt, Finanzkrisen etc); und wie kann ich meine Zukunft selbst gestalten?
Beide Fragen führten ihn und andere Gründer zur Sozialen Ökonomie: Zu Unternehmen nicht in der Hand des Staates, sondern in der Hand der Mitarbeiter/innen, die am Markt bestehen sollen, sich aber am gesellschaftlichen Mehrwert orientieren. Es geht um Sinn mit Gewinn. Andere nennen es New Work. Inzwischen gibt es welt- und europaweit eine Bewegung der sozialen Ökonomie. Vor allem junge Menschen begeistern sich dafür und Menschen in der zweiten Lebenshälfte, die nach vielen Jahren im Hamsterrad nicht mehr nur Geld verdienen, sondern etwas Sinnvolles tun wollen.
Schön für sie, könnte man denken. Die wollen sich also selbst verwirklichen? Doch es geht um mehr: Es geht um die Lösung dringender gesellschaftlicher Probleme durch Klimawandel, bei der Gesundheitversorgung, bei Migration und Integration, durch die Schere zwischen arm und reich. Es geht um Innovationen zur nachhaltigen Lösung dieser Probleme. Es geht um gesellschaftlichen Mehrwert.
Innovationen werden doch von der Politik allerorten beschworen und überall gefördert, könnte man einwenden. Ja, aber eben nicht die Innovationen für den gesellschaftlichen Mehrwert. Was sich nicht rechnet, bleibt liegen. Start Ups werden bezuschusst, weil man von ihnen erwartet, dass sie nach einer Weile teuer weiterverkauft werden. Um diesen Mehrwert zwischen Startkapital und Verkaufserlös geht es der Politik. Soziale Innovationen werden so aber nicht gefördert.
Da sind andere Länder viel weiter. Großbritannien zum Beispiel hat eine Innovationsstiftung für die Lösung sozialer Probleme gegründet. Frankreich will ihm folgen. Die EU macht mit ihren Länderberichten auf die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der Sozialen Ökonomie in den Mitgliedsländern aufmerksam. Ihre Methode der offenen Koordinierung, wonach die Vorreiter die anderen nach sich ziehen sollen, könnte bei der Entwicklung der Sozialen Ökonomie in Deutschland hilfreich sein. Bei aller deutschen Herablassung gegenüber dem am Brexit zerbrechenden Großbritannien: vom dort erreichten Stand der sozialen Ökonomie und der britischen Innovationspolitik könnte Deutschland viel lernen.
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Die Regelung der Landwirtschaft in der Europäischen Union
Christine Chemnitz
Am Anfang der europäischen Agrarpolitik stand der Hunger. Nach dem Krieg war die Versorgung schlecht. Die gemeinsame europäische Agrarpolitik (GAP) sollte den Bauern das Einkommen sichern, die Produktivität steigern und den Menschen ausreichend Lebensmittel zu vertretbaren Preisen liefern.
So entstand die industrialisierte Landwirtschaft. Die findet heute immer weniger Akzeptanz. Gegen sie gehen seit bald 10 Jahren während der "Grünen Woche"-Agrarmesse in Berlin Zehntausende mit der Parole "Wir haben es satt" auf die Straße. Sie haben es satt, dass diese Landwirtschaft große Mengen mit teilweise fragwürdiger Qualität zu sehr hohen öffentlichen Kosten produziert. Denn sie kostet nicht nur viel Geld, verteilt das Geld an die Großen und lässt die Kleinen verhungern. Indem sie mit Pestiziden Biodiversität zerstört, Wasser und Grundwasser belastet und zum Klimawandel beiträgt, verzehrt sie auch einen immer größeren Teil der öffentlichen Allmende.
Damit muss Schluss sein, sagt die europäische Bewegung "Meine Landwirtschaft - save our seeds". Sie fordert den ökologischen Umbau der Landwirtschaft und die Änderung der GAP. Mit den 60 Mrd.Euro, die die EU jährlich für die GAP ausgibt, soll eine Landwirtschaft finanziert werden, die die Allmende durch Landschaftspflege, Grundwasserschutz, Verzicht auf Pestizide, Entwicklung des ländlichen Raums, Tierschutz und Erhaltung von Biodiversität pflegt statt ausplündert.
