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Wer verstehen will, was gespielt wird, sollte dieses Buch lesen, gerade auch, wenn sich inzwischen manches verändert hat. Im amerikanischen Original hieß es tatsächlich „The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“. 1997 erstmals in den USA erschienen, kam es 1999 mit einem Vorwort Hans-Dietrich Genschers unter dem Titel „Die einzige Weltmacht“ auf Deutsch heraus, erreichte bei S. Fischer mehrere Auflagen, war bald vergriffen. Jetzt wurde es vom Nomen Verlag wieder auf den Markt gebracht. Eine faszinierende Mischung von strategischem Scharfsinn und geopolitischer Überheblichkeit. Aber Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Von Irmtraud Gutschke.
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Als US-amerikanischer Geostratege ist Zbigniew Brzeziński (1928-2017) nach dem Zweiten Weltkrieg von immensem Einfluss gewesen. Von 1966 bis 1968 war er Wahlkampf-Berater Lyndon B. Johnsons und von 1977 bis 1981 Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter. Er war Professor für US-amerikanische Außenpolitik an der School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University in Washington, D.C., Berater am „Zentrum für Strategische und Internationale Studien“ (CSIS) in Washington, D.C. und stellvertretender Vorsitzender der National Advisory Task Force von Präsident George Bush senior, zudem Unternehmensberater für mehrere große US-amerikanische und internationale Firmen.
Viele seiner geopolitischen Analysen dürften regierungsintern geblieben sein, sodass wir in seinen Buchveröffentlichungen wohl nur die Spitze des Eisbergs sehen. Deren antikommunistische Zielrichtung entsprach US-amerikanischer Politik und hatte zudem einen persönlichen Hintergrund. 1928 in Warschau als Sohn des Diplomaten Tadeusz Brzeziński geboren, hat er aus der Zeit der stalinistischen Säuberungen in seiner Familie tiefe Aversionen mitgebracht. Zudem stammte das Adelsgeschlecht der Brzezińskis aus der Stadt Brzeżany, die 1945 von der Sowjetunion annektiert und der Ukrainischen SSR angegliedert wurde.
Wäre der Autor einfach nur ein ideologischer Scharfmacher gewesen, könnte man sich die Lektüre sparen. Erhellend ist sie indes allein schon, weil sie so konsequent der im deutschen Titel benannten Zielrichtung folgt: „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft und der Kampf um Eurasien“. Erhellend, weil es diesbezüglich eine verbreitete Traumverlorenheit gibt, zumal im Westen Deutschlands, wo die USA nach dem Zweiten Weltkrieg als Schutzmacht und Freiheitsbringer wahrgenommen wurden – gegen den von der UdSSR dominierten Osten, wo der Versuch einer Gesellschaft ohne kapitalistische Ausbeutung letztlich scheiterte.
Ein Ende des Kalten Krieges erschien verheißungsvoll. Doch der Traum von einem gemeinsamen europäischen Haus zerschellte für den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow ebenso wie für viele andere Menschen, die sich ein Ende der Konfrontationen in der Welt erhofft hatten. Dass dies jenseits des Atlantiks als Freibrief empfunden wurde, die eigenen Interessen als „einzige Weltmacht“ umso rigider durchzusetzen, ist für Leser der NachDenkSeiten nicht neu. Aber im vorliegenden Buch werden diese weltweiten Hegemoniebestrebungen strategisch und taktisch dermaßen detailliert analysiert, dass ich es immer wieder für verwunderlich hielt, wie sowas an die Öffentlichkeit gekommen ist.
Die Ukraine als „geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“
Wer zum Beispiel hierzulande noch glaubt, dass es sich beim Krieg in der Ukraine um einen Konflikt zwischen zwei Staaten handelt, von denen der größere den kleineren aus heiterem Himmel überfiel und nun im Sinne von Humanität und Völkerrecht mit allen Mitteln zurückzudrängen ist, sollte dieses Buch lesen. Schon 1997 ist darin die besondere Bedeutung der Ukraine als „ein neuer und wichtiger Raum auf dem europäischen Schachbrett“ hervorgehoben, damit auf dem einst sowjetischen Gebiet kein erneuertes Imperium entstehen könne.
Für die USA sei sie „ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Transformation Russlands beitragen würde. „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach einem imperialen Status streben, würde aber dann ein vorwiegend asiatisches Reich werden, das aller Wahrscheinlichkeit nach in lähmende Konflikte mit aufbegehrenden Zentralasiaten hineingezogen würde … Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen.“ [1]
Schon 1997, wie gesagt, gab es den Plan einer Ukraine-Front. Die Ausdehnung der EU, so Brzeziński, würde zwar eine europäische Entscheidung sein, für die NATO-Entscheidung indes sei die „Stimme der USA … noch immer maßgebend“. Da würde es bald auch um den Status der Ukraine gehen. [2] Noch ist Jelzin-Zeit, und eine mögliche Anwartschaft Russlands, in westliche Strukturen aufgenommen zu werden, steht im Raum. „Aber was wäre dann mit der Ukraine?“, zweifelt Brzeziński. „Russlands innenpolitische Erholung ist die wesentliche Voraussetzung für seine Demokratisierung und letztlich für seine Europäisierung. Aber jede Erholung seines imperialen Potenzials wäre beiden Zielen abträglich.“ [3]
Den Zerfall der Sowjetunion sieht der Autor sowohl mit Genugtuung als auch mit einer viel größeren Sensibilität als andere, was die Folgen betrifft. Er hat durchaus eine Antenne für „den historischen Schock, den die Russen erlitten“ und auch für ihre gemeinsame „panslawische Identität“ mit der Ukraine [4]. Er fühlt nach, was der Verlust der Ukraine mit ihren „52 Millionen Menschen, die den Russen ethnisch und religiös nahe genug standen, um Russland zu einem wirklich großen und selbstsicheren imperialen Staat zu machen“, [5] geostrategisch, wirtschaftlich und politisch-emotional bedeutet. Und er gibt russischen Analytikern sogar recht, „dass die USA in ganz Eurasien eine Reorganisation der zwischenstaatlichen Beziehungen anstrebten“ – ohne eine führende Macht, sondern mit vielen einzelnen, die sogar „im Kollektiv den Vereinigten Staaten zwangsläufig unterlegen seien“. [6]
Teile und herrsche. Schon spätestens seit 1994 (als Berater Clintons muss er es ja wissen) habe es in den USA eine „zunehmende Tendenz“ gegeben, den amerikanisch-ukrainischen Beziehungen höchste Priorität beizumessen und der Ukraine ihre neue nationale Freiheit bewahren zu helfen“. [7] Dass dies eine gefährliche Politik war – hier findet sich schon eine vage Ahnung. Wie sie damals von Helmut Kohl unterstützt worden ist, war mir bislang nicht bewusst. „Auch amerikanische Politiker bezeichneten das amerikanisch-ukrainische Verhältnis nun als eine ‚strategische Partnerschaft‘ und bedienten sich dabei bewusst desselben Begriffs, mit denen sie die Beziehungen der USA zu Russland beschrieben hatten.“ [8]
Aber „Russland war einfach zu rückständig und durch den Kommunismus zu heruntergewirtschaftet, um ein brauchbarer demokratischer Partner der Vereinigten Staaten zu sein. Über dieses Kernproblem konnte auch keine vollmundige Partnerschaftsrhetorik hinwegtäuschen.“ [9] Es ist tatsächlich frappierend, mit welcher Offenheit diese absichtsvolle Täuschung hier zugegeben wird und mit welcher Herablassung das geschieht. Wie sich der Ukraine-Konflikt ab 2014 zuspitzen würde, hat Brzeziński wohl dennoch nicht in aller Deutlichkeit vorausgesehen. In einem Artikel für die Washington Post am 3. März 2014 schlägt er eine Doppelstrategie vor: Androhung militärischer Stärke seitens des Westens und gleichzeitig Beschwichtigung, indem man Russland versichert, dass die Ukraine nicht in die NATO hineingezogen würde.[10]
Aber was derlei Versicherungen betraf, waren die Russen doch längst schon gebrannte Kinder. Dass der Ukraine ein NATO-Beitritt schon zwischen 2005 bis 2010 in Aussicht gestellt worden ist, wie hier verlautet, dürfte auch Moskau nicht entgangen sein.
Klartext, auch was Deutschland betrifft
Man staunt wirklich: Das Buch hätte eigentlich das Zeug zu einem Geheimpapier gehabt, welches keinesfalls politischen Widersachern vor Augen kommen soll. So aber konnte man es sich vielerorts auf der Welt zu Gemüte führen. In russischer Übersetzung kam es 1999 unter dem Titel „Velikaja schachmatnaja doska“ heraus und ist problemlos im Internet nachzulesen. Natürlich ist es faszinierend, sich Weltpolitik als großes Schachspiel vorzustellen. Wie Zbigniew Brzeziński diese intellektuelle Herausforderung genoss, die ihn anderen auch überlegen macht, ist nachzuvollziehen, und man hat beim Lesen daran teil. Doch welche Überheblichkeit, Staaten wie Spielfiguren zu behandeln! Ob Widersacher oder Vasall, sie werden charakterisiert, ob es ihnen so gefällt oder nicht. Armenier und Bulgaren, Chinesen und Esten, Franzosen und Georgier, Inder und Iraner, Japaner und Kasachen, Letten und Mongolen, Österreicher und Polen, Tadschiken und Türken … – aus US-amerikanischer Sicht scheint die Rangordnung unstrittig. Das muss man sich zu Gemüte führen. Wer noch nicht aus dem „American Dream“ erwacht ist, den Brzeziński der „Soft Power“ zuordnet, wer noch irgendwelche transatlantischen Illusionen hegt, der braucht dieses Buch geradezu, um zu Besinnung zu kommen.
