NachDenkSeiten – Die kritische Website

Redaktion NachDenkSeiten

Im Audiopodcast der NachDenkSeiten werden regelmäßig die wichtigsten Artikel des Blogs NachDenkSeiten.de zum Nachhören angeboten.

  • 8 minutes 23 seconds
    Ach ja: Fußballstars leben dort, wo die Welt noch in Ordnung ist

    Es gibt noch andere Themen als die aus unserer Welt der schlechten Nachrichten, der Konflikte, der Krisen, Kriege. Freudige Neuigkeiten gab es jetzt aus München zu melden. Der FC Bayern hat zwar gerade in Spanien von den Ballkünstlern des FC Barcelona einen sportlichen Dämpfer erhalten, was passieren kann. Doch daheim ist der Rekordmeister diese Saison bisher sportlich sehr erfolgreich, mehr noch: Auch abseits des Platzes fahren die Profis ordentlich ein und auf. Genauer gesagt fahren sie alle neuerdings schicke E-Autos – von ihrem Arbeitgeber und dem Autokonzern Audi zur Verfügung gestellte Dienstwagen, wirklich edle E-Autos. Wenn das mal keine perfekten Arbeitsbedingungen sind, solche aus einer anderen Welt. Eine Glosse von Frank Blenz.

    Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

    Ich habe mich immer mal wieder gefragt, warum der Thomas Müller, dieses Sonnenscheingemüt, immer so breit und herzlich lacht. Längst kann ich mir das erklären und nachvollziehen: Dem geht es richtig gut, der hat seinen Platz in einer Welt gefunden, die sich die meisten seiner Mitbürger nicht vorstellen können. Diesen Platz hat er sich hart erarbeitet, Kompliment, gepaart mit Talent und Fleiß und dem Verzicht auf vieles, was normale Bürger als normal empfinden: Zeit, unerkannt sein, unbeobachtet sein und so weiter. Doch hat dieses Star-Leben eben auch viel Schönes: Erfolg, Bekanntheit, Rampenlicht, Wohlstand. Das ist doch schön. Und sein Jubel nach jedem Tor – einfach klasse. Ach ja, Fußballstars leben dort, wo die Welt noch in Ordnung ist. Beim Thomas wie seinen Kollegen stimmt auch der Spruch „Wenn‘s einma‘ läuft …“ – wie soeben wieder.

    Fußballidol und Sympathieträger Müller, der wirklich krass und gut Fußball spielt, und seine Kollegen hatten dieser Tage einen dieser schönen Termine aus der Sparte Öffentlichkeitsarbeit. Müller ist darin Profi, in diesem Sommer hat er als Nationalspieler bei der EM-Vorbereitung bei einem Auftritt bei einer Tafeleinrichtung geglänzt.

    In Ingolstadt besuchte der Klub nun Audi, aber nicht einfach so. Der Tag war für die Bayern einer wie Weihnachten. Die Profis, die bekanntlich ziemlich viel Geld verdienen, konnten sich ebenso wie Trainer und Funktionäre aus München über eine besondere, eine gar imposant luxuriöse Aufmerksamkeit des Autobauers freuen. Im Übrigen ist das kein Novum, sondern gelebte Zusammenarbeit, Partnership im Business sozusagen – und Werbung kostet eben. Die Presseabteilung des Konzerns jubelte entsprechend:

    Oktober 2024 – Weltstars hautnah: Der FC Bayern München nimmt auf der Audi Piazza in Ingolstadt seine Dienstwagen für die aktuelle Saison entgegen. Die Schlüssel für die vollelektrischen Premiumfahrzeuge erhalten zahlreiche Spieler, Trainer und Funktionäre aus den Händen von Audi Mitarbeitenden.

    Wenn das mal keine fantastischen Arbeitsbedingungen sind: Die Profis vom FC Bayern werden also mit E-Autos ausgestattet. Klingt gut. Klingt teuer. So ein Dienstwagenprivileg entlastet zudem das Budget der Arbeitnehmer-Fußballer und schont den privaten Fuhrpark der Kicker. Der Bayern-Spruch „Mia san mia” (Wir sind wir) passt schön dazu, das Motto des FCB, das sicher nicht ausdrücken soll, „wir sind bescheiden und halten uns zurück“. Im Gegenteil – wenn, dann richtig. Das ist so wie auf dem Platz, wo für die Bayern ausschließlich der Sieg und die Meisterschaft zählen, was bis vor einem Jahr gar zur atemberaubenden Bilanz einer bisher unerreichten Serie führte: von 2013 bis 2023 wurden die Goldfüße von der Isar elf Mal hintereinander Deutscher Fußballmeister. So gierig muss man erstmal dauerhaft sein, doch dann klappt das auch mit dem Erfolg.

    Zurück zur Dienstwagenübergabe: Die Schenkenden, also die Audi-Mitarbeitenden (Redensweise der Firmenleitung) und die Öffentlichkeit samt der sicher entzückten Fans konnten via Mitteilung interessante technische Details der zukunftsweisenden Fahrzeuge erfahren:

    Superstar Harry Kane, DFB-Kapitän Joshua Kimmich, Cheftrainer Vincent Kompany und Torwart Manuel Neuer fahren einen Audi SQ8 SUV e-tron*, Nationalspieler Jamal Musiala einen Audi Q6 SUV e-tron* und Jungstar Aleksandar Pavlović einen Audi Q4 e-tron*: Spieler, Trainer und Funktionäre des FC Bayern München erhalten in Ingolstadt ihre neuen Dienstwagen für die aktuelle Spielzeit. Die Flotte besteht seit 2020 ausschließlich aus vollelektrischen Fahrzeugen.

    Die Co-Trainer entscheiden sich genauso wie Innenverteidiger Dayot Upamecano für einen Audi SQ6 SUV e-tron*. Das sportliche Pendant zum Q6 SUV e-tron* zeichnet sich unter anderem durch eine Reichweite von bis zu 598 Kilometern aus und bietet eine überzeugende Ladeperformance. Mit der Q6 e-tron Baureihe kommt E-Mobilität erstmals aus dem Werk Ingolstadt. Hoch im Kurs steht auch der Audi RS e-tron GT performance*, der in dieser Saison unter anderem von Thomas Müller, Konrad Laimer und Leon Goretzka gefahren wird.

    Zu guter Letzt wurde dann doch ein wenig übertrieben. Fußball spielen können die Kicker des FC Bayern. Gut. Ob sie jedoch wirklich als Botschafter für eine künftige E-Mobilität taugen? Zumindest fand das Gernot Döllner, Mitglied im Aufsichtsrat des FC Bayern München und dazu – schau an – gewichtiger CEO bei Audi.

    Auf unserem Weg in die elektrische Zukunft sind die Profis des FC Bayern wichtige Botschafter, um mit unseren rein elektrischen Modellen viele Menschen für E-Mobilität zu begeistern.“

    Und Michael Diederich, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des FC Bayern München, schwärmte von Vorangehen und Nachhaltigkeit:

    Ob als Mannschaft auf dem Platz oder über das Spielfeld hinaus in unserer Gesellschaft: Wir können nur gemeinsam etwas bewegen. Nachhaltigkeit ist uns als FC Bayern wichtig, und wir wollen als Club mit unseren Millionen Fans auf der ganzen Welt auch in puncto Elektromobilität mit positivem Beispiel vorangehen. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Audi ist in diesem Zusammenhang ein wertvoller Bestandteil der FC-Bayern-Nachhaltigkeitsstrategie ‚Mitnand‘.“
    (Quelle: Jetset-media)

    Wenn dann der Vorstand Diederich und der Audi-CEO es noch hinbekommen würden, dass Otto Normalverbraucher und nicht beim FC Bayern Angestellte ähnlich günstige Konditionen für solche – zugegeben schicke – Autos erhalten wie die Stars, dann bekäme Otto Normalverbraucher eine Ahnung von dieser „Mia san mia“-Welt, dem Ort, wo die Welt noch in Ordnung ist.

    Titelbild: Hryshchyshen Serhii/shutterstock.com

    Anhang:

    Foto: Screenshot Social Media

    30 October 2024, 1:18 pm
  • 17 minutes 13 seconds
    General a. D. Harald Kujat: „Selenskyjs Drohung hätte eine harte Reaktion des Westens erfordert“

    Der „Siegesplan“ des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist eher ein Plan für mehr Eskalation als für ein Ende des Krieges. Das erklärt der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Harald Kujat. Er macht auf die möglichen Konsequenzen ebenso aufmerksam wie auf die zurückhaltenden Reaktionen im Westen. Im Interview geht er auf Selenskyjs Drohung mit möglichen ukrainischen Atomwaffen sowie auf die Änderungen der russischen Nukleardoktrin ein. Das Interview mit General a. D. Harald Kujat führte Éva Péli.

    Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

    Éva Péli: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat kürzlich seinen „Siegesplan“ öffentlich gemacht. Wie beurteilen Sie diesen Plan?

    Harald Kujat: Es kann nicht mehr länger geleugnet werden, dass die Lage der Ukraine täglich schwieriger wird. Das politische Ziel der Ukraine, die territoriale Integrität des Landes in den Grenzen von 1991 mit militärischen Mitteln wiederherzustellen, ist unerreichbar. Die ukrainischen Streitkräfte befinden sich in einer kritischen Lage, die von Tag zu Tag unhaltbarer wird.

    Die russischen Streitkräfte sind seit Monaten auf dem Vormarsch und drängen die ukrainischen Verteidiger langsam, aber unaufhaltsam zurück. Russland nähert sich zusehends seinem Ziel, die vier annektierten Regionen in ihren früheren Verwaltungsgrenzen vollständig zu erobern.

    Die westlichen Unterstützer der Ukraine verfügen über keine Strategie zur Beendigung des Krieges. Sie liefern weiter wie bisher Waffen und subventionieren die ukrainische Regierung, obwohl sich die Lage der Ukraine trotz dieser massiven Unterstützung seit Beginn des Krieges kontinuierlich verschlechtert hat.

    Die militärische Entwicklung setzt die ukrainische Regierung ebenso unter Zeitdruck wie das Risiko, dass die US-amerikanische Hilfe nach dem 5. November mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten beendet werden könnte. Zwar kann ein Großteil der Lasten auf die Europäer abgewälzt werden, aber vieles von dem, was die USA der Ukraine über Geld und Waffen hinaus für die Kriegführung zur Verfügung stellen, können die Europäer nicht leisten.

    In dieser Situation hat der ukrainische Präsident für seinen „Siegesplan“ geworben, dessen Ziel es nach seinen Worten ist, stark genug zu sein, um den Krieg zu beenden. Er hat in diesem Zusammenhang erklärt, dass die NATO für das Überleben der Ukraine entscheidend sei. Offenbar sieht Selenskyj das direkte militärische Eingreifen der NATO in den Krieg als einzigen Ausweg aus der sich anbahnenden Katastrophe. Deshalb verlangt er die Lieferung und Freigabe weitreichender westlicher Waffensysteme für den Einsatz gegen Ziele in der Tiefe Russlands und eine bedingungslose NATO-Mitgliedschaft.

    Der Bundeskanzler hat wohl verstanden, welche Konsequenzen es hätte, auf diese Forderungen einzugehen. Er äußerte nach dem Treffen mit Joseph Biden, Emmanuel Macron und Keir Starmer – die ebenfalls nicht bereit waren, Selenskyjs Forderungen zu unterstützen – die Sorge, „dass die NATO nicht zur Kriegspartei wird“ und damit „dieser Krieg nicht in eine noch viel größere Katastrophe mündet“.

    Was halten Sie von der von Selenskyj gewünschten bedingungslosen Einladung in die NATO? Bisher ist die Mitgliedschaft in der NATO an Bedingungen geknüpft, die die Kandidaten erfüllen müssen.

    Selenskyj fordert eine Einladung, der NATO noch vor Ende des Krieges beizutreten, was gleichbedeutend mit dem sofortigen militärischen Eingreifen der NATO an der Seite der Ukraine in den Krieg gegen Russland wäre. Später relativierte er seine Forderung und verlangte zumindest eine förmliche Einladung zum Beitritt noch während des Krieges.

    Der NATO-Vertrag lässt jedoch weder zu, dass die Mitgliedstaaten den Angriff Russlands auf die Ukraine als Angriff auf alle Verbündeten betrachten, noch können die Verbündeten daran interessiert sein, den Ukraine-Krieg auf ganz Europa auszuweiten. Aber auch grundsätzlich ist eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, jedenfalls für die vorhersehbare Zukunft, ausgeschlossen – vorausgesetzt, alle Verbündeten halten sich an den NATO-Vertrag.

    Die Nordatlantische Allianz ist ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Deshalb muss jedes neue Mitglied einen Beitrag zur Sicherheit aller Mitgliedstaaten leisten. Für die Ukraine gilt das Gegenteil, denn die Allianz würde das Risiko eingehen, einen Konflikt mit Russland zu importieren. Das ist während des andauernden Krieges offensichtlich, gilt jedoch auch unabhängig davon für die Zukunft.

    Mitglied kann zudem nur ein Staat werden, der von allen Mitgliedstaaten im Konsens dazu eingeladen wird. Dieser Konsens besteht nicht, denn mehrere Staaten – darunter auch die USA – sind dazu nicht bereit. Präsident Biden hat bereits am 4. Juni in einem Interview des Time Magazine erklärt, dass die USA ihre Beziehungen zur Ukraine wie zu anderen Staaten gestalten werden, denen sie Waffen liefern, damit sie sich verteidigen können, „und dass ich nicht bereit bin, die Natoisierung der Ukraine zu unterstützen.“

    Auf dem letzten NATO-Gipfel haben sich zwar alle Staats- und Regierungschefs für die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ausgesprochen. Aber statt der geforderten Einladung haben sie einen unmissverständlichen Vorbehalt geäußert, indem sie bekräftigten, die Ukraine nur dann einzuladen, der Allianz beizutreten, „wenn die Verbündeten zustimmen und die Bedingungen erfüllt sind“. Den schwarzen Peter schob Selenskyj der Bundesregierung zu, die „einen NATO-Beitritt mit Skepsis sieht. Wir werden hart arbeiten müssen mit der deutschen Seite, aber die USA werden da Einfluss haben.“ Es ist nicht bekannt, wie die Bundesregierung darauf reagiert hat.

    Wie bewerten Sie es, dass Selenskyj entweder eine NATO-Mitgliedschaft fordert oder eigene Atomwaffen?

    Selenskyj hat diese Forderung auf dem EU-Gipfel später etwas relativiert. Er hat jedoch bereits am 19. Februar 2022 auf der Münchner Sicherheitskonferenz Andeutungen in diesem Sinne gemacht, indem er ankündigte, dass die Ukraine möglicherweise das Budapester Memorandum von 1994 infrage stellen könnte, falls sie keinen effektiven Schutz vor einer russischen Aggression erhält. In Wahrheit kann die Ukraine allenfalls ihren Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag und zum Teststopp-Vertrag in Frage stellen, der in diesem Zusammenhang erfolgte, jedoch nicht die einseitigen Willenserklärungen der Nuklearmächte.

    Bei allem Verständnis für die verzweifelte Lage der Ukraine ist das eine Drohung, die eine harte Reaktion des Westens erfordert hätte. Sie wirft ein Licht auf die Unberechenbarkeit des ukrainischen Präsidenten und die politischen Beschränkungen, die sich der Westen mit seiner So-lange-wie-nötig-Politik auferlegt hat.