Das aber kostet, erläutert im Interview Christine Chemnitz, die Expertin der Heinrich Böll Stiftung für internationale Landwirtschaftspolitik. Sie widerspricht damit der geläufigen Meinung, dass der riesige Agrarhaushalt der EU ruhig gekürzt werden könne, wenn er doch nur Schaden stifte. Tierschutz und gute Landwirtschaft kosten, wenn sie dem Gemeinwohl dienen sollen. Die Kürzung des Budgets, die sich für die EU Finanzperiode 2021-27 abzeichne, sei genau das falsche Zeichen. Die Mehrzahl der Menschen befürworte die europäische Förderung der Landwirtschaft, wenn diese öffentliche Güter produziere. Das schlechte Ansehen der europäischen Landwirtschaft sei keine Frage der Kosten, sondern der Ziele, die mit ihr erreicht werden sollen. Gute Landwirtschaft dürfe durchaus kosten. Das haben Länder wie die Niederlande oder Dänemark längst erkannt, die den Spielraum der nationalen Agrarpolitik sinnvoll nutzten. Nur die Regierungen Frankreichs, Deutschlands und Polens hätten das noch nicht erkannt. Sie blockieren den Umbau zu einer ökologisch ausgerichteten GAP.
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Europäische Erinnerungsorte und Europa als globales Leitbild
Claus Leggewie
Europa wurde aus der Erfahrung der europäischen Kriege und des Holocaust errichtet. Dieses einst starke Narrativ des "Nie wieder!" hat bis in die 80er Jahre europäische Bürger und Bürgerinnen zu einer politische Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten verbunden. Seit den 90er Jahren verlor es jedoch an Überzeugungskraft. Wie konnte das geschehen und welches Narrativ brauchen wir heute? Diesen Fragen geht das Gespräch mit Claus Leggewie, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen und Autor des 2011 erschienen Buches „Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt“ nach. Um ein Schlachtfeld gegensätzlicher Opfergeschichten handelt es sich in der Tat bei den nationalen Erzählungen über die Geschichte der europäischen Gesellschaften des letzten Jahrhunderts. Solche Geschichten werden nicht vorgefunden, sondern von Historikern unter institutionellen Bedingungen universitärer Forschung, schulischer Lehrpläne und historischer Museen konstruiert. Deshalb war es eine gute Idee, mit der Gründung eines Museums für europäische Geschichte zu einem europäischen Narrativ über das europäisch Verbindende beizutragen. Anlass für diese Idee war das historische Ereignis der Überwindung der europäischen Teilung und des Aufbruchs der Länder des ehemaligen kommunistischen Blocks nach Europa. Doch statt eines neuen Narrativs der sich erweiternden politischen Gemeinschaft dominierte über viele Jahre das Narrativ, dass Europa vor allem ein Markt sei. Nach Jahren der Krise und des anhaltenden Streits unter den Mitgliedern der EU wird das Fehlen eines gemeinsamen politischen Narrativs heute besonders schmerzlich empfunden. Gut also, dass 2017 mit der Eröffnung des Hauses der europäischen Geschichte in Brüssel daran gearbeitet werden kann. Das Museum bietet dazu viele überraschende Anregungen.
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Litauen, Lettland und Estland und ihre Rolle in Europa
Sigita Urdze
Die baltischen Staaten gehören mit Finnland zu den östlichsten Ländern der EU. Sie sind stark geprägt von den Erfahrungen der Unterdrückung durch Russland/die Sowjetunion, aber auch vom Erfolg ihrer gewaltfreien "singenden Revolution" in den Jahren 1987-91. In anderer Hinsicht sind die baltischen Staaten aber auch ausgesprochen "westliche" Länder, mit einer liberalen Wirtschaftspolitik und stabilen Demokratien. Inmitten der Wirtschafts- und Finanzkrise, die sie hart traf, waren sie sogar zu weiteren Sparmaßnahmen bereit, um dem Euro beitreten zu können. Im Interview erläutert Sagita Urzde, Politikwissenschaftlerin an der TU Darmstadt mit familiären Wurzeln in Lettland, wo sich Widersprüche auftun zwischen diesem westlichen Liberalismus und einem aus der Abgrenzung zu Russland motivierten Nationalismus. Die werden an der Behandlung der russischen Minderheiten sichtbar, die in Estland und Lettland etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Liberale Inklusion fällt schwer, wenn die Mehrheit sich nicht sicher fühlt und der russische Nachbar den Schutz der russischen Minderheit wie in der Ukraine zu instrumentalisieren bereit ist. Der Beitritt zu Nato, EU und Euro stärkt das Sicherheitsgefühl der Menschen der baltischen Staaten und schafft erst die Voraussetzung für eine liberale und inklusive Haltung gegenüber der russischen Minderheit. Dazu kommt, dass die Menschen nach Jahren eines strikten Wirtschaftsliberalismus, der auch die Arbeitsmigration in die prosperienden Regionen Europas vorsah, sich heute verstärkt den für Minderheit und Mehrheit gemeinsamen Fragen der sozialen Sicherheit und den Problemen der Abwanderung zuwenden.