Die drei Imperative imperialer Geostrategie werden klar benannt: „Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen sowie dafür zu sorgen, dass sich die ‚Barbarenvölker‘ nicht zusammenschließen.“ [11] Und wo ist Deutschlands Platz? Auf rund 50 Seiten wird man fündig und muss die Herablassung wohl akzeptieren. „Musterknaben“ im europäischen Brückenkopf werden wir genannt. Weil wir auf „historische Reinigung“ aus sind, wird uns die Aussöhnung mit Polen zugutegehalten. [12] „Selbst Deutschland ließe sich vielleicht dazu verleiten, eine französische Führungsrolle in einem vereinten aber (von Amerika) unabhängigen Europa zu akzeptieren, doch nur, wenn es in Frankreich tatsächlich eine Weltmacht sähe, die Europa die Sicherheit verschaffen könnte, die es selbst nicht gewährleisten kann, wohl aber die USA.“ [13]
Was die die Bestrebungen der USA und die unsrigen indes im Grundlegenden trennt, belegt ein weiteres Zitat: „Sich selbst überlassen, laufen die Europäer Gefahr, von ihren sozialen Problemen völlig vereinnahmt zu werden.“ Die Kosten der alle Bereiche erfassenden Ausweitung des sozialstaatlichen Systems, das Eigenverantwortlichkeit kleinschreibt“, würden sich ökonomisch und politisch schädigend auswirken. „Kulturelle Lethargie, eine Kombination von eskapistischem Hedonismus und geistiger Leere“ könnten von „nationalistischen Extremisten oder dogmatischen Ideologen ausgenutzt werden“. [14] Solche Einlassungen gegen das, was vom Sozialstaat noch übrig ist, werden wir in Zukunft wohl noch häufiger zu hören bekommen.
„Man kann nur wünschen, dass sich die Einsicht von der Gleichwertigkeit Europas im amerikanischen Denken allgemein durchsetzt“, schreibt Hans-Dietrich Genscher im Vorwort zur deutschen Ausgabe. [15] Fein diplomatisch: Als Vasall ist man Kummer gewohnt. Was würde er heute sagen? Werden die USA unter Trump auf unsere politischen und wirtschaftlichen Interessen noch weniger Rücksicht nehmen als unter seinen demokratischen Vorgängern? „Ich habe Nord-Stream 1 gestoppt“, gab Trump vor seiner Wahl zum Besten. [16] Inwieweit da etwas Wahres dran ist oder nicht, auf jeden Fall hat Deutschland sich auf lange Sicht durch die Wirtschaftssanktionen gegen Russland geschadet. Die USA profitieren durch die Lieferung von umweltschädlich gewonnenem Flüssiggas und werden künftig bei der Durchsetzung ihrer nationalen Interessen noch weniger Skrupel kennen.
„Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern“, stellte schon Zbigniew Brzeziński fest. Zwar fügt er hinzu, dass dies „kein gesunder Zustand“ sei [17], meint aber damit nicht mehr Eigenständigkeit für uns, was innerhalb der EU auch zugegebenermaßen schwierig wäre. Ein „gesunder Zustand“ wäre aus seiner Sicht vielmehr, dass alle im US-Interesse handeln, ohne dass man sie beaufsichtigen müsste. Als Anhänger der US-Demokraten ist der Autor guten Gewissens, für Freiheit und Frieden zu stehen, wie sie die USA aus seiner Sicht für die Welt garantieren könnten, wenn ihr Platz als „einzige Weltmacht“ nicht immer wieder angefochten würde. Dass dies irgendwie geschehen könnte, hat Brzeziński allerdings schon geahnt.
Ohne ein „langfristiges Miteinander“ geht es nicht
Im Nachwort von 2016 gibt Brzeziński zu, dass „Amerika sowohl im In- als auch im Ausland als geschwächt wahrgenommen“ wird, sich „Russland in die vorderste Linie des Weltgeschehens drängt“ [18] und China sich als „neu entstehende Weltmacht“ [19] entwickelt. „Die einzige Sache, die wirklich niemand will, ist, dass sich Russland und China verbünden.“ [20] Was Donald Trump in Arizona bei einem seiner letzten Wahlkampfauftritte sagte, ist also nicht neu. Dass Russland und China nun im Bunde sind, legt er seinem Vorgänger Biden zur Last. Henry Kissinger (1923-2023) hatte kurz vor seinem Tod gesagt: „Die größte Bedrohung für den Weltfrieden? Das sei eine Konfrontation zwischen den USA und China.“ [21]
Und auch Brzeziński war klug genug, vor einer wirklichen Kollision zurückzuweichen. Amüsant beim Lesen zu beobachten, welchen Zickzack-Kurs er einschlägt: Eben noch siegesgewiss am „Schachbrett“, kommt ihm dann doch zu Bewusstsein, dass es noch andere Spieler gibt, deren Selbstbewusstsein wächst. Umso eindringlicher mahnt er im „Ausblick“ von 2016 Lösungen an – für ein „langfristiges Miteinander aller drei Seiten … China, dem Problem der Zukunft, Russland, dem Unruhestifter der Gegenwart, und den Vereinigten Staaten, der alternden Supermacht, gefangen in den schlechten Gewohnheiten seiner Geschichte“. [22]
Ob vor dem Hintergrund einer neu entstehenden multipolaren Weltordnung eine Untersuchung wie die von Brzeziński überholt und somit obsolet geworden wäre? Im Gegenteil! Erstens sind die hier beschriebenen hegemonialen Bestrebungen noch längst nicht vom Tisch – in einer zunehmend krisenhaften Situation unter Präsident Trump könnten sie noch schärfere Formen annehmen – und zweitens bietet das Buch eine Schulung in geostrategischem Denken. In einer Rationalität, die gerade heutigen US-hörigen deutschen „Musterknaben“ (und -schwestern) verloren gegangen ist, sodass sie als Moralapostel international schon nicht mehr ernst genommen werden.
Aber: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ [23] – Was Egon Bahr am 3. Dezember 2013 bei einer „Willy-Brandt-Lesewoche“ vor 45 Gymnasiasten in Heidelberg sagte, hätte wohl sogar Brzezińskis Zustimmung gefunden.
Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft und der Kampf um Eurasien. Übersetzung Angelika Beck. Vorwort Hans-Dietrich Genscher. Nomen Verlag, 295 S., br., 20 €.
Titelbild: zef art/shutterstock.com
[«1] Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht, S. 70
[«2] ebenda, S. 76
[«3] ebenda, S. 78
[«4] ebenda, S. 125
[«5] ebenda, S. 128
[«6] ebenda, S. 143
[«7] ebenda, S. 143
[«8] ebenda, S. 155
[«9] ebenda, S. 144
[«10] washingtonpost.com/opinions/zbigniew-brzezinski-after-putins-aggression-in-ukraine-the-west-must-be-ready-to-respond/2014/03/03/25b3f928-a2f5-11e3-84d4-e59b1709222c_story.html
[«11] Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht, S.62
[«12] ebenda, S. 90
[«13] ebenda, S. 94
[«14] ebenda, S. 104f
[«15] ebenda, S. 13
[«16] berliner-zeitung.de/news/donald-trump-nord-stream-2-kreml-reagiert-li.2267990
[«17] Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht, S. 86ff
[«18] ebenda, S. 286
[«19] ebenda, S. 288
[«20] businessinsider.de/politik/international-politics/donald-trump-will-russland-von-china-trennen-experten-zweifeln/
[«21] welt.de/politik/ausland/article245512784/Kissinger-Ich-bin-uebrigens-nicht-der-Meinung-dass-alle-Schuld-bei-Putin-liegt.html
[«22] Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht, S. 289
[«23] schicketanz.eu/2016-08-egon-bahr-es-geht-um-interessen
Im zu Ende gehenden Jahr wurden bundesweit 23 Kliniken für immer zugemacht – mindestens. 90 weitere sind akut in ihrer Existenz bedroht. Dramatisch ist der Schwund bei der Geburtshilfe. In 30 Jahren haben sich die Kapazitäten mehr als halbiert. Der Gesundheitsminister will gegensteuern, mit „Kompetenzverbünden“, während seine Krankenhausreform die Versorgungslandschaft um Hunderte Standorte lichten soll. Eine Weihnachtsgeschichte, die im Straßengraben endet. Von Ralf Wurzbacher.
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Man stelle sich Karl Lauterbach (SPD) als Frau vor – Karlotta –, der es vergönnt wäre, ein Kind zu empfangen. Dann der Tag der Niederkunft, die Fruchtblase geplatzt, alles muss schnell gehen. Aber: keine Geburtsklinik weit und breit. Karlotta, von Wehen gekrümmt auf der Rückbank des Autos wimmernd, am Steuer ihr Gatte – nennen wir ihn Josef –, schweißgebadet und am Rande des Nervenzusammenbruchs. Das Krankenhaus vor Ort: vor zwei Jahren dichtgemacht. Das in der nächsten Kreisstadt: kein Kreißsaal. Das übernächste, 50 Kilometer weg: Personalmangel. Man ahnt, wie die Sache ausgeht …
Noch sind sie eine Seltenheit: Notgeburten auf halber Strecke zum Hospital. Vor fast einem Jahr zum Beispiel gebar eine Frau ihr Baby auf dem Seitenstreifen der Autobahn 99 bei München, unter Mithilfe ihres Mannes, „glücklicherweise Arzt“, der kurzerhand als Hebamme einsprang. Oder im Sommer 2023 in Norddeutschland: Weil gleich vier Standorte in Bremen sie nicht aufnehmen konnten, wurde eine Frau in den Wehen ins fast 80 Kilometer entfernte Vechta verfrachtet, wo die Geburt schließlich erfolgreich vonstattenging.