    Übrigens erwähnte Selenskyj wieder den angeblichen Verzicht der Ukraine auf Nuklearwaffen im Zusammenhang mit dem Budapester Memorandum, indem er behauptete: „Wir haben unsere Nuklearwaffen abgegeben, aber dafür keinen NATO-Beitritt bekommen.“ Die auch im Westen immer wieder geführte Diskussion über die nuklearen Kapazitäten, über die die Ukraine verfügen könnte, hätte sie nicht darauf verzichtet, ist eine unhaltbare Spekulation. Nach der Auflösung der Sowjetunion befand sich zwar noch eine erhebliche Zahl ihrer Nuklearwaffen auf ukrainischem Territorium, aber die Ukraine hatte keine Verfügungsgewalt über diese Systeme. Die nuklearen Gefechtsköpfe und Trägersysteme blieben unter der operativen Kontrolle Russlands. Russland verfügte nach wie vor über die für den Einsatz erforderlichen Kommandostrukturen, Einsatzverfahren und technischen Mittel wie beispielsweise die PAL-Codes (Permissive Action Links), ohne deren Kenntnis die Waffensysteme deaktiviert und funktionsunfähig bleiben.

    In dieser Umbruchphase war die Sorge groß, Nuklearwaffen oder entsprechende Technologien könnten in falsche Hände geraten. Dies zu verhindern, war das eigentliche Ziel des Budapester Memorandums, das den Beitritt der Ukraine zum Nichtverbreitungsvertrag und zum Teststopp-Vertrag voraussetzte.

    Wir haben in dieser Zeit mit der russischen Regierung Gespräche über die Sicherheit der Kernwaffen geführt, in deren Folge die Bundesregierung erhebliche Mittel dafür bereitstellte. Im Übrigen hätte die Ukraine den gewaltigen finanziellen Aufwand und die speziellen technischen Kapazitäten für den Unterhalt des Nuklearpotenzials und der Trägersysteme gar nicht leisten können.

    Wie ist die von Selenskyj gewünschte Ausweitung des Krieges auf das russische Gebiet zu bewerten?

    Der britische Premierminister Keir Starmer hat diese Frage zu seinem Hauptanliegen bei seinem Antrittsbesuch am 13. September in Washington gemacht. Großbritannien war dazu bereit, Frankreich unter bestimmten Auflagen. Starmer wollte jedoch ausdrücklich Bidens Zustimmung einholen, um eine gemeinsame Strategie der USA, Großbritanniens und Frankreichs in dieser Frage zu schmieden. Präsident Biden war dazu bisher nicht bereit, um, wie er mehrfach sagte, einen „dritten Weltkrieg zu vermeiden“.

    In der Tat könnten erneute Angriffe mit leistungsfähigen westlichen Systemen auf das nuklearstrategische Frühwarnsystem oder Flugplätze der strategischen Bomberkräfte Russlands – mit Drohnen hat die Ukraine derartige Angriffe bereits durchgeführt – zu einer Eskalation des Krieges auf die Ebene der beiden nuklearen Supermächte und zu einer direkten militärischen Konfrontation führen. Präsident Biden will dieses Risiko offenbar auch in Zukunft vermeiden. Deshalb erbrachte das Gespräch kein Einvernehmen, und der britische Premierminister erklärte danach lapidar: „Wir hatten eine umfassende Diskussion über Strategie.“

    Genau das ist des Pudels Kern: Es geht nicht um eine völkerrechtliche, sondern eine entscheidende strategische Frage. Denn völkerrechtlich ist ein Angriff der Ukraine auf das Gebiet des Angreifers selbstverständlich erlaubt. Die Ukraine ist jedoch für die Einsatz- und Zielplanung von Angriffen mit westlichen weitreichenden Waffensystemen auf strategische Ziele im russischen Hinterland völlig auf die Unterstützung westlicher Spezialisten angewiesen. Wer diese Unterstützung personell und materiell leistet, macht einen großen Schritt in Richtung direkter Kriegsbeteiligung.

    Die US-amerikanische Regierung fürchtet offenbar, dass Russland dann mit gleicher Münze zurückzahlen und beispielsweise den Iran in die Lage versetzen könnte, US-amerikanische Stützpunkte und militärische Kräfte im Mittleren Osten anzugreifen, oder dass es sogar zu einer direkten militärischen Konfrontation, einem Krieg zwischen Russland und der NATO kommt.

    Eine rationale strategische Bewertung der Zweck-Mittel-Relation zeigt übrigens, dass der Einsatz weitreichender westlicher Waffensysteme weder geeignet ist, die Bedrohung durch russische Gleitbomben-Angriffe abzuwenden, noch eine Änderung der strategischen Lage zugunsten der Ukraine herbeizuführen.

    Was halten Sie davon, wenn die Ukraine nach dem Krieg, wie von Selenskyj vorgeschlagen, als Europäische Sicherheitsmacht auftritt?

    Welchen Platz die Ukraine in einer künftigen europäischen Sicherheits- und Friedensordnung einnehmen wird, hängt davon ab, wie der Ukraine-Krieg endet. Zunächst geht es darum, dass die Ukraine als unabhängiger Staat überlebt und – wie Henry Kissinger einmal schrieb – nicht als Vorposten der einen oder anderen Seite dient, sondern als Brücke beide verbindet. Im Übrigen kann die Ukraine nicht einmal sich selbst schützen und wird auch in Zukunft auf Sicherheitsgarantien anderer Staaten angewiesen sein.

    Welche Aussichten für ein Kriegsende durch Verhandlungen sehen Sie angesichts der von Selenskyj geforderten weiteren Eskalation? Gibt es derzeit noch welche?

    Der Bundeskanzler hat am 8. September in einem Interview erklärt: „Ich glaube, das ist jetzt der Moment, in dem man auch darüber diskutieren muss, wie wir aus dieser Kriegssituation doch zügiger zu einem Frieden kommen, als das gegenwärtig den Eindruck macht.“ Damit lässt er erkennen, dass Selenskyj ihn in einem zuvor geführten Vier-Augen-Gespräch über den Ernst der Lage informiert hat und dieser nach einem Ausweg aus der kritischen militärischen Lage sucht. „Jetzt“ bedeutet, dass es gilt, keine Zeit zu verlieren.

    Seit Beginn des Krieges hat der „kollektive Westen“ die ukrainischen Streitkräfte mit immer leistungsfähigeren Waffen beliefert, sie systematisch ausgebildet und im weitesten Sinne unterstützt. Trotzdem ist die Lage kontinuierlich schlechter geworden, und die Fortsetzung dieses Weges könnte für die Ukraine in einer militärischen Niederlage enden.

    Allerdings setzt der Bundeskanzler darauf, der sogenannte Selenskyj-Friedensplan könnte Erfolg haben, wenn Russland zu der nächsten Gipfelkonferenz eingeladen wird. Wer sich näher mit diesem Plan beschäftigt, wird jedoch feststellen, dass er eine Sackgasse ist, was bereits die letzte Konferenz in der Schweiz für jedermann erkennbar gezeigt hat. Und zu ernsthaften bilateralen Verhandlungen ist Selenskyj offenbar nicht bereit. Zumindest ist das Dekret des ukrainischen Präsidenten vom 4. Oktober 2022, das Verhandlungen mit Russland, zumindest mit Putin, untersagt, bisher nicht aufgehoben worden.

    Dem Bundeskanzler ist allerdings zuzustimmen, dass die Zeit drängt. Die Annahme, die ukrainischen Streitkräfte könnten die Oberhand gewinnen und damit die ukrainische Ausgangslage für Verhandlungen mit Russland verbessern, wenn der Krieg wie bisher mit oder ohne US-amerikanische Unterstützung fortgesetzt wird, ist unseriös. Nur ein baldiger Waffenstillstand und Friedensverhandlungen könnten eine militärische Niederlage verhindern.

    Ich bin der festen Überzeugung, dass der chinesische Vorschlag, der den Vorteil hat, dass beide Seiten ihre Vorbedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen zurückstellen und Verhandlungen wieder aufnehmen, wo sie im April 2022 abgebrochen wurden, der gegenwärtig einzige realistische Ansatz ist. Putin hat den chinesischen Vorschlag mehrfach akzeptiert und die Wiederaufnahme der Istanbuler Verhandlungen angeboten.

    Russland hat seine Nukleardoktrin modifiziert. Wie bewerten Sie das? Erhöht das die Gefahr eines Atomkrieges?

    Mein Eindruck ist, dass der ukrainische „Siegesplan“ für Russland – insbesondere der geforderte NATO-Beitritt und die mögliche Lieferung und Freigabe des Einsatzes westlicher weitreichender Waffensysteme gegen strategische Ziele in der Tiefe Russlands – der Anlass ist, öffentlich eine Änderung der Nukleardoktrin anzukündigen. Die Änderung besteht in der Erweiterung des Spektrums militärischer Bedrohungen, gegen die Nuklearwaffen abschrecken sollen.

    Grundsätzlich bleibt es jedoch dabei, dass der Einsatz von Nuklearwaffen, „die äußerste Maßnahme zum Schutz der staatlichen Souveränität“, nur als Reaktion auf einen Angriff mit Nuklearwaffen und im Falle einer existenziellen Bedrohung durch einen konventionellen Angriff erwogen wird. Putin nannte beispielsweise massive Luftangriffe mit Kampfflugzeugen sowie Angriffe mit Marschflugkörpern, Hyperschallwaffen und Drohnen.

    Russland und die USA wollen einen Krieg zwischen den beiden Nuklearmächten, also auch einen Krieg zwischen Russland und der NATO, vermeiden. Beide wissen, was ein Nuklearkrieg bedeutet. Die angekündigte Änderung der russischen Nukleardoktrin dient deshalb der Abschreckung und ist in diesem Zusammenhang zu sehen.

    Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz fordert, Marschflugkörper „Taurus“ einzusetzen, wenn Russland nicht aufhört, zivile Objekte in der Ukraine zu beschießen. Was halten Sie davon?

    Ich möchte diese Aussage nicht kommentieren, sondern eine grundsätzliche Anmerkung machen. Jeder Leutnant weiß, dass eine Lagebeurteilung ohne Emotionen, rational und vorurteilsfrei erfolgen und die Optionen beziehungsweise Reaktionen des Gegners, seine Fähigkeiten und Absichten in die eigenen Handlungsoptionen einbezogen und bei den Entscheidungen berücksichtigt werden müssen. Das haben die USA getan und sich entschieden, weder Waffensysteme mit einer größeren Reichweite zu liefern noch die Reichweitenbeschränkungen für die bereits der Ukraine zur Verfügung gestellten Waffen aufzuheben. Dabei spielte auch eine Rolle, dass der Einsatz weitreichender Waffen keine Änderung der strategischen Lage zugunsten der Ukraine bewirken würde, jedoch das Risiko einer Ausweitung des Krieges groß ist.

    Ich denke, die Äußerungen des Bundeskanzlers zu dieser Frage zeigen, dass die Bundesregierung mit ihrer Lagebeurteilung zum gleichen Ergebnis gekommen ist. Deshalb hat der Bundeskanzler eine rationale, strategisch richtige Entscheidung getroffen und abgelehnt, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper für Angriffe gegen strategische Ziele auf russischem Territorium zu liefern. Offenbar ist auf dem kürzlichen Vierertreffen mit den Präsidenten Biden und Macron sowie dem britischen Premierminister Starmer ein Einvernehmen erzielt worden, Selenskyjs Forderung abzulehnen.

    Titelbild: Screenshot WDR Panorama

    30 October 2024, 10:39 am
  • 17 minutes 8 seconds
    Deutschlandfunk und Corona-Aufarbeitung: Erkenntnisschwäche und fehlender Mut in einem aktuellen Kommentar

    „Umgang mit Kritikern – wie sich Antisemitismus- und Coronadebatte gleichen!“ – so lautet ein aktueller Deutschlandfunk-Kommentar. Der Grundgedanke hinter dem Beitrag ist richtig. Eine grundlegende Erkenntnisschwäche und fehlender Mut prägen leider den Beitrag. Journalistische Schwächen werden sichtbar. Eine Kritik. Von Marcus Klöckner.

    Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

    Für das politische Feuilleton des Deutschlandfunk Kultur hat Markus Grill einen Beitrag abgeliefert, der auf ein grundlegendes Problem aufmerksam macht. Beim Umgang mit Kritikern zum Thema Antisemitismus und Corona läuft etwas aus dem Ruder, sagt der Chefreporter der Investigativressorts von NDR und WDR. Grill vertritt die Auffassung, dass es falsch sei, fundierte Kritik an der Coronapolitik, aber auch an Israel, durch pauschale Vorwürfe abzuwerten. Wer Israel für seine Politik gegenüber Palästina kritisiere, sei nicht zwangsläufig Antisemit. Wer einzelne Coronamaßnahmen kritisiere, sei kein Corona-Leugner. Das klingt vernünftig. Und damit hat Grill auch recht. Würde der Journalist diese Erkenntnis auf ein breiteres Fundament gießen, wäre der Weg zur vollständigen Erfassung des Problems bereitet. Doch genau das passiert nicht.

    Von der ersten Sekunde der Anmoderation krankt der Beitrag an einem verengten Blick. Der Kommentar beginnt mit der Anmoderation: „Aus Fehlern lernt man, heißt es ja so schön. Aber mit Blick auf die Coronazeit müsste man vielleicht ergänzen: lernt man oft nicht viel.“ Hier kommt ein grundlegendes Erkenntnisproblem zum Vorschein, das immer wieder in der aktuellen Debatte um das Thema Aufarbeitung der Coronazeit zu finden ist.

    Zum Verständnis: Wir sprechen hier von einer grundsätzlichen Einordnung der Coronapolitik – die für die Art und Weise der Aufarbeitung maßgeblich ist. Konkret: Geht es bei der Aufarbeitung der Coronazeit nur um Fehler? Wer das meint, hat die Grundproblematik nicht verstanden.

    Richtig ist: In der Coronazeit haben Politiker Fehler gemacht. Daran bestehen wohl keine ernstzunehmenden Zweifel mehr. Doch Fehler sind menschlich. Fehler – unabhängig davon, wie weitreichend und schwerwiegend sie auch sind – passieren. Um es salopp zu sagen: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Wo Politiker Entscheidungen treffen, treffen sie auch Fehlentscheidungen. Je mehr Verantwortung jemand trägt, umso weniger Fehler sollte er natürlich machen. Aber das zu sagen, ist wohlfeil. Egal auf welcher Verantwortungsebene Menschen sich bewegen: Fehler passieren.

    Doch was wäre überhaupt ein Fehler im Hinblick auf die Coronapolitik? Ein Fehler wäre zum Beispiel Folgendes: Politiker beraten sich nach bestem Wissen und Gewissen mit Wissenschaftlern, denen sie aus gut nachvollziehbaren, aus rein an der Sache des Gemeinwohls orientierten Gründen Vertrauen schenken. Auf die Einlassungen und Empfehlungen dieser Experten hin ergreifen sie, in Verbindung mit ihrer politischen Verantwortung, Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass diese Wissenschaftler mit Einschätzungen und Empfehlungen falsch lagen. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass Politiker besser auf Stimmen von außerhalb hätten hören sollen, die eine andere Maßnahmenpolitik angeraten hatten. Das heißt: Politiker gestehen sich vielleicht ein, dass sie zu engstirnig waren, zu sehr mit Blickschutz gearbeitet haben. Daraus ist eine fehlerhafte Politik entstanden. Oder anders gesagt: Sie haben sich fehlerhaft verhalten, haben Fehler gemacht.