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Die kommende Europawahl und die Situation der europäischen Parteien
Anna Cavazzini
Im Mai 2019 finden wieder Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) statt. Erstmals haben sich der Europäische Rat und das Europäische Parlament auf ein einheitliches europäisches Wahlrecht verständigt, das spätestens für 2024 eine Sperrklausel zwischen 2-5 Prozent für Parteien vorsieht, die ins EP einziehen wollen. Transnationale europäische Listen wird es jedoch nicht geben.
Das Interview mit Anna Cavazzini aus Berlin, die bei den deutschen Grünen europapolitisch engagiert ist, geht der Frage nach, welche Vorteile ein EP hat, dessen Mehrheit keine Regierung stellen muss, sondern mit wechselnden Mehrheiten Entscheidungen fällen kann. Das kommt nämlich kleineren Fraktionen wie den Grünen oder den Liberalen zugute. Deren Rolle könnte im nächsten EP sogar noch wichtiger werden, wenn die einstmals großen Fraktionen der Konservativen und Sozialdemokraten die erwarteten Verluste erleiden. Was die Grünen dann besser als heute durchsetzen würden, sind die Reform des Europäischen Rats, dessen Entscheidungsfindung und Kohärenz mit dem Regierungshandeln auf nationaler Ebene bis heute intransparent ist, ein Initiativrecht und erweitertes Haushaltsrecht für das EP und die Sicherung der Eurozone gegen die nächste Krise.
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Die Probleme mit Russland und wie sich erklären lassen
Johannes Voswinkel
Wladimir Putin hat im März 2018 die russische Präsidentschaftswahl mit einem Rekordergebnis zum vierten Mal gewonnen. Sogar in den bislang präsidentenkritischen Großstädten konnte er deutlich hinzugewinnen. Bis auf Weiteres scheint das System Putin alternativlos. Die Hintergründe erläutert Johannes Voswinkel, der schon 20 Jahre in Russland arbeitet und seit 2015 das Büro der Heinrich Böll Stiftung in Moskau leitet.
Trotz aller berechtigten Kritik an der Skrupellosigkeit, mit der die Kremlführung durch die Unterdrückung Andersdenkender und durch ihre Propaganda diese Alternativlosigkeit herbeigeführt hat: Für viele russische Bürger ist Putin populär. Aus ihrer Sicht hat er das Land von Chaos, Kriminalität und sozialer Verelendung der Jelzin-Ära in den 90er Jahren befreit.
Putin, so die offizielle Legende, hat einer Mehrheit zu einem akzeptablen Wohlstand verholfen, die Anschlussfähigkeit Russlands an einen westlichen Lebensstil erhalten und das Land in den Kreis der globalen Mächte zurückgeführt. Diesen Fortschritt wollen die Menschen nicht in Frage gestellt sehen. Zumal ihnen die Weltfinanzkrise und die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Europäischen Union belegen, dass an die Stelle des vermeintlichen Endes der Ideologien und der Geschichte heute ein Wettbewerb neu geformter ideologischer und wirtschaftlicher Modelle getreten ist.
In diesem Wettbewerb präsentiert sich Russland als selbstbewusster, aber auch skrupelloser Akteur. Allerdings hat die Fähigkeit der EU, nach der Annexion der Krim Russland gegenüber geschlossen aufzutreten, in Moskau, das auf die Kraft bilateraler Beziehungen setzt, überrascht und Anerkennung gefunden. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten wiederum sehen Russland als eine konkurrierende globale Ordnungsmacht an, mit der man im Gespräch bleiben muss.
Wie sich die Rückkehr Russlands in die Weltpolitik weiter innenpolitisch auswirken wird, bleibt unklar. Russland ist ein autoritäres, aber kein durchgängig repressives System. Wo Entfaltungsräume geschlossen werden, erfinden die Menschen mit großer Fantasie oft neue und widmen sich einer lokalen Geschichtsforschung fern der offiziellen Verlautbarungen oder gründen sozial orientierte Unternehmen.