Kreißsäle im Schwund
Die Dinge enden nicht immer so glimpflich. Dabei werden sich solche Fälle häufen. Am Mittwoch machte das „Bündnis Klinikrettung“ im Rahmen einer Videokonferenz neue Zahlen zum allgemeinen Kliniksterben publik. 2024 gingen in bis dato 23 Häusern für immer die Lichter aus, und noch ist das Jahr nicht vorbei. Dazu wurde vielerorts der Betrieb einzelner Fachabteilungen eingestellt – darunter allein 13 Geburtshilfestationen, ein Bereich, „der schon seit Jahren dramatisch ausgedünnt worden ist“, wie es seitens der Initiative heißt. So habe sich die Anzahl der Kreißsäle „in den letzten 30 Jahren mehr als halbiert“, nur noch ein Drittel der Krankenhäuser könne Gebärende versorgen.
Offensichtlich rentiert es sich nicht mehr, Kinder zur Welt zu bringen – für ein sogenanntes Gesundheitssystem, das einzig entlang betriebswirtschaftlicher Parameter tickt. Wirft die Babystation keinen Gewinn ab oder macht sie gar Verluste, dann wird abgewickelt, dann hat es sich ausgewickelt. So einfach ist das. Der Bundesgesundheitsminister nahm dieser Tage Empfehlungen für eine Reform der Geburtshilfe durch die Regierungskommission Krankenhäuser in Empfang. Richten sollen es demnach „perinatalmedizinische Kompetenzverbünde“, um so die Betreuung von Schwangeren, insbesondere Risikopatientinnen zu verbessern und Komplikationen bei der Geburt zu reduzieren. Das klingt innovativ, wird aber den massiven Kahlschlag in der Breite der Versorgungslandschaft nicht wettmachen. Wo kein Kreißsaal mehr ist, wird auch kein neuer dadurch entstehen, dass sich einzelne Standorte zusammenschließen. Bestenfalls wird der Schwund gebremst.
Kahlschlag politisch gewollt
Dabei ist die Lage schon jetzt dramatisch, wie Lauterbach selbst einräumen musste. In den vergangenen Jahren sind in Deutschland im Schnitt drei von 1.000 Lebendgeborenen gestorben. Damit rangiert die eigentlich so reiche BRD unter dem EU-Mittel hinter einer ganzen Reihe anderer europäischer Staaten. „Das ist bestürzend. Wir haben wenige Kinder, und diese Kinder sollten sicher und gut geboren werden“, bekundete Lauterbach. Und was unternimmt er? Mit seiner „großen Krankenhausreform“ drohen nicht nur Hunderte mehr Kliniken von der Landkarte zu verschwinden, davon freilich auch solche mit Geburtsstation. Die Flurbereinigung ist sogar ausdrücklich gewollt. Erst vor einem Monat hatte Lauterbach der Bild wieder gesagt: „Es ist ganz klar, dass wir in zehn Jahren spätestens ein paar Hundert Krankenhäuser weniger haben werden“, weil „dafür haben wir nicht den medizinischen Bedarf“.
Nach einer durch sein Ministerium selbst in Auftrag gegebenen Analyse könnten in Zukunft nicht weniger als 358 Krankenhäuser zu sogenannten Level-1i-Standorten degradiert werden, die „stationäre Leistungen der interdisziplinären Grundversorgung wohnortnah mit ambulanten fachärztlichen Leistungen als auch mit medizinisch-pflegerischen Leistungen“ verbinden sollen. Für Kritiker wären das faktisch keine Krankenhäuser mehr beziehungsweise stünden sie ganz oben auf der Abschussliste. Der Minister findet das alles prima, denn „jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite, Klinik schließen sollten“, wie er 2019 freimütig bekannte, als er noch SPD-Abgeordneter war.
Investoren überversorgt
Tatsächlich sind „jeder“ ein paar wenige einschlägige Gesundheitsökonomen, die als Lobbyisten der großen Klinikkonzerne seit Jahr und Tag das Lied von der „Überversorgung“ singen. Dabei wird hierzulande tatsächlich „überversorgt“, etwa in Gestalt jährlich Zigtausender medizinisch zweifelhafter, aber lukrativer Hüft-, Kniegelenks- und Wirbelsäulenoperation. „Da sind wir tatsächlich mehrfache Weltmeister“, befand der ehemalige Chefarzt Thomas Strohschneider im Interview mit den NachDenkSeiten zu seinem Buch „Krankenhaus im Ausverkauf“. Echte Unterversorgung zeigt sich dagegen dann, wenn es gefährlich wird, wenn Ärzte und Kliniken nicht mehr wohnortnah zu erreichen sind, am Mangel an Betten, Ärzten, Pflegerinnen, Medikamenten – alles Kennzeichen des deutschen Gesundheitswesens.
Es geht um die Grundsatzfrage: Sollen Krankenhäuser Profitmaximierungsanstalten sein? Dann stimmt die Rechnung der Neoliberalen, dass ein breit aufgestelltes System zu „teuer“ und „ineffektiv“ ist, weil es die Umverteilung zugunsten der Big Player hemmt. Oder sollen Krankenhäuser den Menschen dienen und flächendeckend Kapazitäten vorhalten, die viel Geld kosten können und müssen, aber keine Investoren reich machen? Lauterbach hatte seine Wahl spätestens 2003 mit den in seiner Mitverantwortung eingeführten Fallpauschalen (Diagnosis Related Group – DRG) getroffen, womit die Kommerzialisierung und Privatisierung der Krankenhäuser maßgeblich vorangetrieben wurde. Die DRGs bescheren vor allem großen und spezialisierten Häusern Gewinne, während sie den kleinen die Substanz rauben. Die Konsequenz: 40 Prozent der Allgemeinkrankenhäuser gehören inzwischen privaten Trägern, 31,5 Prozent gemeinnützigen und nur noch 28,5 Prozent der öffentlichen Hand. 1991 verwaltete der Staat noch fast die Hälfte aller Kliniken.
Kalte Flurbereinigung
Die nun geplante sachte Abkehr vom DRG-System, ergänzt durch flankierende Vorhaltepauschalen, ist kaum mehr als eine Beruhigungspille, die von der mit noch mehr Wucht forcierten Zentralisierung zum Vorteil der Platzhirsche ablenken soll. Kernstück der Pläne ist eine stärkere medizinische Spezialisierung. Vor allem kleinere Häuser sollen in Zukunft weniger Leistungen anbieten und größere Eingriffe den Großen überlassen. Das wird die Pleitewelle, insbesondere in ländlichen Regionen, noch befeuern. Wirklich glaubhaft wirken deshalb auch die Einlassungen des Ministers nicht, mit seiner Reform der Dynamik Einhalt gebieten zu wollen. Ihn stört angeblich, dass der Aderlass so ungeordnet vonstatten geht, während er lieber nach Plan plattmachen will. Seinen „Kummer“ muss man ihm trotzdem nicht abnehmen. Was sollte er dagegen haben, dass sich die Arbeit einstweilen wie von selbst erledigt?
Nach den am Mittwoch vorgelegten Zahlen wurden in den zurückliegenden fünf Jahren bundesweit über 90 Kliniken dichtgemacht. 2023 bildete den vorläufigen Höhepunkt mit 25 Abwicklungen. 2024 waren es bisher zwei weniger. Leidtragende sind neben der örtlichen Bevölkerung insgesamt 5.000 Beschäftigte, wobei der Großteil der Arbeitsplätze in der Regel wegfällt und nur in „manchen Fällen“ eine Alternative vor Ort Abhilfe schafft. Eigentlich verspricht Lauterbach für alle geschlossenen Häuser Ersatzlösungen, sogar mit qualitativen Verbesserungen in der Breite. Das „Bündnis Klinikrettung“ hatte dies zu Jahresanfang durch Recherchen widerlegt. „Bei 77 Prozent der untersuchten Schließungen gingen die Betten vollständig verloren, nur in fünf Prozent der Fälle wurden alle Betten erhalten – aber nicht vor Ort.“ In einem Drittel der Fälle sei die Versorgung „komplett“ weggefallen. Nach diesem Muster geht es weiter. Auf kurze Sicht stünden allein 90 weitere Standorte „akut“ auf der Kippe, warnten die Aktivisten.
Reform auf der Kippe
Auch die Bürger haben ihre Wahl getroffen. In einer durch die Aktivisten beim Civey-Institut in Auftrag gegebenen Umfrage plädieren über 85 Prozent der Teilnehmer für eine gemeinnützige Ausrichtung von Krankenhäusern. Nur knapp sechs Prozent befürworten die Gewinnorientierung. Zugleich rechnen mehr als 62 Prozent mit weiteren Verschlechterungen bei der medizinischen Versorgung infolge der Lauterbach-Reform. Lediglich 13,6 Prozent erwarten eine Verbesserung.