    Diese Ebene des „Fehlerhaften“ in der Pandemiepolitik gab es. Mit diesen Fehlern muss – im Sinne der Demokratie – transparent umgegangen werden. Daraus gilt es für Politiker, je nach Tragweite, auch persönliche Schlüsse zu ziehen. Dazu gehören etwa die öffentliche Bitte um Verzeihung oder Rücktritte.

    Hingegen kein Fehler war es, wenn Verantwortliche der Coronapolitik Coronamaßnahmen nicht auf dem immer wieder öffentlich proklamierten Slogan „follow the science“, also „folge der Wissenschaft“, gebaut haben, sondern auf Politik. Die geleakten Protokolle des Robert Koch-Instituts bieten einen Einblick, wie „wissenschaftlich“ so manche Entscheidung war.

    Es war auch kein Fehler, über das Druckmittel „Grundrechte“ Ungeimpfte gegen ihren Willen zu einer Coronaimpfung zu bewegen, ja, in gewisser Weise sie sogar zu zwingen. Und erst recht war die furchtbare Hetzjagd gegen Ungeimpfte, vollzogen von Politikern, Journalisten und Experten, kein Fehler.

    Es war kein Fehler, Ungeimpfte als „gefährliche Sozialschädlinge“ zu bezeichnen. Es war nicht einfach nur ein „Fehler“, wenn in einem der reichweitenstärksten Magazine des Landes ein Kolumnist sagen darf: „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“

    Der für viele Bürger spürbare Moment des Autoritären, des Totalitären und, ja, auch wenn viele das nicht hören wollen: des Faschistoiden, war auch nicht einfach nur ein „Fehler“. Wenn Menschen aus unserer Familie und aus unserer Mitte – das heißt: Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Kinder, Nachbarn – alleine, ohne ihre Nächsten im Krankenhaus sterben mussten, wenn Angehörige keinen Abschied von ihren Lieben nehmen durften, dann war das kein Fehler. Das war eine herzzerreißende Unmenschlichkeit. Und wenn die Politik der harten Hand die Auffassung vertrat, dass es nicht ausreicht, wenn von 100 Bürgern in einem Geschäft 99 eine Maske tragen, sondern dass es immer alle sein müssen, dann war das auch kein Fehler – eine Politik kam zum Vorschein, der die Lust am Autoritären anzumerken war.

    Mit anderen Worten: Der Deutschlandfunk lenkt in seinem Beitrag die Aufmerksamkeit auf die Ebene der Fehler – aber er ignoriert eine viel tiefere, weitreichendere Dimension der Pandemiepolitik. Und damit gerät der abgelieferte Journalismus, der nur einen Teil der Problematik sichtbar macht, sofort in eine schwere Schieflage.

    Das Erkenntnisproblem und damit das journalistische Problem verbinden sich in dem Kommentar und entfalten sich. Um nochmal die zitierte Stelle anzuführen: „Aber mit Blick auf die Coronazeit müsste man vielleicht ergänzen: lernt man oft nicht viel“, heißt es.

    Das ist ein Anflug von Kritik. Gut, prima! Vielleicht, oder: sehr wahrscheinlich sind diese Worte auch schon das Maximale, was im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von einer Mitarbeiterin an Kritik bei der Anmoderation eines solchen Beitrags geleistet werden kann.

    „Immerhin!“, möchte der Kritiker sagen. Aber Wohlwollen fällt schwer. Den Sätzen ist anzumerken, wie vorsichtig die Formulierungen sind. Wohlgemerkt: Es geht „nur“ um die Ebene der Fehler, nicht um das wirklich Eingemachte. Und dennoch traut sich der Deutschlandfunk nur, von einem „müsste man vielleicht ergänzen“ zu sprechen. „Müsste“? „Vielleicht“? Warum das denn? Was gibt es da denn an „vielleicht“ zu „ergänzen“? Schließlich: Echtes Problembewusstsein für gemachte Fehler ist in der Politik kaum zu erkennen. Gerade erst hat der Bundeskanzler in einem Interview sogar seine Aussage bekräftigt, wonach es keine „roten Linien“ geben dürfe.

    Es gibt hier kein „Vielleicht“. Nein, es ist journalistische Pflicht, zu „sagen, was ist“. Und das bedeutet an dieser Stelle, mindestens, zu sagen, dass zu viele Politiker nicht aus den Fehlern gelernt haben, ja, dass sogar eine unverschämte Ignoranz zum Vorschein kommt.

    Und dann ist da dieses Indefinitpronomen „man“. „Lernt man oft nicht viel“, sagt die Moderatorin. Hier wäre es dringend und zwingend aus journalistischer Sicht angebracht, die Verantwortlichen, die Ignoranten, konkret im Sinne bester journalistischer Sorgfaltspflicht beim Namen zu nennen. Und nicht ihnen dabei zu helfen, sich hinter dem „man“ zu verstecken.

    Nun ist bisweilen das Wörtchen „man“ bequem und mitunter drängt es sich einfach aus dem Fluss der deutschen Sprache auf. Es soll bei dieser Kritik gewiss nicht darum gehen, Haare zu spalten. Würde Grill im weiteren Verlauf seines Kommentars Ross und Reiter nennen, ließe sich leicht über das „man“ hinwegsehen. Aber das „Unbestimmte“, das in dem Gebrauch des Begriffs „man“ zum Vorschein kommt, ist richtungsweisend für den Beitrag.

    „Es gibt Fehler aus der Coronapandemie, die muss man gar nicht groß aufarbeiten, weil sie so offensichtlich sind. Dazu gehört die Verengung des Meinungskorridors und die Ausgrenzung von Kritikern der Coronapolitik.“ Damit hat Grill sicherlich recht. Doch er führt hier die Fokussierung auf „Fehler“ weiter. Viele derjenigen, die eine Aufarbeitung der Coronamaßnahmen fordern, reagieren überaus verärgert, wenn sie den Begriff „Fehler“ hören. „Fehler“ waren ein großes Ärgernis. Aber das Problem geht, wie gesagt, tiefer.

    Hinzu kommt: In den vergangenen Jahren ist viel passiert. Viel Zeit ist vergangen. Jetzt, sozusagen: wie die alte Fastnacht, sagt Grill das, was längst doch ohnehin jeder weiß. Was also macht der Deutschlandfunk hier? Alte Erkenntnisse nun „todesmutig“ aussprechen? Unfreiwillig bietet der Kommentar den Blick auf den Abgrund des öffentlich-rechtlichen Journalismus. Warum hat Grill das Grundproblem nicht schon 2020, 2021, 2022 auf diese Weise in einem Kommentar angesprochen? Zu dieser Zeit äußerte sich Grill auf Twitter mit den Worten, dass bei den „Protesten gegen Ausgrenzung zu viele Vollidioten, Gewaltbereite und Rechtsextreme“ zu finden seien. Das Problem ist offensichtlich.

    Grill weiter:

    „Zwar gab es schon von Beginn der Pandemie selbsternannte Querdenker, die leugneten, dass es überhaupt eine Pandemie gab, doch sie waren nicht das Problem. In jeder Gesellschaft gibt es ein paar Narren, die man aushalten muss. Das Problem war, dass sehr schnell auch seriöse Zweifel am nutzen bestimmter Pandemiemaßnahmen ins Querdenkerlager abgedrängt wurden. Wissenschaftler, die bis Dato angesehen waren, wurden verächtlich gemacht, weil sie nicht jede Maßnahme als alternativlos hinnehmen wollten. Exemplarisch für diesen Extremismus, angeblich im Namen der Wissenschaft, war ein Spiegel-Interview, in dem die skeptischen Virologen Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streek schlimmer als die Coronaleugner bezeichnet wurden. Ausgerechnet jene Medien, die zuvor auf ihre liberale Tradition stolz waren, haben sich zum Lautsprecher pseudo-wissenschaftlicher Pandemiebekämpfungsstrategien wie Zero Covid gemacht (…).
    Auch Politik und Wissenschaft haben in dieser Zeit enormes Vertrauen verspielt; sie haben die Spaltung der Gesellschaft befördert, weil sie jene, die zurecht auf die fehlende Evidenzbasiertheit vieler Entscheidungen hinwiesen, immer mehr in die Ecke der Verschwörungstheoretiker drängten. Und heute? Hat man aus dieser Zeit wirklich etwas gelernt? Nein! Mit Blick auf Israels Krieg in Gaza laufen wir Gefahr, die gleichen Fehler zu machen, wie während der Pandemie. (…). Ja, es gibt heute einen massiven und wachsenden Antisemitismus in Deutschland – ähnlich wie es auch in der Pandemie echte Verschwörungstheoretiker gab. (…).“

    Dieser Abschnitt soll wohl das kritische Kernstück des Kommentars sein. Trotz einiger richtiger Aussagen und auch scharfer, klarer Formulierungen, die sich lobend hervorheben lassen, ist er eine journalistische Zumutung.

    Aus stilistischer Sicht fallen zunächst Passiv-Konstruktionen auf.

    • ins Querdenkerlager abgedrängt wurden
    • Wissenschaftler (…) wurden verächtlich gemacht
    • schlimmer als die Coronaleugner bezeichnet wurden.

    Drei Mal „wurden“, also Passiv hintereinander – das ist stilistisch schwach, allerdings geht es nicht um eine Stilkritik. Das Problem ist, dass hier das stilistische Problem die inhaltlichen Schwächen widerspiegelt. Wie schon angesprochen: Dem Beitrag mangelt es daran, dass Grill nicht die verantwortlichen Akteure mit Namen benennt. Und so korrespondieren die Wörter „wurde“ und „man“ in gefälliger Weise miteinander. Das eine baut auf das andere – und am Ende stehen da – vage und irgendwie unbestimmt – „Politik“ und „Wissenschaft“, die eben Fehler gemacht haben.

    Wenn Grill davon spricht, dass Kritiker der Maßnahmen ins „Querdenkerlager abgedrängt wurden“, dann gilt es, ihm zu sagen: dieses „abgedrängt wurden“ ist im Hinblick auf eine akkurate, auflösungsstarke journalistische Beschreibung der Realität ziemlich wichtig. Was sich da einige erlaubt haben, muss aus der Passivkonstruktion raus.

    Immerhin erwähnt Grill konkret den Spiegel. An dieser Stelle hat der Kommentar auch eine Stärke. Genauso, wie er zum Thema Antisemitismus zum Ende hin noch die Bild-Zeitung und den „Kanzler“ kritisiert. Auch das ist gut. Aber das ist in der Summe in so einem Kommentar zu wenig. Die Namen fehlen. Warum nennt Grill nicht Landespolitiker, wie etwa Kretschmann, der in der Coronazeit etwa sagte: „Wir müssen im Notfall Menschen mit Geldauflagen zum Impfen bewegen“, und der auch im Parlament vom Leder zog, dass es nur so krachte. Oder: Warum zeigt der Journalist nicht auf, wer beim Öffentlich-Rechtlichen Stimmung gegen die Grundrechtsdemonstranten gemacht hat? Und, wer hat denn gesagt: „Na herzlichen Dank! An alle #Ungeimpften. Dank euch droht der nächste Winter im #Lockdown“ (…)“?

    Von intellektueller Zurückhaltung zeugt die Aussage Grills, dass es in der Pandemie „echte Verschwörungstheoretiker“ gegeben habe. Grill sagt das in einem Ton, in dem eine gewisse Anklage mitschwingt. Der Journalist benutzt hier distanzlos eine Formulierung, die als Kampfbegriff bei der Auseinandersetzung um die Definitionshoheit seit vielen Jahren schweren Schaden anrichtet. Wie kann ein Journalist, einerseits, die Delegitimierung von Kritikern durch Antisemitismus- und Querdenkervorwürfe anprangern, aber, andererseits, gleichzeitig selbst einen Kampfbegriff verwenden, der Personen pauschal abwertet, die irgendwas mit Verschwörungstheorien „zu tun“ haben?

    Zunächst drängt sich die Frage auf: Was soll denn überhaupt ein „echter“ Verschwörungstheoretiker sein? Gibt es dann also auch „unechte“ Verschwörungstheoretiker? So wie Grill an dieser Stelle spricht, drängt sich der Verdacht auf, dass „echte Verschwörungstheoretiker“ wohl irgendwie – wie soll man sagen? – ein großes Problem sind, eben wie echter Antisemitismus.

    Das ist ärgerlich und auf Reflexionsebene schwach. Was ist daran ein Problem, wenn ein (echter) Verschwörungstheoretiker davon ausgeht, dass X und Y sich verschworen haben, um Z zu schädigen? Das ist völlig legitim. Ob eine solche Verschwörungstheorie nun völlig „abwegig“ ist, ob sie bewusst zur Diskreditierung eines Menschen in die Welt gesetzt wird, oder was auch immer an Negativem angeführt werden kann, steht auf einem anderen Blatt.

    Hinzu kommt: Setzt Grill hier ernsthaft Antisemitismus mit „echten Verschwörungstheoretikern“ gleich? Danach klingt es. Grill will in seinem Kommentar differenzieren, aber an dieser unscheinbaren Stelle verdichtet sich das ganze Problem eines Kommentars, der viel zu spät kommt, der immer noch nicht richtig den Gegenstand der Auseinandersetzung durchdrungen hat und so letztlich weder Fisch noch Fleisch ist.

    Titelbild: Bohbeh/shutterstock.com

    30 October 2024, 9:00 am
  • 8 minutes 36 seconds
    BSW-Machtkampf: „Auf dem besten Weg, das BSW zu einer Partei zu machen, von der es nicht noch eine braucht“

    Gegen das Verhalten des Thüringer BSW-Landesverbandes bei den Sondierungen für eine mögliche Koalition gibt es scharfen Gegenwind – auch von der Bundesebene der Partei. Zu Recht, wie ich finde. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

    Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

    Für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) gehen in Sachsen in dieser Woche die Sondierungsgespräche mit CDU und SPD weiter. In Brandenburg einigte sich die Partei mit der SPD schon auf ein Papier, um nun in Koalitionsverhandlungen einzusteigen, in dem es heißt, die Stationierung von US-Raketen „auf deutschem Boden“ sehe man „kritisch“, es brauche mehr „Abrüstung und Rüstungskontrolle“.

    Die Thüringer BSW-Spitze um Katja Wolf einigte sich dagegen mit CDU und SPD nur auf die Feststellung, sich in der Außenpolitik uneins zu sein, wie die Welt berichtet:

    „‚CDU und SPD sehen sich in der Tradition von Westbindung und Ostpolitik. Das BSW steht für einen kompromisslosen Friedenskurs’, heißt es in der am Montag verkündeten Einigung. Zu Waffenlieferungen an die Ukraine sei man unterschiedlicher Meinung, aber für Frieden seien eben alle. Uneinigkeit in der Außenpolitik, aber Weg frei für die Landespolitik.“

    Sahra Wagenknecht bezeichnete die Thüringer Einigung im Spiegel sowie den Vorgang, dass das Thüringer BSW mit den anderen Landtagsfraktionen zuletzt gegen die AfD vorgegangen war, als „Fehler“: „Wenn CDU und SPD den Eindruck bekommen, dass das Thüringer BSW sich elementare Positionen wegverhandeln lässt, macht das gute Koalitionsverhandlungen nicht leichter.“ Man hätte sich am „in Brandenburg gefundenen Kompromiss“ orientieren sollen.