Die Jugendproteste der vergangenen anderthalb Jahre zeigen, dass es eine junge Generation gibt, die keine Angst mehr hat, die bereit ist, in der Gesellschaft aktiv zu werden und gar persönlich, beruflich, politisch etwas zu riskieren. Aber es ist eine zahlenmäßig kleine Gruppe innerhalb der russischen Gesellschaft, und eine politische Kraft, die diese Proteste und die inneren Widersprüche des Landes zu politischen Alternativen zuspitzen könnte, ist nicht in Sicht.
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Die Sozialsysteme in Europa und der Welt
Christiane Krieger-Boden
Ist Sozialpolitik nicht eigentlich nationalstaatlich organisiert, entlang eingespielter Entwicklungspfade und mühsam auf nationaler Ebene erkämpfter Kompromisse zwischen Arbeit und Kapital? Gibt es überhaupt eine europäische Sozialpolitik?
Tatsächlich geht es im Interview mit Christiane Krieger-Boden vom Institut für Weltwirtschaft Kiel zunächst vor allem um die sehr unterschiedlichen Entwicklungspfade europäischer Wohlfahrtsstaaten. Sie lassen sich den drei Modellen des universalistischen skandinavischen, des konservativen universalistischen kontinentalen (darunter auch deutschen) und des marktortientierten angelsächsischen Wohlfahrtsstaats zuordnen. Dazu kommt noch ein vierter Typ in Südeuropa, der als partikularistischer Wohlfahrtsstaat nur bestimmte Bevölkerungsgruppen (z.B. Staatsbedienstete) begünstigt und der deshalb am stärksten auf der Solidarität innerhalb der Familien aufbaut.
Wohlfahrtsstaaten beruhen auf Solidarität, d.h. auf einem Konsens über mehr oder weniger Umverteilung. Und so weit es auf europäischer Ebene die Bereitschaft und die Instrumente für Umverteilung gibt, existiert auch eine europäische Sozialpolitik. Zu ihr gehören z.B. europäische Sozialfonds, die Mittel in Regionen mit hoher Jugendarbeitslosigkeit leiten.
Aber die Bereitschaft für Umverteilung ist eben auch begrenzt. Deshalb findet Umverteilung vor allem in Gestalt der Arbeitsmigration und als Ausgestaltung von Standards dieser Arbeitsmigration statt. Zu mehr sind die Mitgliedsstaaten der EU derzeit nicht bereit, und selbst die Arbeitsmigration ist - siehe Brexit - umstritten. In den Augen der nationalen Mitgliedsstaaten ist ein Europa, das schützt, immer noch sehr stark ein Europa, das den jeweils eigenen Arbeitsmarkt gegen zu viel Konkurrenz aus anderen Ländern der EU schützt. Dennoch: am Ende ist Frau Krieger-Boden vorsichtig optimistisch: sie sieht einen Prozess der Konvergenz der nationalen Sicherungssysteme, und zwar in Richtung des derzeit besten Modells, nämlich des universalistischen skandinavischen Modells.
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Eine wissenschaftliche Betrachtung des rechtpopulistischen Phänomens
Britta Schellenberg
Was macht im Kern den Rechtspopulismus aus und kann er zu einer Bedrohung für Europa werden? Britta Schellenberg vom Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilian-Universität München spricht über Gemeinsamkeiten und Unterschiede rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien in Europa. Gemeinsam ist ihnen das rassistische Konzept eines homogenen Volks, in dem es für Individuen und Minderheiten keinen Raum gibt und das als ein "Wir" gegen Andere ausgrenzend in Stellung gebracht wird. Auch scheinbar liberal daherkommende Ideologien wie der Ethnopluralismus sind im Grund nichts als die Forderung von Rassentrennung. In Europa gibt es viele rechtspopulistische Bewegungen und Parteien. In ihren Ländern wachsen sie in Reaktion auf einen rasanten gesellschaftlichen Wandel, den viele Menschen als kulturelle Entfremdung empfinden. Aber diesen Bewegungen und Parteien fällt es schwer, sich europäisch zu organisieren und artikulieren. Zu unterschiedlich ist ihre nationale Verwurzelung, zu gegensätzlich ihr Bedarf an nationaler Abgrenzung. Britta Schellenberg ist optimistisch: überall regt sich gegen die Rechtspopulisten der Widerstand einer lebendigen Zivilgesellschaft, die für liberale Werte streitet, die europäisch ist und sich europäisch vernetzen kann.
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