Der Gesundheitsminister wird die Ergebnisse tunlichst übersehen. Zumal er fürchten muss, dass seinem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG), dem Kern seiner Klinikreform, kurz vorm Zieleinlauf die Luft ausgeht. Nach dem Bruch der Ampel fehlen plötzlich die nötigen Mehrheiten in Bund und Ländern, und die Union droht offen damit, die Vorlage scheitern zu lassen. Am heutigen Freitag befasst sich der Bundesrat mit dem Regelwerk. Mehrere Länder haben Widerstand angekündigt und wollen den Vermittlungsausschuss anrufen, darunter Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und wohl auch Bayern. Für Spannung ist gesorgt.
Gesundheit für alle
Müsste das Gesetz noch einmal zur Inspektion, will CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt nicht mehr mitmachen. „Die Vorstellung, dass man sich auf Basis eines verkorksten Lauterbach-Gesetzes auf Reparaturmaßnahmen einigen könnte, die das Gesetz zustimmungsfähig machen, halte ich für nicht realistisch“, äußerte er sich zu Wochenbeginn. Bei den Klinikrettern wächst deshalb die Zuversicht. „Stoppen Sie Lauterbachs Blindflug, schicken Sie das KHVVG zur Nachbesserung in den Vermittlungsausschuss“, heißt es in einem Appell mehrerer gesundheitspolitischer Verbände an die Landesregierungen.
„Das KHVVG in der derzeitigen Form darf nicht in Kraft treten!“, betonte Arndt Dohmen, Sprecher vom Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“, bei besagtem Pressetermin am Mittwoch.
„Was wir brauchen, ist eine Strukturreform, die für die Zukunft ermöglicht, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: eine für alle Menschen gut erreichbare, durch Kooperation aller Akteure qualitativ hochwertige und nicht ökonomischem Zwang unterworfene stationäre Behandlung für alle Menschen, egal wo sie wohnen und wie sie versichert sind.“
Das klingt fast wie Weihnachten. Müsste Karlotta nicht gerade im Straßengraben gebären, würde sie das bestimmt unterschreiben …
Titelbild: Katharina Greve
Trotz des hoch entwickelten Talents der Spurenbeseitigung bei Korruptionsskandalen im Land kommen immer wieder Skandale ans Licht, und das gegenwärtig „am laufenden Band“. Ein bekanntes Beispiel der Spurenbeseitigung war die „Kasse B“ der Rechtspartei PP. Aus der bezog nach Enthüllungen von Luis Bárcenas, lange Zeit Schatzmeister dieser Partei, die gesamte Führungsriege der Rechtspartei, der Regierungschef Mariano Rajoy eingeschlossen, jahrelang ein zweites Gehalt – aus Korruptionsgeldern. Von Eckart Leiser.
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Damals tauchte ein Zettel in den Medien auf mit einer von Bárcenas erstellten handschriftlichen Liste der Empfänger, einer davon mit der Abkürzung „M. Rajoy“. Wer das wohl war? Aus derselben Kasse von Bestechungsgeldern wurde seinerzeit der Millionen teure Umbau der Madrider Parteizentrale finanziert. Als Bárcenas dann während der Ermittlungen gegen ihn Datenträger mit weiteren Beweisen vorlegen wollte, war es zu spät: Sein Büro in der Zentrale der Volkspartei war „gesäubert“ worden: alle Datenträger vernichtet. Und eine in seinem Privatbereich aufbewahrte Kopie hatten Einbrecher entwendet. Geradezu filmreif. Am Ende wurde Bárcenas zu zwei Jahren Haft verurteilt – wegen illegaler Finanzierung des Umbaus der Parteizentrale. Er blieb der Einzige in diesem Skandal, der ein Gefängnis betrat.
Nach einigen ruhigeren Jahren kommen die Korruptionsskandale zurzeit aber zurück, und zwar „Schlag auf Schlag“. Dieser Tage wurde Eduardo Zaplana, Ex-Regierungschef der autonomen Region Valencia und später Minister sowie Regierungssprecher in Madrid unter José María Aznar, zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er hatte über 20 Millionen Euro Bestechungsgelder angesammelt, die dann in Steueroasen wie Andorra und Panama geparkt wurden. Wegen seines Gesundheitszustands wird ihm wohl die Haft erspart bleiben.
Aber auch aktive Politiker sind dabei: Jüngst kam heraus, dass José Luis Ábalos, Minister für Entwicklung und später für Verkehr unter dem sozialistischen Regierungschef Pedro Sánchez, sich von einem Unternehmer aushalten ließ, dem er an den vorgeschriebenen Wegen vorbei – so der Verdacht – Aufträge zugeschanzt hatte. In diesem Fall hatte Pedro Sánchez seinen Minister anlässlich sich mehrender Ungereimtheiten schon vor drei Jahren entlassen.
Ähnliche Skandale gibt es in der Rechtsregierung der autonomen Region Galicien. Diese hat dem Bruder der „rechten Hand“ des Regierungschefs Alfonso Rueda ohne Ausschreibung 272 kleinere Aufträge zugeschanzt. Ein ähnlicher Fall – bisher nur ein Verdachtsfall – findet sich in Andalusien. Das dortige Gesundheitssystem vermeidet Ausschreibungen, etwa beim Einkauf von Medikamenten, indem es die Einkäufe auf Beträge von weniger als 30.000 Euro stückelt – eine Größenordnung, bei der Ausschreibungen nicht vorgeschrieben sind: Ein Auftrag über 300.000 Euro wird so in zehn Aufträge von 30.000 Euro zerlegt, und das immer an die gleichen Pharmakonzerne wie Pfizer, Roche, Sanofi usw. Der Effekt: Bei diesen Größenordnungen ist das in Spanien übliche Aushandeln von Rabatten nicht möglich – eine für die Pharmakonzerne also vorteilhafte Praxis. Wie weit die Einkäufer an diesem Vorteil beteiligt werden, ist bisher unbekannt. Die Rechtsprechung spricht hier von Gesetzesbeugung.
Schließlich die Autonome Region Madrid: Hier hat Alberto González Amador, Lebenspartner der Regierungschefin Isabel Ayuso, die sich gern als spanische Version von Marine Le Pen gebärdet, Pech gehabt: Die Steuerfahndung fand heraus, dass er für seine Geschäfte mit überteuertem medizinischen Pandemie-Material mehr als 350.000 Euro an Steuern hinterzogen hat. Nebenbei gesagt lebt er mit Isabel Ayuso in einem Luxus-Chalet in Madrid, von dem man nicht weiß, wem es gehört. Und der „Führer“ der faschistischen Partei Vox, Santiago Abascal, bedient sich anscheinend persönlich aus einer von ihm gegründeten Stiftung, die aus Parteigeldern finanziert wird.
Es gibt aber auch Parteien ohne Korruptionsskandale, etwa Podemos oder die katalanische „Republikanische Linke“. Dies sind allerdings die Parteien, die permanent von „Lawfare“-Richtern wie Manuel García Castellón verfolgt werden, etwa auf der Suche nach ihrer Finanzierung aus Venezuela, Iran oder Russland.
Man könnte meinen, alle Parteien seien jetzt damit beschäftigt, ihre „Korruptionswunden“ zu lecken. Weit gefehlt: Der Chef der Rechtspartei, Alberto Núnez Feijóo, fordert wegen des „Falls Ábalos“ den Rücktritt der Regierung. Pedro Sánchez wiederum hält das für blanken Zynismus seitens einer Partei, „die von „A“ (Ayuso) bis „Z“ (Zaplana) für jeden Buchstaben des Alphabets einen Korruptionsskandal hat“. Übrigens darf bei alledem nicht vergessen werden, dass der abgetretene spanische König Juan Carlos I, eine Art Verkörperung der Korruption, das Vorbild für all diese Skandale liefert. Er hatte seine Exzesse nicht nur mit einem umfangreichen Geldwäscheapparat finanziert, sondern – wie unlängst bekannt wurde – sich die an seine langjährige Geliebte Bárbara Rey gezahlten Schweigegelder aus der Staatskasse bezahlen lassen. So what?
Titelbild: oxinoxi/shutterstock.com
Das Urteil sorgte deutschlandweit für Empörung: Im Oktober sprach ein US-Militärgericht, trotz abgelegten Geständnisses, einen US-Soldaten frei, der im rheinland-pfälzischen Wittlich einen deutschen Staatsbürger mit mehreren Messerstichen getötet hatte. Jetzt nahm das Ganze nach einer Anfrage des Landtagsabgeordneten Andreas Hartenfels (BSW) eine interessante Wendung. In Reaktion erklärte der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin, „die Durchführung des NATO-Truppenstatuts und des Zusatzabkommens“ auf den Prüfstand stellen zu wollen. Die NachDenkSeiten wollten wissen, ob die Bundesregierung die Einschätzung aus Mainz teilt und plant, diese dabei zu unterstützen. Zudem kam die Frage auf, wieso das Zusatzabkommen, welches das Post- und Fernmeldegeheimnis aufhebt und bis heute den USA den Eingriff in das System der deutschen Strafverfolgung erlaubt – und damit verfassungswidrig ist – nicht aufgekündigt wird. Von Florian Warweg.
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Hintergrund
Im August 2023 war der deutsche Staatsbürger Micha O. auf einer Kirmes im rheinland-pfälzischen Wittlich mit einer Gruppe von betrunkenen US-Soldaten in Streit geraten. Im weiteren Verlauf wurde Micha O. mit mehreren Messerstichen getötet. Der beschuldigte US-Soldat legte bereits am nächsten Tag gegenüber deutschen und US-Ermittlern ein Geständnis ab und beschrieb dabei detailliert die Tatwaffe und nannte auch den genauen Ort, wo er die Tatwaffe in den Fluss Lieser in Wittlich geworfen hatte. Doch trotz dieses Geständnisses sprach ihn eine Jury des US-Militärgerichts auf der US-Luftwaffenbasis Spangdahlem frei. Eine Urteilsbegründung erfolgte nicht. Auch eine Nebenklage der Eltern des getöteten deutschen Staatsbürgers war in diesem Rahmen ebenso wenig möglich wie eine Berufung.