    Doch nicht nur in der Friedensfrage, auch in der Thüringer Landespolitik bleibe das Sondierungspapier hinter ihren Erwartungen zurück, sagt Wagenknecht gegenüber der Welt. „Es ist vor allem da stark, wo wir uns mit der CDU einig sind“, also bei Fragen der Migrationspolitik und der inneren Sicherheit. Beim „sozialen Wohnungsbau, dem Erhalt der Krankenhäuser, einem Corona-Amnestie-Gesetz oder einer besseren Kontrolle des Verfassungsschutzes“ falle man hinter die eigenen Ansprüche zurück. „Da muss bei den Koalitionsverhandlungen noch viel erreicht werden, wenn wir unsere Wähler nicht massiv enttäuschen wollen“, sagte Wagenknecht demnach am Dienstag. Das Thüringer Sondierungspapier findet sich unter diesem Link.

    Unsere Wähler haben mehr verdient als blumige Worthülsen“

    Sehr deutliche Worte zu den Sondierungen in Thüringen finden die Bundestagsabgeordnete und Parlamentarische Geschäftsführerin Jessica Tatti und der BSW-Schatzmeister Ralph Suikat in einem aktuellen Gastbeitrag bei T-Online:

    Katja Wolf und Steffen Schütz sind in Thüringen auf dem besten Weg, das BSW zu einer Partei zu machen, von der es nicht noch eine braucht.

    Es könne kein Thüringer BSW geben, das eine CDU-konforme Außenpolitik mittrage und „die von Friedrich Merz theatralisch beschworenen Grundsätze der Union“ stützte, so Tatti und Suikat: „Wir sind keine willfährigen Mehrheitsbeschaffer für Voigt. Wir werden nicht vor Merz kapitulieren.“ Es müsse auch Katja Wolf klar sein: „Wenn wir in eine Regierung gehen, dann für die Bürger und die Inhalte des BSW.“ Zwei Drittel der Menschen in Ostdeutschland würden keine U.S.-Raketen-Stationierung in Deutschland wollen. Sie hätte Auswirkungen auf das ganze Land, auch auf Thüringen. Ob es da so abwegig sei, „dass man als Landesregierung seine Wähler“ vertrete, wird gefragt. Und ob es etwa „eine solche Unverschämtheit“ sei, dass sich „eine Parteivorsitzende für die Versprechen einsetzt, die sie im Wahlkampf gegeben hat“? Die Politiker warnen:

    Katja Wolf und die BSW-Landtagsfraktion begehen einen schweren politischen Fehler, wenn sie sich dem transatlantischen Treueschwur eines Friedrich Merz beugen. Mehr noch, sie tappen in eine Falle.“

    Beim Lesen der Präambel und des Thüringer Sondierungspapiers frage man sich: „Wo sind unsere zentralen Forderungen geblieben?“ Das sei „definitiv nicht das, wofür man all die Anstrengungen und harten Konflikte auf dem Weg aus der ehemaligen Partei bis zur Gründung des BSW auf sich genommen“ habe:

    Es ist auch nicht das, wofür sich neue Leute dem BSW angeschlossen haben und wofür sie sich in unserer Partei mit ganzer Kraft engagieren. Unsere Wähler haben mehr verdient als zwei Seiten voller blumiger Worthülsen.“

    Die Positionen zu Frieden und Corona-Aufarbeitung hätten eine maßgebliche Rolle beim Erfolg des BSW gespielt. Und deshalb müsse sich das in einer möglichen Regierung abbilden, so Tatti und Suikat:

    Ansonsten muss man es sein lassen – und zwar jetzt.

    Kritisch zu den Vorgängen äußerte sich unter anderem auch der BSW-EU-Abgeordnete Friedrich Pürner, der etwa in einem Beitrag bei Tichys Einblick den Abbruch der Koalitionsgespräche fordert.

    Katja Wolf: „Das haben wir hart verhandelt“

    In Erfurt plant BSW-Landeschefin Katja Wolf derweil weitere Gespräche mit CDU und SPD für eine „Brombeer“-Regierungskoalition.

    In sieben Verhandlungsgruppen will man den Koalitionsvertrag erarbeiten – und weist die Kritik aus den eigenen Reihen zurück. „Wir haben mit unserer Präambel gezeigt, wie elementar uns die Friedensfrage ist. Das haben wir hart verhandelt“, sagte Katja Wolf am Dienstag gegenüber der Welt.

    Gefahr der Entzauberung

    Ich stehe Beteiligungen des BSW an Landesregierungen noch eher skeptisch gegenüber, wie ich schon kürzlich im Artikel „Schräges Theater in Thüringen” geschrieben habe – zu groß finde ich noch die Gefahr, dass sich die junge Partei abnutzt, dass sie sehr früh faule Kompromisse eingehen muss und dann leicht angreifbar und zu entzaubern sein wird. Ich sehe die Rolle der Partei (noch) vor allem in einer starken und konsequenten Opposition – auch, weil diese Rolle unter anderem wegen des Ausfalls der Linkspartei sehr lange überhaupt nicht ausgefüllt wurde und eine solche Stimme meiner Meinung nach von vielen Bürgern sehnlichst erwartet wird.

    Das Bild, dass sich das BSW, nur um mitzuregieren, an die (grob zugespitzt formuliert) „Kriegs- und Corona-Parteien“ anbiedert und dafür wichtige Positionen opfert, muss verhindert werden. Sonst ist der wichtige Erfolg bei den kommenden Bundestagswahlen in Gefahr.

    Andererseits möchte niemand destruktiv erscheinen, sich aus der Verantwortung stehlen oder ein Bundesland in die Unregierbarkeit führen – es ist vertrackt und es ist von Fall zu Fall zu entscheiden. So ist Brandenburg bereits anders einzuordnen als Thüringen.

    In Thüringen hat der BSW-Landesverband, anders als etwa in Brandenburg, zuletzt einen verheerenden Eindruck hinterlassen, der zahlreiche BSW-Anhänger geradezu vor den Kopf gestoßen hat. Darum stimme ich auch den oben wiedergegebenen Ausführungen von Tatti und Suikat voll zu.

    Außerdem: Im sich nun entfaltenden innerparteilichen Machtkampf muss sich Katja Wolf bewegen und nicht Sahra Wagenknecht – denn diese formuliert das, was meiner Meinung nach die große Mehrheit der BSW-Wähler denkt. Wolf sollte sich das (schnell) zu Herzen nehmen, denn, um nochmal Tatti und Suikat zu zitieren:

    Wenn die Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht, ist es besser, aus der Opposition heraus gegen die falsche Politik einzustehen, die andere Parteien machen. Das gilt umso mehr für eine so junge Partei.“

    Der Abschluss ist scharf formuliert:

    Wer das nicht kapiert, wird vielleicht schnell Ministerin, ist aber in unserer Partei falsch.“

    Titelbild: Shutterstock / Gorloff-KV

    Mehr zum Thema:

    Schnelle Kritik am Koalitionspapier von Union, BSW und SPD in Sachsen: Die ist billig

    Schräges Theater in Thüringen

    30 October 2024, 8:00 am
  • 7 minutes 53 seconds
    Aufrüstung: Arsenal für die Auslöschung

    Es ist irreführend, die aktuelle Aufrüstung mit dem Ukrainekrieg zu begründen: Die Nutzung von vielem, was Militärs ohnehin schon lange entwickeln lassen, soll nun aber damit legitimiert werden. Die offizielle Erzählung unterschlägt zwar die NATO-Ost-Erweiterung und den Maidan-Putsch von 2014. Aber basierend auf dieser Irreführung gehen die Militärs dennoch ein Endzeitrisiko ein – und nennen das dann auch noch „Sicherheitspolitik“. Hier folgt ein Überblick über die neuesten Werkzeuge des Todes. Von Bernhard Trautvetter.

    Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

    Nach aktuellen Berichten strebt Minister Pistorius den Kauf von 600 Taurus- Marschflugkörpern an. Diese Anschaffung bedeutet die Verdoppelung des Bestandes an diesen Offensivwaffen:

    Die von dem europäischen Rüstungskonzern MBDA entwickelte Waffe ist darauf ausgelegt, hochwertige Ziele hinter feindlichen Linien wie Kommandobunker, Munitions- und Treibstofflager, Flugplätze und Brücken zu zerstören.“

    Die Frage, was haben die Militärs vor, führt zu einer besorgniserregenden Antwort, wenn man sich die weitere europäische NATO-Rüstungsplanung genauer ansieht. Neben dem Panzerprojekt Main Ground Combat System (MGCS), das laut Boris Pistorius das Landkampfsystem der Zukunft ist, sticht das EU-Projekt Future Combat Air System (FCAS) heraus, „das die Vernetzung des Kampfflugzeugs mit unbemannten Komponenten ermöglicht und weiterentwickelte Schlüsseltechnologien nutzt – insbesondere im Bereich Elektronik…“

    Thyssenkrupp Marine Systems (TKMS) feierte im September 2023 den Produktionsstart der „modernsten konventionellen U-Boote der Welt“.

    Die nuklearen US-Arsenale B 61-12, von denen seit 2021 offiziell circa 20 Exemplare in Büchel bei Koblenz liegen, sind laut US-General Cartwright ‚gebrauchsfreudiger‘. Dies liegt daran, dass diese Nuklearbomben keine herkömmlichen Bomben sind, sondern sie werden zwar von Atombombern abgeworfen, fliegen dann aber extrem zielgenau selbstständig mit Zielfindungskopf in ihr Ziel. Sie können mit 0,3 Kilotonnen bis zur eineinhalbfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe dosiert werden. Die ihnen attestierte Gebrauchsfreundlichkeit senkt die Schwelle zum Atomkrieg, der zum Ende der Menschheit führen kann.

    Das NATO-Atomkriegs-Manöver ›Steadfast Noon‹ endete am 24.10. dieses Jahres; die Militärs probten ein Geschehen, das nie jemand heraufbeschwören darf, da es zum Kontrollverlust, zu einer milliardenfachen Todesrate und schlimmstenfalls zum Ende führen kann.

    Die Anschaffung von 35 Atom-Tarnkappenbombern F 35 hat Kanzler Scholz in seiner ‚Zeitenwende‘-Rede mit dem Ukraine-Krieg legitimiert. Sie sind mit einer Schnittstelle für die B 61-12 ausgestattet und werden dafür ‚gebraucht‘. Sie sind durch ihre Oberfläche für gegnerische Radarüberwachung nur schwer erfassbar. Die Schwelle selbst zum Atomkrieg aus Versehen sinkt, sollte der Radar-Aufklärung bei der Ortung der Tarnkappen-Jets ein Fehler unterlaufen.

    Die Anschaffung dieser Atombomber mit der Invasion Russlands in die Ukraine zu begründen, wie das Olaf Scholz getan hat, zeigt, dass hier vieles, was Militärs lange schon entwickeln und produzieren lassen, nun mit dem Ukrainekrieg begründet wird, um Widerstand im Keim zu ersticken. Dieses Legitimationsnarrativ besteht aus Halbwahrheiten, denn die NATO-Ost-Expansion, die u.a. gegen die Charta von Paris verstößt, wie die ETH Zürich 1997 analysierte (S.98), und der westlich gestützte und faschistisch mitgetragene Putsch in Kiew vor fast neun Jahren bleiben in diesem Legitimationsnarrativ unerwähnt.

    Wie Olaf Scholz und die US-Regierung beim NATO-Gipfel im Juli 2024 vereinbarten, sehen beide Seiten ab 2026 die Stationierung von US-Raketen SM6, Dark Eagle und Tomahawk vor.

    Dark Eagle ist weitreichend und verfügt über ein Flugtempo von bis zu 12-facher Schallgeschwindigkeit, eine den Radar überrumpelnde atomwaffenfähige Hyperschallrakete, die schon aufgrund ihrer Geschwindigkeit die Schwelle zum Atomkrieg entsprechend weiter senkt. Denn im Fall einer Krise muss die Alarmaufklärung mit diesen Geschossen rechnen, ohne ein Mittel dagegen zu haben.

    Die Tomahawk-Marschflugkörper sind eine Weiterentwicklung der Cruise Missile, gegen die die Friedensbewegung der 1980er-Jahre millionenfach und erfolgreich demonstrierte. Die Tomahawk können infolge ihrer Reichweite von bis zu 2.500 km Ziele in Russland weit über Moskau hinaus zerstören. Da sie extrem tief fliegen und der Oberfläche des Geländes auf ihrer Flugbahn automatisch folgen, sind sie kaum vom gegnerischen Radar und der Flugabwehr zu orten.

    Die SM 6 ist eine luftgestützte ballistische Rakete zur Abwehr und zum Einsatz gegen Bodenziele sowie Schiffe. Ihre Reichweite beträgt mehrere hundert Kilometer. Durch eine präzise Lenksteuerung ist sie für Präzisionsschläge geeignet.

    All diese offensiven Systeme steigern im Spannungsfall die Gefahr des Ausbruchs eines Atomkriegs – etwa wenn die Nervosität des Personals der Radar-Aufklärung im Konflikt extrem hoch ist, was wegen der enorm kurzen Flugzeit und des Tempos – wie bereits angedeutet – die Vorwarnzeit praktisch auf Null bringt. Hinzu kommt die hohe Zielgenauigkeit. All das begünstigt Fehleinschätzungen und Fehlreaktionen, wenn die Spannungen ohnehin hoch sind.

    Die Militärs gehen hier bewusst ein Endzeitrisiko ein und nennen das „Sicherheitspolitik“.

    Die Gefährlichkeit, um die es hier geht, entspricht der, die in den 1980er-Jahren zur millionenfachen Unterstützung der Friedensbewegung führte.

    Gegen die US-Raketen, die 2026 für eine Stationierung in Deutschland vorgesehen sind, kursiert im Netz eine Petition mit bisher über 12.600 Unterschriften und auf der großen Friedensdemonstration am 3. Oktober kam es zum Berliner Appell, den bisher über 6.000 Menschen unterschrieben haben. Ende November wird der bundesweite Friedensratschlag über weitere Aktivitäten der Friedensbewegung beraten.

    Titelbild: Raland / Shutterstock

    29 October 2024, 11:00 am
  • 9 minutes 24 seconds
    Boomer gegen Millennials? Wir haben keinen Generationen-, sondern einen Klassenkonflikt

    Mittlerweile vergeht kaum eine Woche, in der nicht in irgendeinem Medium vom angeblichen „Generationenkonflikt“ fabuliert wird. Die Alten lebten auf Kosten der Jungen, so heißt es dann. Dabei feiern dann Stereotype fröhliche Urständ. Der Boomer befeuert – ganz nach dem Motto „nach mir die Sintflut“ – mit seinem SUV und seinem nicht nachhaltigen Konsum den Klimawandel, während der faule Millennial das „Work“ in der Work-Life-Balance vergisst und dem Boomer damit seine Rente kaputtmacht. Alles Unsinn – erzählt, um fragwürdige Politik „alternativlos“ erscheinen zu lassen. Das Motto hierbei lautet „Teile und herrsche“. Davon sollten wir, egal ob alt oder jung, uns nicht ins Bockshorn jagen lassen. Von Jens Berger.

    Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

    Dass alle Klischees falsch sind, ist leider auch eines. Es ist sicher richtig, dass die Wahrscheinlichkeit, dass hinter dem Steuer eines teuren SUVs ein älterer Herr sitzt, relativ groß ist. Und ja, auch die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Betrieb ein Millennial die Überstundenliste anführt, ist nicht gerade die größte. Doch woran liegt es? Sind alle Boomer selbstbezogene Egoisten und alle Millennials faule Lebenskünstler? Natürlich nicht, die Ausprägungen, die unsere Stereotype bilden, sind vor allem gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen geschuldet.

    Schaut man sich beispielsweise die Verteilung der Einkommen und Vermögen nach Altersgruppen an, sieht man, dass die Gruppe der 50- bis 65-Jährigen unangefochten an der Spitze steht. Nicht „der Boomer“, sondern der Wohlhabende fährt häufig einen teuren SUV. Hedonismus und klimaschädliches Verhalten ist keine Frage des Alters, sondern des sozioökonomischen Status. Laut einer Oxfam-Studie sind wohlhabende Menschen in Deutschland für 15-mal so viel CO2-Emissionen verantwortlich wie ärmere Menschen. Korrelation und Kausalität – will man der Erzählung folgen, dass ältere Hedonisten die Lebensgrundlage künftiger Generationen zerstören, so sollte man dem Kind auch den richtigen Namen geben. Nicht die Alten oder die Boomer, sondern die Reichen sind es, die in diesem Kontext ein Problem darstellen.

    Umgekehrt verhält es sich bei der angeblichen Faulheit der Jugend. Es ist natürlich richtig, dass jüngere Generationen den Wert einer sinnstiftenden Verteilung von Arbeit und Freizeit kennen; aber nicht nur sie, auch Ältere und sogar die vielzitierten Boomer sind schon lange nicht mehr die tumben Arbeitstiere, wie es das Klischee besagt. Doch auch dies ist keine Frage, die sich im luftleeren Raum abspielt. So mancher Boomer wäre froh, wenn in seinem Betrieb die Personaldecke so dicht wäre, dass er sich mehr Freizeit gönnen oder gar in Teilzeit arbeiten könnte. So mancher Millennial wäre hingegen froh, wenn er überhaupt einen sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob hätte, in dem er Überstunden machen könnte. Dass junge Menschen in ihrem Erwerbsleben häufig zu wenig in die Rentenkassen einzahlen, hat wenig mit Faulheit oder einer übersteigerten Orientierung auf das Privatleben zu tun, sondern ist schlicht eine Folge prekärer Arbeitsverhältnisse, die auch in hochqualifizierten Jobs leider häufig gang und gäbe sind. Es waren übrigens auch nicht Millennials, die das Rentensystem ausgehöhlt haben, sondern alte weiße Männer mit grauen Haaren, die als Politiker, Lobbyisten und Meinungsmacher die Axt ans Umlagesystem gesetzt haben.

    Durch die Gasse der Vorurteile muss die Wahrheit ständig Spießruten laufen. Die Grundlagen des häufig erzählten Generationenkonflikts sind vor allem das – Vorurteile; Vorurteile, die von unbequemen Wahrheiten ablenken. Aber welcher Meinungsmacher will schon gerne etwas über die immer groteskere Schere der Einkommen und Vermögen, politischen Lobbyismus oder prekäre Jobs erzählen? Bei den großen Problemen unserer Zeit geht es nicht um Alt und Jung und noch weniger um Alt gegen Jung, sondern um Arm und Reich oder besser Arm gegen Reich. Wir haben keinen Generationen-, sondern einen Klassenkonflikt. Entlarvend sind in diesem Zusammenhang die in diesen Geschichten immer wieder propagierten „Lösungen“ für den angeblichen Generationenkonflikt, haben sie doch gar nichts mit der Generationenfrage, dafür jedoch verdammt viel mit der Vermögensfrage und der angestrebten weiteren Verteilung von unten nach oben zu tun.

    Nehmen wir die Rentendebatte. Seit es die NachDenkSeiten gibt, klären wir – vor allem unser Herausgeber Albrecht Müller – über die Denkfehler in der Rentendebatte auf und kritisieren die dreiste Manipulation mit der „demografischen Entwicklung“. So als wäre das alles noch nicht tausendmal gesagt worden, wird auch heute noch Panikmache mit der Demografie betrieben. Natürlich ist es nicht unproblematisch, wenn nun die geburtenstarken Jahrgänge der Boomer vom Erwerbsleben ins Rentenalter wechseln. Natürlich kommen in den nächsten Jahren auf einen Rentner weniger Beitragszahler. Das heißt aber nicht, dass damit dem Umlageverfahren nun der Kollaps droht. Und das heißt schon gar nicht, dass die von den meisten Meinungsmachern in diesem Kontext propagierte Umstellung der Rente auf ein „kapitalgedecktes“ System eine Antwort auf die übertriebenen Probleme wäre. Ganz im Gegenteil. Auf die jetzigen Rentner und die Boomer, die schon bald in Rente gehen, hätten die propagierten „Reformen“, wie die Aktienrente, keinen großen Einfluss. Ganz anders sähe es indes für die Jungen aus, deren Rentenansprüche dadurch zum Spielball der Finanzmärkte würden.

    Würde man die ganze Rentendebatte also auf den angeblichen Generationenkonflikt reduzieren, wäre die Frontline genau andersherum als vielfach erzählt. Dem Boomer könnte es eigentlich herzlich egal sein, welche neoliberalen Grausamkeiten man sich für die Millennials und ihre Altersvorsorge ausdenkt. Zum Glück sind die Boomer dann aber doch nicht so egoistisch und wissen, dass nach ihnen nicht die Sintflut, sondern ihre Kinder und Enkel kommen. Und die wollen – trotz aller Erzählungen über Generationenkonflikte – auch nicht Spielball der Finanzmärkte werden, sondern allen voran später einmal eine sichere Rente bekommen. Ein – rein egoistisches – Interesse an einer Privatisierung des Altersvorsorgesystems haben eigentlich nur die Anbieter derartiger Produkte und diejenigen, die von stetiger Nachfrage und damit steigenden Preisen für Finanzanlagegüter profitieren – also die Reichen, egal ob alt oder jung. Wenn der Schleier der Meinungsmache sich legt, wird einiges gleich viel klarer.

    Ähnlich verhält es sich bei der Klimadebatte. Wenn der kleine Häuslebesitzer sich nun für eine Wärmepumpe verschulden muss und seinen sparsamen, betagten Diesel gegen ein sauteures E-Auto eintauschen soll, ist damit dem Klima – wenn überhaupt – nur in homöopathischen Dosen geholfen. Wie man auf die Idee kommen kann, dass diese Fragen etwas mit dem angeblichen Generationenkonflikt zu tun haben könnten, bleibt offen. Es ist ohnehin nicht zu erkennen, was die Klimadebatte und die daraus folgende Klimapolitik nun so großartig mit der Generationenfrage zu tun haben sollen. Die steile These, der älteren Generation sei es egal, in welcher Welt ihre Kinder und Enkel leben, ist schließlich nichts anderes als unhaltbare Meinungsmache.

    Auch bei der Klimafrage verläuft die Frontlinie eher zwischen Arm und Reich als zwischen Alt und Jung. So steht beispielsweise der Transformation hin zu einer möglichst klimafreundlichen Energieerzeugung ja nicht die gemeinsame Front der Boomer und Alten gegenüber, sondern das neoliberale Dogma der Schwarzen Null, das Investitionen irrigerweise als Belastung kommender Generationen brandmarkt. Nicht der Strom aus Kohlekraftwerken, sondern der Kredit für Windkraftanlagen oder Solarparks schädigt nach diesem Dogma künftig Generationen. Verrückt.

    Man fokussiert sich auf die Ausgabenseite und ignoriert die Einnahmenseite. Dabei muss man schon mit dem Klammerbeutel gepudert sein, um die Lösung nicht zu sehen. Die Energiewende kostet Geld, die Vermögenden in Deutschland haben Geld. Man muss nur eins und eins zusammenzählen. Doch unsere Meinungsmacher ziehen lieber die Quadratwurzel aus einer imaginären Zahl, betten sie in eine holomorphe Integralformel ein und bekommen einen Generationenkonflikt als Antwort. Bei diesem absurden Spiel sollten wir nicht mitmachen.

    Titelbild: fizkes/shutterstock.com

    29 October 2024, 10:00 am
  • 10 minutes 51 seconds
    Transport von RDX-Sprengstoff nach Israel durch deutsches Schiff sorgt international für Empörung

    Die NachDenkSeiten hatten bereits am 11. September auf der Bundespressekonferenz zu dem der Lübecker Reederei Lubeca Marine gehörenden Frachtschiff MV Kathrin nachgefragt. Dieses transportiert derzeit tonnenweise RDX-Sprengstoff an Israel, welcher vor allem für den Bau von Fliegerbomben und Raketen genutzt wird. Die versprochene „Nachreichung“ zu der völkerrechtlichen Verantwortung der Bundesregierung in Bezug auf diese explosive Fracht ist nie erfolgt. Also fragten die NDS erneut nach, auch vor dem Hintergrund, dass mittlerweile selbst EU-Partner wie Malta und Portugal das Schiff sanktionierten, unter anderem mit der Begründung, dass man nicht wegen Komplizenschaft mit einem Völkermord angeklagt werden will. Von Florian Warweg.

    Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

    Hintergrund

    „Wollen Völkermord nicht unterstützen“ – MV Kathrin erhält in Afrika keine Anlegeerlaubnis

    Im Juli 2024 wurde die MV Kathrin in der vietnamesischen Stadt Haiphong mit acht Containern des Sprengstoffs Royal Demolition Explosive (RDX) beladen, die für Israel bestimmt waren, genauer gesagt für Israels größtes Militärunternehmen, Elbit Systems. RDX-Sprengstoff ist ein in Deutschland erfundener Sprengstoff, der als signifikant stärker als TNT gilt und als Schlüsselkomponente für die Produktion von Fliegerbomben, Granaten und Raketen benötigt wird. Bomben und Raketen wohlgemerkt, die derzeit vornehmlich gegen die Zivilbevölkerung in Gaza und Libanon eingesetzt werden.

    Nachdem das deutsche Frachtschiff in Vietnam mit dem Sprengstoff beladen worden war, machte es sich auf die Reise über den Indischen Ozean zur Atlantikküste Afrikas. Doch schon beim ersten Anlegeziel, dem größten Überseehafen Namibias, „Walvis Bay“, verweigerten die dortigen Behörden dem Schiff die Erlaubnis, anzulegen.

    Der namibische Justizminister begründete die Verweigerung des Hafenzugangs damit, dass „Namibia seiner Verpflichtung nachkommt, israelische Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord sowie die rechtswidrige Besetzung Palästinas nicht zu unterstützen oder sich daran mitschuldig zu machen“.

    Die namibische Regierung verwies zudem auf die Resolution des UN-Menschenrechtsrats vom 5. April 2024, welche ein Waffenembargo gegen Israel forderte. Die Resolution war mit großer Mehrheit angenommen worden. Lediglich die USA, Deutschland und vier weitere Staaten hatten dagegen gestimmt:

    #HRC55 | Draft resolution A/HRC/55/L.30 on the Human rights situation in the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem, and the obligation to ensure accountability and justice was ADOPTED. pic.twitter.com/URttz9IFjv

    — UN Human Rights Council (@UN_HRC) April 5, 2024

    Als nächstes sollte die MV Kathrin dann in einem angolanischen Hafen anlegen. Doch auch dort wurde dem Frachtschiff mit sehr ähnlicher Begründung das Anlegen verwehrt. Das im deutschen Besitz befindliche Frachtschiff machte sich nun auf den Weg Richtung Mittelmeer.

    Die UN-Sonderberichterstatterin für Palästina schaltet sich ein

    Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, lobte in Folge die Entscheidung Namibias, der MV Kathrin den Zugang zu verweigern, und erinnerte die internationale Gemeinschaft daran, dass „jede militärische Lieferung an Israel, das nach Feststellung des Internationalen Gerichtshofs möglicherweise Völkermord begeht, einen Verstoß gegen die Völkermordkonvention darstellt“. In diesem Zusammenhang kritisierte sie auch Portugal, da das Schiff zu diesem Zeitpunkt unter portugiesischer Flagge fuhr und so dem Schiff den Transport der tödlichen Fracht in internationalen Gewässern erst rechtlich überhaupt ermöglichte. Dies stelle eine klare Verletzung des Völkerrechts dar. In Folge forderte sie die Regierung in Lissabon auf, „dringend“ die Entfernung der portugiesischen Flagge von dem Schiff „Kathrin“ zu verlangen.

    Der steigende internationale und nationale Druck zeigte im Falle Portugals Früchte. Nachdem auch zahlreiche portugiesische Parlamentarier und Menschenrechtsorganisationen die Regierung aufgefordert hatten, der MV Kathrin die Flagge zu entziehen, unter anderem mit der Begründung, dass man nicht wegen Komplizenschaft mit einem Völkermord angeklagt werden will, reagierte diese und entzog dem Schiff mit Wirkung zum 17. Oktober die Flagge.

    Nur einen Tag später war das Schiff laut verschiedenen Schiffsortungswebseiten unter deutscher Flagge registriert (MS PENG CHAU BOEHE SCHIFFAHRT GMBH & CO). Deutschland war ab dem Moment nun sowohl als Flaggen- als auch Reedereistaat für das Frachtschiff und dessen Ladung voll (völkerrechtlich) verantwortlich.

    Die MV Kathrin liegt nach derzeitigem Wissensstand im Mittelmeer in internationalen Gewässern im Ionischen Meer vor Anker, nachdem ihr auch der deutsche EU-Partner Malta mit Verweis auf die völkerrechtliche Lage und den an Bord befindlichen RDX-Sprengstoff die Einfahrt in dessen Gewässer komplett verweigerte.

    Bundesregierung entzieht sich bisher der Verantwortung

    Deutschland ist bereits vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) angeklagt, weil es seinen Verpflichtungen angesichts der völkerrechtlichen Verstöße des Staates Israel mutmaßlich nicht nachgekommen ist. Eine Untätigkeit im vorliegenden Fall wird die Vorwürfe der Komplizenschaft beim laut IGH vorliegenden „Genozid-Verdacht“ nochmals verstärken und Deutschlands Ruf im Globalen Süden, gerade im südlichen Afrika und im Nahen Osten, weiter schädigen.

    Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz

    Frage Warweg
    Ich hatte hier bereits am 11. September bezüglich des im deutschen Besitz befindlichen Transportschiffs „MV Kathrin“ – das gehört der Lübecker Reederei Lubeca Marine – gefragt, welches derzeit RDX-Sprengstoff an Israels größte Rüstungsfirma Elbit Systems liefern soll. Die damals vom AA versprochene Nachreichung ist nie erfolgt. Jetzt gibt es einige weitere Entwicklungen. Nach Namibia haben auch Angola und EU-Partner Malta das Anlegen des Schiffes mit Verweis auf Entscheidungen des IGH und des UN-Menschenrechtsrats komplett verneint. Portugal hat dem Schiff die Flagge entzogen, mit der Begründung, dass man nicht wegen Komplizenschaft mit einem Völkermord angeklagt werden wolle. Standen denn das AA oder andere Ministerien in dieser Angelegenheit im Austausch mit ihren portugiesischen Counterparts, und teilt denn die Bundesregierung die Einschätzung und Aktivitäten Maltas und Portugals in Bezug auf dieses deutsche Schiff?

    Deschauer (AA)
    Herr Warweg, wenn das Auswärtige Amt keine Nachreichung macht, dann bedauern wir das natürlich sehr. Das mag aber auch daran liegen, dass wir, wie Sie wissen, für rüstungsexportpolitische Fragen nicht federführend sind. Insofern können vielleicht auch Kolleginnen und Kollegen Erkenntnisse, so sie dann vorliegen, hier noch beisteuern.

    Ich kann Ihnen nur noch sagen, dass wir die Medienberichterstattung vielleicht nicht ganz so intensiv wie Sie, aber dennoch sicherlich mitverfolgt haben und – zumindest, was das Auswärtige Amt angeht – weder eine Zuständigkeit noch eine Erkenntnislage vorliegen. Insbesondere genaue Versagungshintergründe, Flaggenentzüge usw. entziehen sich hier meiner Kenntnis.

    Ganz grundsätzlich haben mir die Kollegen trotzdem noch einmal mitgegeben, dass jeder Hafenstaat souverän entscheiden kann, welchen Schiffen er eine Genehmigung oder Einfahrt erteilt. Aber auch das sehe ich jetzt nicht genuin in dem Bereich des Auswärtigen Amtes verortet.

    Zusatzfrage Warweg
    Meine Frage war damals auch schon völkerrechtlich gemeint, nicht, was Direktausfuhrgenehmigungen angeht.

    Mittlerweile fährt die „MV Kathrin“ auch unter deutscher Flagge. Das heißt, sie ist im deutschen Besitz und steht unter deutscher Flagge. Da würde mich trotzdem interessieren – das können Sie auch gerne nachreichen -, welche völkerrechtliche Verantwortung denn die Bundesregierung trägt, wenn eine deutsche Reederei ein Schiff mit deutscher Flagge nach Israel entsendet und zumindest RDX-Sprengstoff, der hauptsächlich für Raketen und Fliegerbomben genutzt wird, nach Israel transportiert, also in ein Land, dem der IGH dieses Jahr die Plausibilität eines Völkermordes in Gaza zuerkannt hatte. Könnten Sie das kurz völkerrechtlich referieren?

    Deschauer (AA)
    Ich kann das nicht kurz völkerrechtlich referieren, weil ich bereits auf meine Aussagen verwiesen habe und weil ich die ganzen Annahmen, die Sie in Ihrer Fragestellung oder, besser, in Ihrem Statement geteilt haben, nicht nachvollziehen und auch nicht bestätigen kann. Ich weise noch einmal darauf hin, dass sich die Fragestellung vermutlich nicht wirklich an mich adressiert, auch wenn Sie das immer wieder betonen.

    Alexandrin (BMDV)
    Ich kann zum flaggenrechtlichen Teil vielleicht noch etwas ergänzen. Es ist so: Wenn ein Flaggenstaat beschließt, ein Schiff nicht mehr unter seiner Flagge zu führen, dann fällt es eben auf die jeweilige Flagge zurück, in dessen Staat sich der Eigentümer des Schiffes befindet. Deswegen erfolgte hier ein Wechsel zur deutschen Flagge.

    Zusatzfrage Warweg
    Ich habe noch einmal eine Verständnisfrage, weil ich mich an das Auswärtige Amt gewandt habe.

    Vorsitzende Buschow
    Herr Warweg, das Auswärtige Amt hat jetzt zweimal gesagt, dass es nicht das zuständige Ressort ist! – Ich versuche nur, uns ein bisschen Zeit zu sparen und bitte um eine kurze Frage.

    Zusatzfrage Warweg
    Ich mache es ganz kurz: Ich würde ganz gerne wissen, wer dann in den ganzen 16 Bundesministerien für völkerrechtliche Einschätzungen zuständig ist. Im Falle Portugals zum Beispiel war es explizit der Außenminister, der sich in diesem Kontext engagiert und zu Wort gemeldet hat. Deswegen würde ich fragen: Wieso fällt die Bewertung in Portugal in den Bereich des Außenministeriums und in der Bundesrepublik nicht?

    Deschauer (AA)
    Herr Warweg, Sie sprachen von einem Schiff, das ursprünglich unter portugiesischer Flagge stand. Da steht es dem portugiesischen Außenminister frei, sich dazu zu äußern. Ich habe Ihnen hier erläutert, dass ich nicht den gleichen Kenntnisstand oder Detailgrad des Kenntnisstandes habe, den Sie haben, und das Auswärtige Amt innerhalb der Bundesregierung auch nicht für Rüstungsexportpolitik federführend zuständig ist. Ich glaube also, das ist jetzt hier so ein bisschen … Ich mache mich gerne noch einmal intensiver kundig. Wenn wir etwas beitragen können, dann tun wir das gerne. Aber Sie müssen auch akzeptieren, dass es gewisse Grundregeln gibt, und für Rüstungsexportpolitik ist nicht das Auswärtige Amt federführend zuständig.

    Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 23.10.2024

    Mehr zum Thema:

    Völkerrechtsbruch? Deutsches Unternehmen Lubeca Marine transportiert RDX-Sprengstoff nach Israel

    Vogel-Strauß-Taktik der Bundesregierung: Von Deutschland gelieferte Kriegswaffen im Einsatz gegen zivile Ziele in Gaza

    Florian Warweg interviewt Sevim Dagdelen: NATO-Mythen und die Klage „wegen Beihilfe zum Völkermord“

    Teilt Baerbock Einschätzung von EU-Partnern, dass Israel Kriegsverbrechen im Libanon begeht?

    29 October 2024, 9:00 am
  • 16 minutes 26 seconds
    Lisa Fitz – Die Anti-Deutschen

    Heute berichte ich euch über die Antideutschen und sag’ meine Meinung zu den Wahlen in Thüringen und Sachsen. Aber das kommt erst ab Minute 8 oder so – also bitte dranbleiben! Von Lisa Fitz.

    Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

    Die nächsten Auftritts-Termine und das aktuelle Programm von Lisa Fitz erfahren Sie stets auf der Website lisa-fitz.de.

    29 October 2024, 8:00 am
  • 23 minutes 40 seconds
    Stimmen aus Ungarn: Die verratene Neutralität

    Der Konflikt und der Krieg in der Ukraine haben dem globalen Westen einen moralischen Vorwand geliefert, um Länder, die aus historischen Gründen und verfassungsmäßig neutral sind, in das Sanktionsregime, in Waffenlieferungen an die Ukraine, in das Einfrieren russischer Guthaben, in die Finanzierung des Krieges, in die Teilnahme an der Kriegspsychose zu zwingen, die man täglich eskalieren lässt. Daraus gibt es für die Beteiligten kein Entrinnen. Ein Beitrag von Botschafter a. D. György Varga, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.

    Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

    Der Westen isoliert den Krieg nicht, er internationalisiert ihn. Er übt Druck auf alle aus, den Krieg mit seinen Nachteilen, Kosten und Folgen, die noch nicht sichtbar sind, anzunehmen. Die neutrale Position wird als prorussische Außenpolitik diffamiert. Wie bei vielen anderen aktuellen Themen ist hier eine Verabsolutierung zu beobachten. Während es jahrhundertelang auf der Ebene von Individuen, Gemeinschaften oder Ländern korrekt war, sich neutral zu verhalten – eine bestehende Situation zumindest nicht zu verschlimmern –, gilt dies heute in der „werteorientierten“ Außenpolitik des Westens als eine böse Tat.

    Für die Vereinigten Staaten von Amerika mit 330 Millionen Einwohnern ist klar geworden, dass sie die internationalen Makroprozesse der acht Milliarden Menschen nicht mehr allein kontrollieren können. Die unipolare Weltordnung geht zu Ende, die Rivalen sind auf dem Vormarsch. Die USA verfolgen deshalb eine neue Strategie: Sie nutzen den Krieg in der Ukraine als moralischen Vorwand, um die Zahl der potenziellen Mitgliedstaaten des westlichen Blocks zu maximieren, indem sie diese von den Rivalen in politischer, wirtschaftlicher und menschlicher Hinsicht abkoppeln.

    Im Falle Russlands dient die Ukraine, im Falle Chinas Taiwan als Eskalationsinstrument. Unzählige Sanktionen gegen die Konkurrenten und gegen Länder, die dagegen verstoßen, sind eine Praxis, die für die derzeitige US-amerikanische Auffassung von internationalen Beziehungen, der UN-Charta und der Souveränität der Länder bezeichnend ist. Da alle Länder in der Blockbildung zählen, kann niemand neutral bleiben, wenn er nicht in Konflikt mit Washington und dem in seinem Namen handelnden Brüssel geraten will.

    Die Neutralität wurde von den Eliten verraten

    Völlig in Vergessenheit geraten ist die Bewegung der Blockfreien Staaten. Sie umfasste um 2010 fast 120 Länder (zwei Drittel der UNO) und wurde 1961 von Nichtmitgliedern des Ost- und Westblocks mit dem Ziel gegründet, ihre Länder aus dem Kalten Krieg zwischen beiden Blöcken herauszuhalten und sich von den politischen, militärischen und wirtschaftlichen Folgen der Konfrontation zu befreien. Sie waren erfolgreich, weil sie wesentlich dazu beigetragen haben, dass nur 15 (West) plus 7 (Ost) UN-Mitgliedsstaaten jahrzehntelang miteinander im Streit lagen und nicht die gesamte Menschheit in zwei Blöcken, wie es heute versucht wird. In Europa hat die Erweiterung der NATO und der EU viele bündnisfreie Länder auf einen rigiden transatlantischen Kurs gebracht. Nicht einmal diejenigen, die außerhalb der Integrationsorganisationen blieben, konnten ihre Neutralität und souveräne – multipolare – Außenpolitik bewahren.

    Das offizielle Ziel der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) der Europäischen Union (EU), die den Kontinent dominiert, ist, „den Frieden zu bewahren; die internationale Sicherheit zu stärken (…)“. Lassen wir jetzt außer Acht, wie wirksam der bisherige Hohe Vertreter für Außenpolitik Josep Borrell zur Destabilisierung in Europa beigetragen hat. Erinnern möchte ich aber daran, dass die EU während des Krieges nicht ein einziges Mal zu Verhandlungen aufgerufen hat. Der diplomatische Kompass von Herrn Borrell im Namen der EU ist bekannt: „Dieser Krieg muss auf dem Schlachtfeld entschieden werden.“

    Jemand hat Interesse daran, den Krieg zu verlängern

    Der Widerspruch zwischen dem verkündeten Ziel und den vorherrschenden globalistischen politischen Praktiken des vorherigen Jahrzehnts hat dazu geführt, dass die „GASP“ schon vor dem Krieg in der Ukraine als Mittel zum Abbau der Neutralität im Instrumentarium des politischen Westens auftauchte. Die auf EU-Ebene (gegen welches Land auch immer) verhängten Sanktionen haben verfassungsrechtlich neutrale Länder institutionell in außen- und sicherheitspolitische Konflikte verwickelt, unabhängig davon, wie sich das auf ihre Neutralität auswirkt.

    Indem die EU transatlantische (im Wesentlichen US-amerikanische) Interessen in Europa durchsetzt, ermöglicht sie im Rahmen der „GASP“ weder den neutralen EU-Mitgliedsländern (Österreich und bis 2023 Finnland, Schweden) noch den assoziierten Ländern oder Beitrittskandidaten, eine souveräne und neutrale Außenpolitik zu verfolgen. Länder wie Moldawien – eine neutrale Republik – oder Serbien und Georgien, die nicht der EU und der NATO angehören, standen und stehen unter ständigem Druck, sich mit den EU-Sanktionen vollständig zu identifizieren und sie gegen ihre eigenen nationalen Interessen anzuwenden. So müssen sie beispielsweise ihre Beziehungen zu Russland einschränken, sich dem EU-Sanktionsregime anschließen und sich an politischen Erklärungen beteiligen, die Russland in den Dimensionen der EU, der Vereinten Nationen, des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verurteilen (andernfalls sind sie es nicht wert, der EU beizutreten).

    Der Druck des Westens auf Georgien war in den letzten Monaten unübersehbar. Washington drängt auf einen Regimewechsel und nimmt keine Rücksicht auf die Lage in diesem Land mit vier Millionen Einwohnern, dessen Zukunft im Wesentlichen von der Qualität seiner Beziehungen zum benachbarten Russland abhängt. In diesem Spiel ist es einerlei, dass die Menschen in der Ukraine, in Moldawien oder in Georgien in den kommenden Jahrzehnten in völliger Instabilität leben, sich von der relativen Ruhe der vergangenen Jahrzehnte verabschieden und der US-amerikanisch-russischen Konfrontation im postsowjetischen Raum mit all ihren Folgen zusehen werden.

    In solch gespaltenen Gesellschaften kann die erzwungene Richtungswahl nur zu Bürgerkrieg, externer Intervention und Zerstörung führen. Es sei an die verfassungswidrige Machtübernahme in der Ukraine im Jahr 2014 als Beginn und Grundlage für einen Bürgerkrieg und einen darauffolgenden Krieg erinnert.

    Interessen von neutralen Staaten werden ignoriert

    Die Erwartung des kollektiven Westens an neutrale Länder und Nicht-EU-Länder – nämlich, die Beziehungen zu Russland abzubrechen und zu schwächen sowie westliche Sanktionen zu verabschieden – nimmt keine Rücksicht auf die historische Völkerfreundschaft und die slawische Brüderlichkeit (serbisch-russische Beziehungen). Sie nimmt keine Rücksicht auf die gegenseitigen Interessen, die auf einer gemeinsamen Vergangenheit und den bedeutenden russischen Minderheiten beruhen (siehe Moldawien, Georgien), und auch nicht auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten dieser Länder und ihre maßgebliche Abhängigkeit von Russland, sowohl jetzt als auch in Zukunft.

    Neutrale Länder, die unter dem Einfluss des kollektiven Westens stehen, werden künftig ihre eigenen Verfassungen nicht mehr respektieren. Initiativen, die von Washington ausgehen, sind NATO-Erwartungen, die von der Außen- und Sicherheitspolitik der EU auf die Ebene der neutralen Länder übertragen werden. Sie werden verpflichtet, Aufgaben zu erfüllen, die gegen die Neutralität verstoßen, sich zu positionieren und eine aktive Rolle in Konflikten anzunehmen, die ein neutraler Staat in allen Dimensionen vermeiden würde, wenn er seinen nationalen Interessen folgt.