Peter Fritzen, der Leitende Oberstaatsanwalt in Trier, erklärte diesbezüglich gegenüber Medienvertretern:
„Hier ist nicht bekannt, auf welche Tatsachen das US-Militärgericht seine Entscheidung gestützt hat und warum es die Auffassung vertreten hat, die Aussage sei nicht freiwillig gewesen.“
Der Fall wurde gemäß dem Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, ein Abkommen, das nur für Deutschland und kein anderes NATO-Land gilt, wenige Tage nach der Tat an die US-Behörden übergeben.
Familie des Opfers: „Wir werden nicht aufgeben“
Die Familie des Opfers will sich damit nicht abfinden. Im Gespräch mit den NachDenkSeiten erklärte der Vater von Micha O., dass sie bereit seien, „bis zum Schluss zu gehen“. Sie hätten bereits zahlreiche Politiker angeschrieben und den Petitionsausschuss des Bundestages um eine Prüfung des Falls gebeten. Auch ein Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg werde derzeit von ihnen geprüft sowie mögliche rechtliche Schritte in den USA. Für den 24. November hat die Familie und ein Unterstützerkreis zu einer weiteren Demonstration an der Air Base Spangdahlem unter dem Motto „Justice for Micha“ (Gerechtigkeit für Micha) aufgerufen. An einer ersten Protestkundgebung am 18. Oktober hatten rund 700 Personen teilgenommen.
BSW-Abgeordneter fragt nach und Justizminister reagiert
Vor diesem Hintergrund stellte der Landtagsabgeordnete Andreas Hartenfels (seit Januar 2024 BSW-Mitglied) eine Kleine Anfrage an das zuständige Justizministerium in Mainz. In dieser fragte er unter anderem nach, warum die Staatsanwaltschaft Trier den Fall an die US-Militärjustiz abgegeben hatte, ob die Landesregierung an der Entscheidung beteiligt war und wie diese den Freispruch des US-Soldaten trotz vorliegendem Geständnis bewertet:
Auf die Frage nach der Bewertung des Urteils kündigte der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin in seiner Antwort vom 11. November an, „die Durchführung des NATO-Truppenstatuts und des Zusatzabkommens“ auf den Prüfstand zu stellen:
„Die Landesregierung wird die Strafverfolgung im konkreten Verfahren allerdings zum Anlass nehmen, etwaigen Handlungsbedarf im Hinblick auf die Durchführung des NATO-Truppenstatuts und des Zusatzabkommens zu prüfen.“
Ist das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut verfassungswidrig?
Das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut und die damit verbundene „geheime Note“ trat 1963 in Kraft und hebt unter anderem das Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses in Deutschland auf und erlaubt den USA einen Eingriff in das System der deutschen Strafverfolgung. Der zweite Teil des Satzes ist bewusst im Präsens gehalten. Denn der Freiburger Historiker Josef Foschepoth fand zu Beginn der 2000er-Jahre bei einer Archivrecherche im Auswärtigen Amt geheime Vereinbarungen zwischen der Bundesregierung und den Westalliierten. Seine Erkenntnisse fasste der Historiker in seinem 2012 erschienenen Buch “Überwachtes Deutschland” zusammen und weist darin nach, dass die von den Westalliierten mit den damaligen Bonner Regierungen getroffenen geheimen Vereinbarungen, die insbesondere den US-Geheimdiensten freie Hand in der Bundesrepublik einräumten, zum großen Teil bis heute gültig sind.
Im Zuge der vom Whistleblower Edward Snowden enthüllten Überwachungspraktiken der Vereinigten Staaten und auch Großbritanniens in Deutschland erhielten Foschepoths Forschungsergebnisse neue Relevanz und Aufmerksamkeit. Dies führte zu aus heutiger Perspektive erstaunlich kritischen Artikeln und Interviews zum Thema eingeschränkte deutsche Souveränität gegenüber den USA in den Leitmedien. Exemplarisch sei auf das Interview in der Süddeutschen Zeitung (SZ) von Juli 2013 unter dem Titel „Die NSA darf in Deutschland alles machen“ sowie den Artikel in der FAZ „Amerika darf Deutsche abhören“ verwiesen.
In den diesbezüglichen SZ-Beiträgen zum Thema fallen zum Beispiel Sätze wie:
„In diesem Sonderrecht spiegeln sich nach wie vor Sieger- und Besatzungsrecht wider.“
„Truppenstatut, Verwaltungsvereinbarung und geheime Note überdauerten auch die Wiedervereinigung, sie gelten bis zum heutigen Tage weiter.“
„Die Bundesregierung hat inzwischen zugegeben, dass die Verwaltungsvereinbarung von 1968 noch in Kraft ist.“
Auch dieser Passus würde es heute wohl nicht mehr in dieser Form in die SZ schaffen:
„Letztlich ist es nun Sache der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft, den nötigen Druck zu erzeugen, der in der Lage ist, die beschädigte Verfassung, die teils schlimmen gesetzlichen Regelungen und Paragrafen, nicht zuletzt die noch geltenden deutsch-alliierten geheimen Vereinbarungen zu ändern beziehungsweise abzuschaffen. Dazu muss die Politik aber erst einmal bereit sein.“
Zuvor hatte bereits der Medienanwalt Markus Kompa das Thema in dem Onlineportal Telepolis aufgegriffen gehabt sowie der ehemalige Nachrichtenredakteur der Tagesschau (und heute vehementer Kritiker derselbigen) Volker Bräutigam in der Zeitschrift Ossietzky.
Vor diesem skizzierten Hintergrund mutet es geradezu bizarr an, dass die Vize-Regierungssprecherin Christiane Hoffmann auf die Frage, wieso die Bundesregierung bisher dieses Zusatzabkommen noch nicht aufgekündigt hat, antwortet:
„Dafür sehen wir keinen Grund.“
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 20. November 2024
Frage Warweg
Wir hatten ja bereits vor drei Wochen das Thema, dass ein US-Militärgericht im Oktober einen US-Soldaten trotz abgelegten Geständnisses freigesprochen hatte, der einen deutschen Staatsbürger in Wittlich mit mehreren Messerstichen getötet hatte. Jetzt hat am 11. November vor diesem Hintergrund der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin erklärt, die Durchführung des NATO-Truppenstatuts und des Zusatzabkommens zu prüfen. Da würde mich interessieren: Teilt denn die Bundesregierung die Einschätzung aus Mainz, dass es angesichts dieses Skandalurteils des US-Militärgerichts notwendig sei, sowohl das NATO-Truppenstatut als auch das entsprechende Zusatzabkommen auf den Prüfstand zu stellen? Und wenn ja, plant man, den rheinland-pfälzischen Justizminister bei diesem Vorhaben zu unterstützen?
Dr. Fuchs (BMJ)
Ich kann an dieser Stelle weder ausländische Urteile kommentieren noch haben wir eine Meinung zu diesem Vorgang. Insofern kann ich Ihnen dazu nichts mitteilen.
Zusatzfrage Warweg
Dann in dem Zusammenhang vielleicht noch eine generelle Verständnisfrage: Jetzt gilt dieses Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, das auch im aktuellen Fall eine zentrale Rolle spielt. Viele Staatsrechtler sehen das als verfassungswidrig, weil es das Grundrecht auf Unverletzlichkeit, das Post- und Fernmeldegeheimnis, aufhebt und bis heute den USA einen Eingriff in das System der deutschen Strafverfolgung erlaubt. Da würde mich grundsätzlich interessieren, wieso die Bundesregierung bisher dieses Zusatzabkommen noch nicht aufgekündigt hat.
Vizeregierungssprecher Hoffmann
Dafür sehen wir keinen Grund.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 20.11.2024
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Deutsche Politiker und Journalisten reden aktuell die Gefahr eines Atomkriegs klein, um den verlorenen Ukrainekrieg noch in die Länge zu ziehen. Russische Drohungen mit Atomwaffen sollen hier nicht verteidigt werden – aber die deutsche Diplomatie wäre verpflichtet, diese Gefahren ernst zu nehmen, um Schaden von den Bürgern abzuwenden. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Russlands Präsident Wladimir Putin hat am Dienstag die seit Monaten angekündigte Verschärfung der russischen Atomdoktrin in Kraft gesetzt, wie die Tagesschau berichtet. Das Dokument zähle Bedrohungsszenarien auf, in denen Russland zu Atomwaffen greifen könnte. Neu sei unter anderem, dass Moskau die Aggression eines nichtnuklearen Staates, der aber von Atommächten unterstützt wird, als gemeinsamen Angriff auf Russland wertet. Das richte sich gegen die Atommächte USA, Großbritannien und Frankreich, so der Artikel, in dem sich weitere Details zur Sache finden.
In dieser brisanten Situation hat sich Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) laut Medienberichten „unbeeindruckt“ von Russlands geänderter Atomwaffendoktrin gezeigt. Putin spiele mit der Angst, dies sei seit Beginn des Ukraine-Kriegs immer wieder deutlich geworden, sagte die Grünen-Politikerin nach einem Treffen mehrerer europäischer Außenminister in Warschau. Dann sagte sie, wie so oft in stilistisch und inhaltlich unangemessener Weise:
„Wir lassen uns nicht einschüchtern, egal, was immer wieder Neues herumposaunt wird.“
Es geht aber in dieser Frage um Leben und Tod – und nicht um Haltungsnoten. Es geht also nicht darum, den Eindruck zu erwecken, dass einen solche Drohungen nicht beunruhigen würden – wen solche Drohungen nicht beunruhigen, der ist an verantwortlicher Stelle völlig fehl am Platze.
Statt eine unangemessene Unberührtheit von den beunruhigenden russischen Reaktionen zur Schau zu tragen, müsste jetzt (ganz im Gegenteil) vom ideologischen Ross heruntergestiegen und mit (möglicherweise unspektakulärer) Diplomatie der kleinen Schritte auf einen Waffenstillstand hingearbeitet werden.
Die Behauptung „Wenn Putin in der Ukraine nicht verliert, dann macht er einfach weiter“ – sie ist nichts weiter als eine nicht belegte Behauptung. Russland wäre sogar – entgegen vieler Darstellungen – noch immer bereit, etwa Energie an Deutschland zu liefern, wenn die deutsche Regierung daran Interesse zeigen würde, wie es etwa in diesem aktuellen Bericht der TASS heißt. Dass dieses Interesse von deutscher Seite nicht gezeigt wird, richtet sich direkt gegen die Interessen der Bürger hierzulande.
Atomwaffeneinsatz ist nicht zu rechtfertigen
In diesem Text soll keine moralische Verteidigung eines möglichen russischen Einsatzes von Atomwaffen vorgenommen werden. Ein solcher Einsatz ist meiner Meinung nach moralisch nicht zu rechtfertigen, egal wie dramatisch oder blumig die Rechtfertigungen vorher oder hinterher klingen mögen.
Darum soll hier nicht die moralische Dimension eines möglichen Einsatzes debattiert werden, sondern allein, wie die deutsche Politik einen Beitrag dazu leisten kann, dass er nicht stattfindet – auch wenn dafür Abstriche bei der eigenen Ideologie und bei manchen eigenen moralischen Vorstellungen gemacht werden müssen.
Auch ein Atomschlag „als Verteidigung“ ist meiner Meinung nach nicht zu rechtfertigen: Ich würde als Präsident mein Land eher von feindlichen Mächten besetzen lassen, als die Welt mit Atomraketen in Schutt und Asche zu legen. Ich glaube aber, dass wohl nur wenige Staatschefs dieser Welt so handeln würden. Darum muss man mit der theoretischen Möglichkeit eines (aus Sicht Russlands) „verteidigenden“ Atomschlags umgehen – moralische Feststellungen sind hier irrelevante Worthülsen.
Zum Prinzip der Atomdoktrin
Noch ein Wort zum Prinzip der Atomdoktrin: Das „Gleichgewicht des Schreckens“ und Drohungen mit atomaren Reaktionen sind einerseits eine schwer zu akzeptierende Realität. Andererseits haben Atomdoktrin aber durchaus einen Sinn – nämlich für potenzielle Gegner die Schwelle für „militärische Abenteuer“ sehr hoch zu legen. Diese hohe Schwelle hat möglicherweise schon zahlreiche Kriege verhindern können. Diese Schwelle kann auch eine politische Krücke für „Zauderer“ wie Kanzler Scholz sein, weil er sich in seiner „Mäßigung“ auf unkontrollierbare Gefahren berufen kann. Dem „Gleichgewicht des Schreckens“ nun den Schrecken auszureden, wie es in diesem Artikel geschildert wird, ist darum verantwortungslos und kann Kriegstreiberei stützen.
Die Appelle, die russischen Sicherheitsbedenken und die daraus folgenden russischen Drohungen ernst zu nehmen, haben nichts mit einem „Einknicken“ vor Russland oder mit einer Anhängerschaft von militärischen Lösungen zu tun. Sie folgen stattdessen der Akzeptanz einer unleugbaren und grausamen Realität, die über Deutschland, Europa und die Welt hineinzubrechen droht und deren Abwendung das oberste Ziel der deutschen Diplomatie sein sollte.
Die Abwesenheit von einem gesunden Selbsterhaltungstrieb in der deutschen Politik und in der Folge die Weigerung etwa des grün geführten Außenministeriums, im Sinne der Bürger gefährliche Eskalationen zu vermeiden, die zudem das proklamierte Ziel verfehlen („Russland ruinieren“) – sie sind nur noch als irrational und gefährlich zu bezeichnen. Motiviert wird dieses Verhalten mutmaßlich vor allem durch den Willen, wirtschaftliche und militärische US-Interessen zu bedienen.
„Putin blufft“
Es gibt zahlreiche weitere verantwortungslose Stimmen aus Medien und Politik, die das Risiko eines Atomkriegs verniedlichen wollen oder Russlands aktuelle Äußerungen damit entkräften wollen, dass sie „nicht neu“ oder nicht ernst zu nehmen seien. Exemplarisch sollen hier Artikel im Spiegel betrachtet werden. In einem aktuellen Beitrag, den Thomas Röper hier besprochen hat, bemüht sich das Magazin um Entdramatisierung:
„Dass Russland mit Atomschlägen oder einem Weltkrieg droht, ist nicht neu. Putin hatte im Zuge seines Angriffskrieges gegen das Nachbarland immer wieder mit Nuklearwaffen gedroht und das Arsenal in erhöhte Bereitschaft versetzt. Vor dem Hintergrund der Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine diskutierte Russland seit Längerem eine Änderung seiner Atomdoktrin.“
Bereits Ende August hatte der Spiegel unter dem Titel „Wladimir Putin und seine Schauermärchen von den roten Linien“ Verniedlichung betrieben. Die Autorin Ann-Dorit Boy, die laut Spiegel auch „Public Information Officer bei UN OCHA in Kiew“ war, schreibt:
„Die Erkenntnis, dass Putins Drohungen leer sind, ist nicht neu. Der Kreml hat in seinem Krieg gegen die Ukraine schon viele angeblich rote Linien gezogen. Militärhilfe von Drittstaaten sollte tabu sein, später Angriffe auf die Brücke zur Halbinsel Krim, die Lieferung von weitreichenden Raketen und Marschflugkörpern und F-16-Kampfjets. Alle diese Linien sind überschritten worden. Passiert ist nichts.“
So geht das dann weiter: „Putin blufft“, man frage sich, wo Putins echte rote Linie eigentlich verlaufe, es sei höchste Zeit, dass der Westen aufhöre, „den Ukrainern aus Angst die Hände hinter dem Rücken zusammenzubinden“, statt Putins vermeintliche rote Linien zu respektieren, müsse man ihn „in die Schranken weisen“.
Diese Propaganda kann gar nicht verlieren
So klingt gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit. Mit solchen Positionen kann man auch kaum verlieren: Wenn Russland weiterhin auf den Einsatz von Atomwaffen verzichtet, haben diese Stimmen „recht gehabt“. Und wenn russische Atombomben in Deutschland einschlagen sollten, wird keiner mehr fragen, wer es (vorsätzlich) versäumt hat, diese katastrophale Zuspitzung zu verhindern.
Titelbild: Alexandros Michailidis / Shutterstock
Die NachDenkSeiten-Nahostkorrespondentin Karin Leukefeld ist wieder zurück im Libanon. In ihrem neuesten Text „Gedanken im Flug“ setzt sie sich mit den Auswirkungen des Nahostkonflikts auf den Libanon auseinander. Durch die Perspektive einer Reisenden werden die Zerstörung, das Leid der Menschen und die Hintergründe eines jahrzehntelangen Konflikts beschrieben. Dies schafft Raum für Reflexion über die Verantwortung der internationalen Politik und die Konsequenzen kolonialer Machtstrukturen.
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Der Flug war ruhig. Die Flugbegleiterinnen freundlich wie immer, die Passagiere waren in Gedanken, in Schlaf oder in leise Zwiegespräche versunken. Nur zwei Babies protestierten lautstark bei Start und Landung – dann soll der Druck auf das Trommelfell der kleinen Reisenden schmerzhaft hoch sein.
Der Pilot hätte ruhiger nicht sein können. Außer den vorgesehenen Anweisungen an die Flugbegleitung vor dem Start und vor der Landung war von ihm während des ganzen Fluges nichts zu hören. Der langsame Anflug auf den Internationalen Flughafen von Beirut führte von der türkischen Mittelmeerküste über die Insel Zypern. Gigantische Wolkentürme ragten über der Insel empor, deren nördlicher Teil seit 1974 von der Türkei besetzt ist. Im Gegensatz zu den schwarzen Wolken, die die Luftangriffe der israelischen Kampfdrohnen und Kampfjets über dem Libanon aufsteigen lassen, waren die Wolkentürme am späten Nachmittag über Zypern in ein warmes Rot der untergehenden Sonne gefärbt.
Erst kurz vor der libanesischen Küste lenkte der Pilot die Maschine nach Süden, um den Internationalen Flughafen Rafik Hariri anzusteuern. Lichter blinkten entlang der Küste, über dem Hafen von Beirut und über der Stadt, die die Maschine bei Ras Beirut erreichte. Die Passagiere waren still, alle versuchten, durch die Fenster einen Blick auf ihr geschundenes Land zu erhaschen. Die Landung war kaum zu merken, lediglich die scharfe Bremsung deutete dann doch darauf hin, dass der Pilot die Maschine nicht weiter Richtung Süden auslaufen lassen wollte. Südlich und östlich des Flughafens herrschte tiefe Dunkelheit. Hier ist Dakhieh – im Deutschen ausgesprochen Dachieh – hier liegen die südlichen Vororte von Beirut, die die israelische Armee seit Ende September angreift.