    Diese Praxis des „offensiven Transatlantizismus“ der „GASP“ der EU hat zu dem Konflikt und dem Krieg in der Ukraine beigetragen, der nun dafür sorgt, dass die Ukraine bisher nicht nur von der NATO-, sondern auch von der EU-Mitgliedschaft ausgeschlossen bleibt. Glaubt irgendjemand, dass Moskau die EU-Mitgliedschaft der Ukraine nach einem Friedensvertrag akzeptieren wird, wohl wissend, dass die EU-Sanktionen gegen Russland – heute sind es etwa 20.000! – nun von der Ukraine durchgesetzt werden? Jede Änderung, jede Lockerung erfordert, dass der kollektive Westen zunächst seine eigenen außenpolitischen Praktiken überprüft und internationale Akteure außerhalb der EU und der NATO als gleichberechtigte Partner behandelt, wie es die UN-Charta verlangt. Derzeit bemühen sich diese Integrationsorganisationen nicht um eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, sondern sanktionieren täglich souveräne UN-Staaten (und ihre „verlorenen Söhne“!) – und tarnen die Notwendigkeit der „Erziehung“ mit einem moralistischen Deckmantel.

    Die ewige Neutralität bekommt eine neue Bedeutung

    Noch vor zwei Jahrzehnten haben sich die Österreicher die immerwährende Neutralität ihres Landes nicht so vorgestellt, dass sie im Rahmen der GASP verpflichtet werden, politisch und finanziell Partei zu ergreifen – in einem Kriegskonflikt, an dem sie sonst nicht beteiligt sind. Russland, das als Nachfolgestaat der Sowjetunion zu den Unterzeichnern des österreichischen Staatsvertrags von 1955 gehört, versteht das Wesen der „immerwährenden Neutralität“ des Landes anders und ist über die Positionierung der derzeitigen politischen Elite in Österreich unter dem Druck des politischen Westens empört. Zuvor wäre es für ein neutrales Österreich undenkbar gewesen, im Rahmen der EU Kredite aufzunehmen, um die Aufrüstung einer Kriegspartei zu finanzieren.

    Wichtige UN-Institutionen und die OSZE haben Wien als Sitz gewählt, weil die im Staatsvertrag von 1955 zugesagte und garantierte immerwährende Neutralität ideale Voraussetzungen für die Bewältigung der Sicherheitsprobleme der Welt bot und weil sie glaubhaft die gleichen Bedingungen für alle UN-Mitgliedsstaaten sicherte – neutral zu sein, ohne jemandem einen Vor- oder Nachteil zu verschaffen. Dies ist heute nicht mehr der Fall dank der globalistischen und expansionistischen atlantischen Außenpolitik der EU, die die Interessen und verfassungsmäßigen Verpflichtungen neutraler Staaten missachtet.

    Der Westen setzt das sozial fragile Moldawien unter Druck

    Die derzeitige Führung von Moldawien kommt den Erwartungen Washingtons und Brüssels in vollem Umfang nach und setzt die Bevölkerung des Landes und seine unabhängige Staatlichkeit möglichen Konsequenzen aus. Das 2,6 Millionen Einwohner zählende Land ist ethnisch, regional und sprachlich gespalten und weist die gleiche fragile soziale Stabilität auf wie die Ukraine um 2014. Wer es plötzlich Richtung Westen treiben will, lässt außer Acht, dass etwa die Hälfte der Gesellschaft (politisch, wirtschaftlich, sprachlich, verwandtschaftlich, religiös) mit dem Osten verbunden ist. Die Außenpolitik der moldawischen Regierung ist alles andere als neutral. Im Rahmen der EU-Sanktionen wurden russischsprachige Fernsehsendungen verboten, und eine als prorussisch eingestufte politische Partei wurde zwei Tage vor den Kommunalwahlen vom Wahlzettel gestrichen.

    Der westliche Ansatz ist kurios: Eine als prorussisch eingestufte Partei kann in einem Nachfolgestaat der Sowjetunion nicht kandidieren, aber Parteien mit einer Pro-US-Politik können in Mexiko, Kanada, Europa, Japan, Taiwan und sogar Moldawien antreten. Der Ansatz ist prinzipienlos, ideologisch motiviert, selektiv angewandt und zielt darauf ab, den Aufstieg des politischen Westens auch um den Preis offensichtlicher sozialer Instabilität zu sichern, indem man die russische Bedrohung dämonisiert, die hinter den zu verdrängenden Parteien lauert. Die OSZE-Wahlexperten schweigen dazu.

    Wer schafft Instabilität in Osteuropa?

    Der ehemalige moldawische Staatschef Igor Dodon erklärte am 6. Juni, dass Waffen von Rumänien über die neutrale Republik ohne jegliche Kontrolle in die Ukraine geliefert würden. In dem kleinen Land sind etwa 14.000 vom Westen finanzierte Nichtregierungsorganisationen tätig, die einen direkten existenziellen Einfluss auf rund 200.000 Menschen haben. Sie werden von den Regierungsparteien unterstützt, und ihre Richtung wird von den Vertretern des kollektiven Westens bestimmt. Die Finanzierung durch die USA und die EU ist legitim (wohl wegen der bedeutenden US-amerikanischen Minderheit im Land!?), die russische Unterstützung wird trotz der bekannten ethnischen, sprachlichen, kulturellen und historischen Gründe geächtet.

    Militärische Übungen von NATO-Ländern sind in Moldawien, in dem ein russisches Militärkontingent ebenfalls anwesend ist, üblich geworden. Dies geschieht vor dem Hintergrund des ungelösten Schicksals des separatistischen Gebietes Transnistrien mit russischen Verbindungen. Außerdem wäre Moldawien nicht in der Lage, die Folgen seiner eigenen antirussischen Politik allein zu bewältigen, weder wirtschaftlich noch politisch und militärisch.

    Moldawien ist, wie die Ukraine, zu einem Schauplatz der strategischen Konfrontation zwischen den USA und Russland geworden, und die derzeitige geringe, doch bereits sichtbare Intensität des Konflikts könnte sich schnell ändern. Darauf deutet hin, dass führende rumänische Politiker über die „Vereinigung von Rumänien und Moldawien nach deutschem Vorbild“ sprechen, die „mit Unterstützung der Verbündeten umgesetzt würde, falls Russland Odessa erreicht und einen direkten Kontakt mit Moldawien riskiert“. Wenn wir es richtig verstehen, ist Rumänien also daran interessiert, dass der Krieg weitergeht, Odessa in russische Hände fällt und NATO-Truppen aus Rumänien in Moldawien einmarschieren, „um eine russische Aggression zu verhindern“.

    Die Planer und Entscheidungsträger des kollektiven Westens stören sich nicht an den Nachteilen, welche die Länder – mit historisch- und ressourcenbedingt unersetzlichen Beziehungen zu Russland – auf sich nehmen; die Konsequenzen der Teilnahme an den gemeinsamen EU-Erklärungen, NATO-Militärübungen und Sanktionen in den kommenden Jahrzehnten sind eindeutig und klar.

    Diese Zusammenhänge und Konsequenzen schaden erheblich der Außenpolitik und den Handelsinteressen des jeweiligen Landes.

    Diese Länder werden, den Erwartungen der EU folgend, Märkte, Energie und Rohstoffe, über Jahrhunderte gewachsene Beziehungen, gemeinsame Interessen, die die ethnischen, religiösen und sprachlichen Gemeinschaften des postsowjetischen Raums verbinden, aufgeben müssen – nur weil der politische Westen einen Konflikt und einen daraus folgenden Krieg verabsolutiert, an dessen Entstehung und Aufrechterhaltung er selbst aktiv beteiligt war (während in anderen Konflikten, in vielen militärischen Aggressionen, eine solche Verabsolutierung nicht erfolgt).

    Die traditionell neutrale Schweiz verliert ihre Rolle in der Weltpolitik

    Die schweizerische Neutralität hat den Prüfungen zweier Weltkriege und der Jahrzehnte des Kalten Krieges standgehalten, konnte aber dem wachsenden Einfluss globalistischer Kräfte im eigenen Land und der multidimensionalen ausländischen Einflussnahme nicht widerstehen.

    Die Schweiz hat sich nach mehr als 200 Jahren ausdrücklich vorteilhafter Neutralität den EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen, indem sie russisches Eigentum blockiert und die wichtigsten Kennzeichen und Attribute ihrer zu Recht berühmten Neutralität aufgegeben hat. Im März 2024 beschloss das Schweizer Parlament, russisches Eigentum an die Ukraine zu übertragen, wohl wissend, dass die Schweiz damit die wichtigsten Vorteile ihrer 200-jährigen Neutralität und die Grundlage ihres internationalen Status (Eigentumsgarantie, Zuverlässigkeit, Vorhersehbarkeit, Unparteilichkeit) verlieren würde, der viel stärker ist als ihr Reichtum und ihre Größe. Dieser Prozess hat bereits begonnen, wie die Zusammenbrüche der Schweizer Banken seit 2022 gezeigt haben.

    Warum sollten Staaten, Oligarchen, arabische Prinzen, milliardenschwere Unternehmer oder Millionen einfacher ausländischer Bürger weiterhin ihre Vermögen in Schweizer Banken anlegen, wenn diese nach dem selektiven Werturteil des politischen Westens jederzeit nach Gutdünken der Politiker blockiert, veruntreut oder als Hilfsgelder einem anderen Land übergeben werden können? Es ist bedauerlich, dass die Schweizer Eliten unter westlichem Druck die Verfassung des Landes verletzen und die Glaubwürdigkeit und Rechtssicherheit des Landes aufgeben.

    Warum verstößt die Schweiz gegen ihre Verfassung?

    Im Vergleich mit den Folgen der Weltkriege – insbesondere des Zweiten Weltkriegs – und des Kalten Krieges auf die Schweiz sehen die direkten Auswirkungen des Krieges in der Ukraine gering aus, da er de facto keine auf die Alpenrepublik hat. Da drängt sich die Frage auf: Wenn die Schweiz unter dem Druck des benachbarten Hitlerdeutschlands neutral bleiben konnte, warum hält sie sich heute nicht an das Neutralitätsprinzip, warum verstößt sie gegen ihre eigenen nationalen Interessen, warum verletzt sie ihre Verfassung, wenn sie nicht bedroht ist? Der Bundesrat hat gemäß Artikel 185 die Aufgabe, Maßnahmen zur Wahrung der äußeren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz zu treffen. Das Gleiche gilt auch für Moldawien.

    Durch Kommunikation, Dämonisierung des erklärten Feindes, Verabsolutierung moralischer Verpflichtungen und Solidarität wird die Verfassung in diesen Ländern teilweise außer Kraft gesetzt. Wer auf das im EU-Recht bestehende Recht auf Meinungsverschiedenheit beharrt oder sich auf die Verfassung des eigenen Landes beruft und deshalb in einem Konflikt nicht Partei ergreifen will, wird bestraft und geächtet.

    Wenn wir die Schweizer Außenpolitik während des Krieges in der Ukraine und die unternommenen Schritte, um die Neutralität de facto aufzugeben, sowie die Analysen über diese Neutralität betrachten, können wir globalistische Erklärungen in der gleichen moralischen Gestalt erkennen, die wir in den westlichen Mainstream-Medien zugunsten von Sanktionen und der Fortsetzung des Krieges sehen. In den meisten Fällen werden kommunikative Vereinfachungen wie „In Zeiten, in denen Wladimir Putin und Xi Jinping an der Macht sind, kann die Schweiz nicht neutral bleiben“ oder „Im 21. Jahrhundert wird die Rolle der Neutralität neu bewertet“ als Hauptargumente für die Aufgabe der Neutralität angeführt.

    Die Dämonisierung der internationalen Akteure, die Verabsolutierung der Kriegsakteure (Gut und Böse) und die nichtssagenden, aber oft wiederholten Klischees dienen dem Aufbau und der Aufrechterhaltung der sozialen Unterstützung in einem Krieg, an dem der politische Westen selbst beteiligt ist. Wirkungsstudien über die Verluste, die die Schweiz durch die Aufgabe der Neutralität erleidet, sind natürlich nicht bekannt, ebenso wenig wie die EU in der Lage ist, die wundersame Wirkung der bisher 14 Sanktionspakete gegen Russland zu beschreiben.

    Der Schweizer Bundesrat hat am 28. Februar 2022 beschlossen, sich den EU-Sanktionen gegen Russland anzuschließen. Wen wundert es noch, dass die russisch-ukrainischen Gespräche am selben Tag in Minsk begannen und später in Istanbul fortgesetzt wurden?

    Die Schweiz ist kein unparteiischer Veranstaltungsort mehr

    Seltsamerweise hat das NATO-Mitglied Türkei gezeigt, dass es Friedensgespräche führen kann, dass es sich der Sanktionspolitik des politischen Westens nicht anschließt und nicht zur Verlängerung des Krieges beiträgt, weil es an Frieden und Stabilität in der Region interessiert ist. Mit anderen Worten, ein rationaler Akteur – auch ein NATO-Mitglied – kann als neutrale Partei zur Beendigung eines Krieges (außerhalb des NATO-Gebiets!) beitragen. Österreich und die Schweiz, verfassungsmäßig neutral, aber politisch und moralisch in westliche Sanktionen verstrickt, haben es nicht gewagt, dasselbe zu tun. Ihre Neutralität ist diskreditiert worden.

    Die Schweiz hat eine Ersatzhandlung lanciert, deren Ergebnis die sogenannte Bürgenstock-Konferenz am 15. und 16. Juni war. Die Veranstaltung war zum Scheitern verurteilt, weil sie mehrere Genres vermischte: Es ging um eine Friedenskonferenz, bei der nur eine der am Krieg beteiligten Parteien anwesend war und nur ihre Position auf der Tagesordnung stand.

    Russland, das für den Ausgang des Krieges von entscheidender Bedeutung ist, sowie sein Verbündeter China waren nicht, andere nur auf sehr niedrigem Niveau vertreten. Die meisten Teilnehmer waren nicht aus dem Grund anwesend, weil sie an das Ergebnis der Schweizer „Friedenskonferenz“ glaubten oder zu einer schnellen Beendigung des Krieges beitragen konnten (was Washington nicht will), sondern weil diejenigen, die von der Herde ausgeschlossen sind, von den Anführern der globalistischen Sekte verachtet und benachteiligt werden könnten. (Die Teilnahme war freiwillig verpflichtend!!)

    Eine diplomatische Lösung bleibt unerwünscht

    Dass die Konferenz sowohl der Schweiz als auch den Teilnehmern aufgezwungen wurde, zeigt, dass die USA und ihre unmittelbaren Verbündeten nicht an einer kurzfristigen diplomatischen Lösung interessiert sind. Die Schweizer Ersatzhandlung sollte die Zeit hinauszögern, die Bildung des westlichen Blocks zur Unterstützung der Ukraine demonstrieren und die internationale Legitimität des nicht wiedergewählten ukrainischen Staatschefs, dessen Amtszeit bereits im Mai endete, künstlich aufrechterhalten.

    Und um die Illegitimität der Konferenz noch mehr zu betonen, bleibt das ukrainische Präsidialdekret vom 4. Oktober 2022 weiter in Kraft, sodass die ukrainische Regierung nicht mit Russland über eine mögliche Beendigung des Krieges verhandeln kann.