Kein einziger Schuss, keine Rakete, keine Mörsergranaten wurden von hier auf Israel abgefeuert, und doch ist die Bevölkerung dieser Viertel zum Ziel Nummer 1 für Israel geworden. Mehr als eine Million Menschen aus Dakhieh und aus dem Süden des Landes leben heute als Inlandsvertriebene im Norden und Osten von Beirut, in Dörfern der Libanonberge oder nördlich der Hafenstadt Tripoli. Zehntausende sind über die Grenze nach Syrien geflohen, zusammen mit mehr als 400.000 syrischen Flüchtlingen, die zunächst vor dem Syrienkrieg in den Libanon geflohen waren. Nun kehren sie in ihre kriegszerstörte Heimat zurück, um sich vor den israelischen Angriffen in Sicherheit zu bringen. Zwei der drei offiziellen Grenzübergänge zwischen Libanon und Syrien hat Israel zerbombt. In Syrien halten die israelischen Bombardierungen an. Im Nordosten Syriens bombardiert die türkische Armee kurdische Stellungen, und im Osten Syriens entlang der Grenze zum Irak bombardiert die US-Armee. Begründet werden die Angriffe je nach Lage mit Waffenschmuggel der Hisbollah (Israel), mit Gefahr für die nationale Sicherheit (Türkei) oder mit Angriffen von iranischen Milizen oder Angriff auf den Islamischen Staat (USA). Die Sicherheit der Bevölkerung im Libanon, Syrien und Irak spielt schon lange keine Rolle mehr. Und wenn diese sich mit sogenannten „nicht-staatlichen“ Akteuren wehren – weil ihre nationalen Armeen zu schwach und schlecht ausgerüstet sind – werden diese als „Terrororganisationen“ zum Abschuss freigegeben.
Begonnen hat alles mit der Teilung der Region nach dem Ersten Weltkrieg und mit der Zerstörung Palästinas durch das zionistische koloniale Siedlerprojekt namens Israel, das Ende des 19. Jahrhunderts begann und dessen brutaler Charakter im Gazastreifen heute deutlich sichtbar ist. Unterstützt wird Israel von seinen großen Vorbildern Großbritannien, Frankreich, Deutschland und vor allem von den USA. Deren koloniale Vergangenheit ist das Lehrbuch des Vernichtungskrieges, der sich vor den Augen der Welt gegen die Palästinenser und auch gegen die Libanesen abspielt.
Ein Tag in Beirut
Der Flug landet in den frühen Abendstunden des 17. November 2024. Mit einem deutschen Pass ist die Einreise in den Libanon normalerweise kein Problem. Doch im Krieg werden die ausländischen Einreisenden nach ihrem Beruf gefragt, und Journalisten müssen sich zunächst bei der Allgemeinen Sicherheit – dem Libanesischen Geheimdienst – vorstellen, um ihre Akkreditierungsschreiben vorzulegen. Während der Wartezeit treffen Dutzende Blauhelm-Soldaten in der Wartehalle ein und passieren – vorbei an der wartenden Autorin – in geordneten Reihen den Durchgang für Diplomaten und UN-Personal. Die kleinen, aufgenähten Flaggen an den Uniformschultern weisen die Soldaten als Spanier aus.
Auf der Fahrt in die Stadt tauschen der Fahrer A. und die Autorin erste Neuigkeiten aus. Mohammad Afif, Leiter des Medienbüros der Hisbollah, wurde am frühen Nachmittag mit einem gezielten Drohnenangriff ermordet. Am Abend attackierte eine israelische Drohne mit Raketen eine Wohnung und einen darunterliegenden Computerladen in dem dicht bewohnten Stadtviertel Mar Elias. A. sein Bruder B. – die Namen beider sind der Autorin bekannt – haben in einem Dorf in den Bergen östlich von Beirut Zuflucht gefunden. Ihr Elternhaus in einem Dorf südlich von Sidon wurde bei den israelischen Luftangriffen teilweise zerstört. Seit mehr als einem Monat haben sie keine Neuigkeiten aus ihrem Heimatort. Unterstützung bekommen die Brüder für sich und ihre Familien von Verwandten, die im Ausland leben. Ein geflügeltes Wort im Libanon lautet: „Wen Allah liebt, dem gibt er Angehörige im Ausland“. Als junge Männer unterstützten A. und B. ihre Familien während des Bürgerkrieges durch ihre Arbeit im Ausland. Nun ist es die Aufgabe der nächsten Familiengeneration, ihren Angehörigen zu helfen.
Jeder freie Fleck entlang der Straßen vom Flughafen in die Stadt ist mit Autos zugeparkt. Die Inlandsvertriebenen aus dem Südlibanon und aus Dakhieh sind nicht arm, viele haben Jahrzehnte irgendwo auf der Welt gearbeitet, um mit dem Erlös ihrer Arbeit ein Haus in der Heimat zu bauen. Sie haben Geschäfte, ein Hotel oder Sporteinrichtungen eröffnet, oder sie haben Obstplantagen angelegt, um den lokalen Markt zu bedienen. Am wichtigsten war und ist den Leuten, ihr hart verdientes Geld so anzulegen, dass es für sie, die Kinder und die Eltern ein besseres Leben ermöglicht. Nun geben sie ihre Ersparnisse für Notunterkünfte aus.
Die Nacht bleibt unruhig. Mit zwei schweren Angriffswellen entladen israelische Drohnen und Kampfjets ihre tödliche Fracht über den südlichen Vororten von Beirut. Wegen der massiven und tödlichen Angriffe am Vortag auf die Stadtviertel Mar Elias und Ras al Nabeh, unweit der französischen Botschaft und des französischen Krankenhauses, erklärt das Bildungsministerium die Schließung aller Schulen in Beirut für zwei Tage. Beide Stadtviertel liegen innerhalb der offiziellen administrativen Grenze von Beirut, die Bombardierungen wurden ohne jegliche Vorwarnung von Israel verübt.
In Mar Elias wurde bei dem Angriff der Hauptrouter für die Internetversorgung der betroffenen Straße und Nebenstraßen zerstört, berichtet C., der mit seiner Familie aus einem Dorf der südlichen Provinz Nabatieh fliehen musste. Sein Name ist der Autorin bekannt. Endlich hatte er wieder online am Schulunterricht teilnehmen können, wie er der Autorin erzählte. Weil es sein letztes Schuljahr vor dem Baccalauréat ist, vergleichbar mit dem deutschen Abitur, ist der Unterricht für C. von existenzieller Bedeutung. Nun ist die Verbindung zum Online-Unterricht gekappt, und es ist wird dauern, bis die zuständige Stelle den Schaden beheben kann.
Der erste Weg am Morgen führt die Autorin in einen Kopierladen, um für das Pressezentrum des Informationsministeriums den Pass mit Einreisestempel und das Beglaubigungsschreiben der Zeitung zu kopieren. Auf dem Weg öffnet der Himmel über Beirut seine Schleusen, und es schüttet so sehr, dass der Kauf eines Regenschirms (made in China) angesagt ist. Die Inlandsvertriebenen, vor allem die Männer, die vor den Häusern sitzen, in denen sie Zuflucht gefunden haben, ziehen sich zurück in die Hauseingänge. Wie mögen die Familien sich schützen, die in selbstgebastelten Zelten an der Strandpromenade oder entlang den Straßen ausharren? Wo werden sie schlafen, wenn mit dem Winter die Regenzeit beginnt?
Ausgestattet mit den notwendigen, offiziellen Papieren fährt A. am Nachmittag mit der Autorin zu den Orten, die am Vortag bombardiert wurden. In Mar Elias ist das Gebäude mit dem Computerladen und dem Appartement, in dem zwei Menschen von den israelischen Drohnen getötet worden waren, schwarz verrußt. Als sei es von einem Feuerball eingehüllt worden. Vor dem Gebäude parkende Autos sind zerstört, Polizei und Armee haben die Straße abgesperrt, wo Vorbeigehende stehen bleiben und die Zerstörung betrachten. Jeder hier kennt den Computerladen. Es heißt, der Inhaber sei der Bruder eines Offiziellen in der Hisbollah gewesen. Für Israel offenbar Grund genug, beide Männer und ihr Lebenswerk zu vernichten.
Den Anschlagsort in Ras al Nabeh/Ras Nabaa zu finden, gestaltet sich wie die Suche in einem Labyrinth. Das Wohnviertel, das nahe der französischen Universität Saint Joseph, des französischen Krankenhauses und der französischen Botschaft liegt, besteht aus scheinbar unzähligen schmalen Straßen und Gassen, in denen Hochhäuser mit bis zu 20 Stockwerken über niedrige, historische libanesische Stadthäuser hinausragen. Endlich findet A. die Gasse, die von Polizei und Armee vor dem zerstörten Gebäude abgesperrt ist. Ziel des Angriffs war das Haus der syrischen Baath Partei, ein dreistöckiges historisches Gebäude mit grünen Fensterläden. Im obersten Stockwerk schlugen die israelischen Raketen ein, abgefeuert von einer Drohne, die ohne Vorwarnung ihr Ziel ausgemacht hatte. Getötet wurde Mohammad Afif, Leiter des Medienbüros der Hisbollah. Mit ihm starben fünf weitere Personen.
Das Haus der syrischen Baath Partei wurde von Raketen einer israelischen Drohne getroffen. Der dritte Stock wurde zerstört. Getötet wurde Mohammad Afif, Leiter des Medienbüros der Hisbollah und fünf weitere Personen.