    Wir wissen heute, dass ohne westlichen Einfluss der Krieg im April 2022 mit dem bereits paraphierten Istanbul-Abkommen hätte beendet werden können. Es hätte keiner Beteiligung und keiner Pseudofriedenskonferenzen des Westens bedurft, um die einst 52 Millionen Einwohner und 603.000 Quadratkilometer große Ukraine zusammen mit uns Europäern wieder zu einem normalen Leben zu führen – ohne täglich zunehmende westliche Kriegspsychosen und Sanktionen.

    Erinnern wir uns daran, dass die Ukraine selbst ein verfassungsmäßig neutrales Land war, als sie 2008 auf Druck der USA als potenzielles NATO-Mitglied benannt wurde. Seitdem wird sie von allerlei Verlusten heimgesucht: Putsch im Jahr 2014, Bürgerkrieg zwischen 2014 und 2022, Gebietsverlust, Bevölkerungsverlust durch Auswanderung, Kriegstote, -invalide und -gefangene, zerstörte Infrastruktur. Und das Ende des Krieges ist nicht in Sicht.

    Titelbild: Shutterstock / GM Vektor

    Mehr zum Thema:

    Exklusiv-Beitrag von Botschafter a. D. Varga: Falsche Argumente im Dienste von Angstmacherei und Krieg

    Botschafter a. D. Varga: Moldau als souveräner Staat in Gefahr

    Stimmen aus Ungarn: Deutsche Außenpolitik ohne Rückhalt in der Bevölkerung

    Stimmen aus Ungarn: Die Verabsolutierung des Krieges in der Ukraine

    28 October 2024, 1:02 pm
  • 5 minutes 38 seconds
    Merz macht mobil – mit Taurus militärische Ziele in Russland treffen

    Waffen, Kampf, Verteidigung – das ist Friedrich Merz’ „Lösung“ für den Krieg in der Ukraine. Und die Aufrüstung Deutschlands gibt es bei dem CDU-Politiker inklusive. Bei Merz klingt das so: „Wir werden uns anstrengen müssen, mehr für unsere Verteidigung zu tun.“ Anders gesagt: Mit Merz als Kanzler würde Deutschland seine militärische Zeitenwende vollends vollziehen. Der Auftritt des ehemaligen BlackRock-Manns in der Sendung „Bericht aus Berlin“ zeigt ein weiteres Mal: Für Deutschland wäre es besser, wenn Merz der Politik den Rücken kehrte. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.

    Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

    Der Kanzlerkandidat der CDU ist auf Konfrontationskurs mit Russland. Und damit wird klar, was Deutschland von einem Kanzler Merz zu erwarten hat: Eine noch weitere Verstrickung in den Sumpf des Krieges und der Aufrüstung. Rund 16 Minuten äußerte sich der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende des Investmentkonzerns BlackRock in der ZDF-Sendung „Bericht aus Berlin“. Rund 16 Minuten, in denen Merz eine Lernresistenz und ein Verstehensdefizit zeigt, das bei einem Mann seiner politischen Position eigenartig wirkt – um es vorsichtig zu formulieren.

    Nach fast drei Jahren Krieg ist Merz’ „Lösung“ für die Situation in der Ukraine jene „Lösung“, die die westliche „Wertegemeinschaft“ von Anfang an veranschlagt hat: Konfrontation und Waffen. Das Ergebnis ist bekannt. In Merz’ Denken bedarf es nur mehr von allem. Deutsche Taurus-Raketen, die militärische Ziele in Russland treffen? Selbstverständlich! Ein Ultimatum gegen Russland? Warum nicht? Ohne Angst, dafür mit Härte gegenüber Russland auftreten? Ja, denn es geht ja um „Abschreckung“.

    Die Option, mit der Kunst der Diplomatie sofort einen Waffenstillstand zu verhandeln, damit nicht noch mehr Soldaten auf dem Schlachtfeld sterben, scheint Merz nicht auf dem Schirm zu haben.

    Wer ein Rezept sucht, wie der Krieg noch mehr Opfer kosten wird, wer ein Rezept dafür sucht, wie ein Krieg zwischen NATO und Russland noch näher rückt: Merz präsentiert es.

    Merz vorzuwerfen, dass er keine Ahnung von Politik hat, wäre sicherlich falsch. Ein Mann in der politischen Position von Merz weiß, was Politik ist. Vielleicht sogar besser als so manch anderer. Andererseits ist es ein Leichtes, aus seinen Aussagen darauf zu schließen, dass hier einer spricht, der von Politik so viel Ahnung hat wie ein Waschbär vom Häkeln – nämlich keine. Zwischen Merz’ politischem Wissen und seinen Aussagen liegt ein nicht zu überbrückender Abgrund. Wie passt das zusammen? Wie kann es sein, dass Merz, einerseits, weiß, oder genauer wissen muss, dass die Konfrontationspolitik gegenüber Russland längst nicht nur einen politischen Fatalismus beinhaltet, der zum 3. Weltkrieg führen kann, er andererseits aber so handelt, als wäre ihm das überhaupt nicht klar?

    „Es geht um die Freiheit dieses Landes (Anmerk. Red.: die der Ukraine) und damit auch um unsere Freiheit. Die zu verteidigen, das ist unsere gemeinsame Aufgabe“, sagt Merz. Mit dieser Aussage bewegt sich Merz auf der Ebene des ehemaligen SPD-Verteidigungsministers Peter Struck, der 2002 sagte, „die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“. So wie die Freiheit Deutschlands nicht in Afghanistan verteidigt wurde, wird die Freiheit der Deutschen auch nicht in der Ukraine verteidigt. Die eine Aussage war unsinnig, die andere ist es auch. Das zu erkennen, ist nun wirklich nicht sonderlich schwer.

    Anders gesagt: Entweder, der Ex-BlackRock-Mann weiß selbst, dass er – aus Gründen – Unfug verbreitet. Oder aber, seine Aussagen basieren tatsächlich auf einem Wirklichkeitsverständnis, das der komplexen politischen Realität nicht gerecht wird. Entweder weiß der CDU-Politiker sehr wohl um die weitreichenden geostrategischen und tiefenpolitischen Interessen der USA und des Westens in diesem Konflikt. Oder aber er glaubt in einem kaum zu ertragenden Maße an politischer Borniertheit tatsächlich an das von ihm mitreproduzierte Feindbild vom bösen Russland. Das eine ist so fatal wie das andere. Es mag noch die ein oder andere weitere Möglichkeit geben, aber wie es auch ist: Ein Politiker, der in der derzeitigen Situation davon spricht, dass „wir“ uns „anstrengen“ müssten, „mehr für unsere Verteidigung zu tun“, sollte ohnehin nicht im Parlament sitzen. Wie wäre es, wenn nicht „wir“, sondern die Politik sich erstmal anstrengen würde, dafür zu sorgen, dass in unserem Land keine Suppenküchen mehr nötig sind und Brücken nicht mehr zusammenstürzen? Eine „Anstrengung“ für „unsere Verteidigung“ braucht es nicht. Die ist nur im Kopf der Kalten Krieger notwendig.

    Titelbild: Screenshot ARD „Bericht aus Berlin“

    28 October 2024, 10:46 am
  • 8 minutes 8 seconds
    „Frankfurter Allgemeine“ hetzt gegen Krone-Schmalz

    Mit Härte gegen Andersdenkende: Wenn die Argumente nicht ausreichen, dann werden sprachliche Schwergewichte bemüht, ohne sie inhaltlich zu unterfüttern. Auch die NachDenkSeiten sollen in einem aktuellen und sehr fragwürdigen Artikel in der FAS diffamiert werden. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

    Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

    Weil sich eine kürzlich ausgezeichnete Bibliothek herausgenommen hatte, in jüngerer Vergangenheit auch die Russlandexpertin Gabriele Krone-Schmalz einzuladen, geriet die Institution in der letzten Sonntagsausgabe der FAZ in den empörten Blick der Autorin Diba Shokri. Sie fragt in einem FAS-Artikel vom Wochenende händeringend: „Wie kann das sein?“ Was folgt, ist eine sprachlich harte und inhaltlich unseriöse Tirade gegen die wichtige Autorin Krone-Schmalz, deren „Vergehen“ es ist, die voraussehbar gefährliche Russlandpolitik der NATO infrage zu stellen.

    Man erlebe bei Krone-Schmalz eine „Desinformationskaskade“. Sie sei eine „für ihre notorischen Falschaussagen bekannte Rednerin“ und eine „umstrittene Vortragende“. Krone-Schmalz verbreite „Putin-Propaganda“. Die renommierte ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD werde fälschlich als „Russland-Expertin“ angekündigt – dass ihre Aussagen seit vielen Jahren „in der Kritik“ stehen würden, werde in der Veranstaltungsankündigung dagegen nicht erwähnt. Zentrale Aussagen von Krone-Schmalz seien von „Zeithistorikern“ vielfach widerlegt. Erfolgreich werde „antiamerikanisches Ressentiment“ bedient. Zusätzlich zu solchen eigenen Wertungen werden im Artikel andere Stimmen unkritisch zitiert, nach denen es sich bei den Inhalten von Krone-Schmalz um „Schwurbelpositionen und Desinformation“ handele. Dabei würden „verbrecherische Putin-Positionen normalisiert“. Dass es möglich sei, dass Krone-Schmalz in dieser Bibliothek ihre Meinung äußere, sei ein Beispiel für „mangelnde demokratische Wachsamkeit“. Und so weiter.

    Diffamierung der NachDenkSeiten

    Es wird in dem Artikel auch versucht, die NachDenkSeiten auf die gewohnt billige Weise und wie üblich ohne angemessene inhaltliche Unterfütterung zu diffamieren. Es wird nicht ganz klar, ob die Wertung von der Autorin des Artikels oder einer Gesprächspartnerin kommt – jedenfalls wird neben der ollen Kamelle von den angeblich durch die NachDenkSeiten verbreiteten „Verschwörungstheorien“ gegen uns ins Feld geführt, wir seien „obskur“. Nebenbei: Die FAZ war unter Frank Schirrmacher übrigens noch zu ganz anderen Urteilen über die NachDenkSeiten gekommen (lang ist’s her…), etwa in diesem Artikel:

    Angela Merkel war bisher nicht in der Lage, die moralischen Folgen der Krise in der Eurozone zu thematisieren. Das ist schlimm genug. Undenkbar, dass zu Zeiten Erhards nicht ein Selbstverständigungsprozess eingesetzt hätte. Dafür fehlt der Partei augenscheinlich das Personal. Denn die Macht dazu fehlt ihr keinesfalls. Über das Wort „Monster“ ist die politische Positionierung der Konservativen bis heute nicht hinausgekommen – und das las man früher und besser auf den „Nachdenkseiten“ des unverzichtbaren Albrecht Müller, einst Vordenker von Willy Brandt.

    Angriffe ohne Inhalte

    Beispielhaft für die im Artikel unter anderem genutzte Masche, die Thesen von Krone-Schmalz anzugreifen, ohne dafür inhaltliche Begründungen zu liefern, ist dieser Absatz:

    Krone-Schmalz behauptet: ‚Die NATO hat sich ihr Russland-Problem selbst geschaffen‘, und zwar, so ihre These, durch die EU-Osterweiterung, durch die NATO-Osterweiterung und durch die NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine. Ein bekanntes Rechtfertigungsnarrativ des Putin-Regimes, von Zeithistorikern vielfach widerlegt. Aber hier widerspricht niemand.“

    Dass das „Russland-Problem“ – also die Konfrontation zwischen dem Land einerseits und Resteuropa/USA andererseits – durch die EU-Osterweiterung, durch die NATO-Osterweiterung und durch die NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine massiv und absolut voraussehbar verschärft worden ist, liegt auf der Hand (ausführliche Infos dazu finden sich unter anderem in diesem Artikel). Die FAS-Autorin beklagt, dass diesem klaren Befund bei der Veranstaltung niemand widerspreche – aber sie selbst ist es, die ihren Widerspruch nicht inhaltlich unterfüttern kann. Der Verweis auf „Zeithistoriker“, die das „Rechtfertigungsnarrativ des Putin-Regimes“ bereits „vielfach“ widerlegt hätten, bleibt darum eine ungenügende und leere Phrase. Das Gleiche gilt für die hier gestreuten Zweifel, die ebenfalls nicht inhaltlich unterfüttert werden:

    Angeblich seien auch im Frühjahr 2022 Verhandlungen über einen Waffenstillstand nicht an Russland gescheitert, sondern ‚daran, dass ein Ende des Krieges zu diesem Zeitpunkt nicht im Interesse der westlichen Staatengemeinschaft lag‘.“

    Dass die Verhandlungen im Frühjahr 2022 „nicht an Russland“ gescheitert sind, ist nach den bekannten Informationen (weitere Infos dazu siehe etwa hier und hier) meiner Meinung nach kaum zu widerlegen. Das „angeblich“ bleibt also, wenn es nicht inhaltlich unterfüttert wird, eine reine Behauptung.

    Immerhin: Die wackeren Versuche der Erwiderung durch Bibliotheks-Verantwortliche werden im Artikel auch wiedergegeben. Man müsse schließlich auch zuhören, „wie die andere Seite tickt“, und es sei „bis zu einem gewissen Grad auszuhalten, dass wir als Bibliothek von Diskussionen leben“.

    Mangelnde demokratische Wachsamkeit“

    Es ist eine bekannte Masche, bereits durch die Auswahl des Gesprächspartners auf das betreffende Thema abfärben zu lassen. So wird zu Krone-Schmalz ausführlich Jens-Christian Wagner befragt, ehemaliger Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, heute Direktor der „Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora“, Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit in Jena und Mitglied der Jury zur Auszeichnung der Bibliothek. Meiner Meinung nach geschieht das auch, um das Thema und Krone-Schmalz irgendwie und indirekt mit der Problematik des Rechtsextremismus zu verbinden.

    Zusätzlich problematisch sind einige der überhaupt nicht hinterfragten Äußerungen von Wagner, der indirekt für Zensur von Meinungen plädiert, die ihm nicht passen. „Prinzipiell muss man offen sein, auch für kontroverse Meinungen“, so Wagner gönnerhaft. Aber: Krone-Schmalz „mit ihrer Putin-Propaganda ein Forum bieten – das kann man nicht machen“. Wagner weiter:

    Wenn man sie einlädt, und auch das finde ich schwierig, wäre es das Mindeste, ein inhaltlich starkes Gegengewicht mit auf die Bühne zu setzen. Schwurbelpositionen und Desinformation muss man quellengesättigt und wissenschaftsbasiert enttarnen.

    Ansonsten würden „verbrecherische Putin-Positionen normalisiert“, so Wagner. Der Fall Krone-Schmalz sei ein Beispiel für „mangelnde demokratische Wachsamkeit“.

    Ich gestehe: Diese Art von „demokratischer Wachsamkeit“ finde ich einfach nur unheimlich.

    Mehr zum Thema:

    Videos vom Vortrag Krone-Schmalz und von der Diskussion beim Pleisweiler Gespräch

    Krone-Schmalz erhält Friedenspreis – Und die „Experten“ kochen über

    Faktencheck der Faktenchecker: Wie manipulativ ARD-„Faktenfinder“ versucht, Ganser, Guérot und Krone-Schmalz zu diffamieren

    28 October 2024, 9:17 am
  • More Episodes? Get the App
© MoonFM 2024. All rights reserved.