Afif war ein unerschrockener Journalist und Medienschaffender, der seine Kenntnisse und seinen Mut seit vielen Jahren für die Hisbollah eingesetzt hatte. Westliche Journalisten zeigten sich empört über seine öffentlichen Pressekonferenzen zwischen den Trümmern von Dakhieh. Auch das Medienbüro der Hisbollah war Ziel der israelischen Angriffe geworden. Nur wenige Tage vor seiner Ermordung hatte er dort eine weitere Pressekonferenz unter freiem Himmel abgehalten, wohlwissend, dass Israel ihm mit der Ermordung gedroht hatte. Bezug nehmend auf die israelischen Drohungen, die Hisbollah zu vernichten, die im Libanon und darüber hinaus als „Widerstand“ bekannt ist, hatte Afif erklärt: „Der Widerstand ist eine Nation, und eine Nation wird niemals sterben.“ Auf der Webseite des Nachrichtensenders Al Manar, den Afif mit aufgebaut hatte, hieß es in Erinnerung an Afif, er sei „ein Löwe im Medienbereich“ gewesen, eine herausragende Persönlichkeit.
In libanesischen Medien tauchte in Artikeln die Frage auf, ob eine so gefährdete Person überhaupt in Wohnvierteln sein dürfe, wo sie „alle gefährdet“. Kazim Issa, ein 80-jähriger pensionierter Lehrer und Nachbar des angegriffenen Hauses, sagte auf eine diesbzügliche Frage der Autorin: „Wenn jemand eines Verbrechens beschuldigt wird – ob zu Recht oder zu Unrecht – ist es nicht zulässig, beliebig ein Haus, eine Menschenmenge oder irgendwo im zivilen Leben anzugreifen, um diese Person zu töten.“ In anderen Staaten gäbe es einen Haftbefehl, eine Festnahme und ein Gerichtsverfahren, um die Schuld der Person festzustellen. Er sei in diesem Viertel aufgewachsen und habe als Kind von seinen Eltern gelernt, wie ein respektvolles und friedliches Zusammenleben aussieht. „Dort haben wir eine Kirche, dort haben wir eine Moschee für Sunniten, und hier haben wir eine Moschee für Schiiten“, beschreibt der Mann seine Umgebung. Er habe gelernt – und auch seinen Schülern beigebracht – dass es Regeln für die Kriegsführung und für friedliches Zusammenleben gebe.
Der pensionierte Lehrer Kazim Issa ist 80 Jahre alt und steht er vor seinem zerstörten Haus. Danebenzusehen ist das zerstörte Haus der syrischen Baath Partei in Ras al-Nabeh.
„Nehmen wir an, ich will etwas von Dir, dann kann ich es mir nicht einfach nehmen. Ich darf nicht einfach Deine Familie töten, die dort lebt.“ Heute seien diese Regeln den Mächtigen und Reichen offenbar unbekannt, fährt der Lehrer fort. Sie seien gierig, würden stehlen, würden die Menschen nur für ihre eigenen Interessen benutzen, deren Leben und Schicksal ihnen egal wären. Glaube und Überzeugung seien ihnen unbekannt, sie seien nur an Geld und Macht interessiert. Auf die Frage, ob die „Mächtigen und Reichen“ eine Nationalität hätten, winkt Kazim Issa ab. Sie hätten keine Nationalität, keine Religion, keine Werte, wie die menschliche Zivilisation sie für das Zusammenleben hervorgebracht hätten. Dann bedankt er sich dafür, dass die Autorin einen langen Weg gekommen sei, um mit ihm, einem einfachen Libanesen, zu sprechen und zu hören, was er zu sagen habe. „Es ist gut, dass Sie nicht einfach glauben, was die Medien so berichten.“
Es wird langsam dunkel, als die Autorin und A. ein Lager für 3.000 Inlandsvertriebene in der neu restaurierten Altstadt von Beirut „Downtown“ erreichen. Die Menschen sind in einem Bürogebäude der ehemaligen Antra Bank untergebracht und werden umsichtig versorgt. In Gesprächen mit einer Gruppe Studierender, einer Lehrerin und dem Leiter der Einrichtung werden viele Details und Probleme berichtet, über die später berichtet werden soll.
Am Abend erreicht die Autorin erneut die Nachricht von einem israelischen Raketenangriff im Zentrum von Beirut. Der Schüler C., der in Mar Elias Zuflucht gefunden hat, berichtet, er sei auf dem Rückweg von der Moschee gewesen, als zwei Raketen, abgeschossen von einer Drohne, in einem nahe gelegenen Gebäude in Zokak al-Blat eingeschlagen seien. „Wieder dieser grauenhafte Lärm und Terror“, schreibt C. Und eine andere Bekannte berichtet kurz darauf: „Ziel war das Hauptquartier der Hilfsorganisation Al-Zahra. In dem Gebäude befanden sich Lebensmittel, Matratzen und Decken für die Vertriebenen.“ Das libanesische Gesundheitsministerium berichtet von fünf Toten und mindestens 18 Verletzten, die in der Einrichtung gearbeitet hatten.
Der 18. November 2024 in Beirut geht zu Ende mit der Nachricht, dass israelische Raketen ein weiteres Mal im Zentrum eingeschlagen hätten. Dieses Mal traf es ein Gebäude unweit des Hauptquartiers des libanesischen Ministerpräsidenten Najib Mikati, der nur vorübergehend die Amtsgeschäfte führt, bis ein neuer Präsident gewählt ist. Mikati und sein Team bereiteten sich vermutlich auf ein Treffen mit dem Sonderbeauftragten von US-Präsident Joe Biden, Amoz Hochstein, vor, der am Dienstag, dem 19. November, in Beirut erwartet wird. Angeblich soll es um einen Waffenstillstand gehen.
Titelbild: Black Salmon/shutterstock.com
Nachdem wir Robert Habecks Krönungsmesse bereits gestern feuilletonistisch gewürdigt haben, möchten wir doch noch einmal einen inhaltlichen Punkt seiner Parteitagsrede aufgreifen. Es geht um Gaslieferungen. Genauer gesagt die Pipeline „Baltic Pipe“, die von Habeck nun im Nachhinein als „Lösung aller Probleme“ angepriesen wird. Dass die Große Koalition auf einen Anschluss an diese Leitung verzichtet hat, sei – so Habeck – „die Ursache der Wirtschaftskrise der letzten Jahre“. Das ist derartiger Blödsinn, dass man es wirklich nicht unkommentiert stehenlassen kann. Und dieser Mann will tatsächlich Kanzler werden? Von Jens Berger.
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Als ich folgende Passage (ab 18:30 im Video) hörte, fiel mir tatsächlich die Kinnlade herunter. Aber hören und sehen Sie selbst …
„Im Spätsommer 22 wurde in Polen eine Gasleitung angeschlossen. Baltic Pipe heißt die. Sie kommt aus Norwegen, geht durch Dänemark durch quer durch die Ostsee. Es sind nur wenige Kilometer zwischen Polen und Deutschland, wo die Gaspipeline nach Polen kommt, und nach Deutschland kommt. [Im Publikum nickt Annalena Baerbock wissend] Es wäre ein Klacks gewesen, eine Leitung zu bauen, die vielleicht 20, 30, 40 Kilometer überbrückt, um die drohende Gasmangellage abzuwenden. Und als ich davon hörte, dachte ich, dass ist die Lösung all unserer Probleme! Wir brauchen weniger LNG-Terminals. Ich ruf da mal an und frag, ob die das nicht machen. Und was habe ich zu hören bekommen? Robert, Du bist zu spät. Wir haben Euch angefleht, dass Deutschland sich anschließt, dass Deutschland sich diversifiziert an diese Pipelines. Dass ihr nicht abhängig seid von Russland. Wir haben das vorgetragen noch und nöcher. Ihr wolltet es nicht. Die Große Koalition wollte es nicht. Nun ist die Pipeline zu klein auch noch für Deutschland. Was ich sagen will: Wie viele Unternehmen hätten günstige Gaspreise bekommen, hätten wir diese Pipeline gehabt? Wie viele Verbraucherinnen und Verbraucher hätten keine schlaflosen Nächte gehabt, hätten wir diese Pipeline gehabt? [lächelnder Applaus von Annalena Baerbock] Diese Pipeline ist nicht gebaut worden, weil Union und SPD sie nicht bauen wollten! Das ist die Ursache der Wirtschaftskrise der letzten Jahre! Die Große Koalition hat uns wissentlich und willentlich in diese Abhängigkeit getrieben!“
Zugegeben; wenn man – wie vielleicht Annalena Baerbock – sich in seinem Leben wirklich noch nie mit dem Thema „Deutschlands Energieversorgung“ beschäftigt hat und ein Fan der Grünen ist, könnte man ein paar Sekunden versucht sein, Habecks Geschichte zu glauben. Das wäre jedoch ein Fehler, wie bereits ein kleiner Faktencheck zeigt.
Eigentlich reicht bereits ein Blick auf die Pipelinekarte des europäischen Gasversorgernetzwerks ENTSOG, um Habecks Aussagen ad absurdum zu führen.
Anmerkung: Die relevanten Pipelines Baltic Pipe und Europipe II sind in diesem Bild zum besseren Verständnis rot markiert
Man sieht sofort, Baltic Pipe beginnt nicht – wie von Robert Habeck behauptet – in Norwegen, sondern ist eine Abzweigung der bereits seit 1999 bestehenden Pipeline Europipe II, die wiederum Teil des noch älteren Transportsystems zusammen mit Europipe I und Norpipe ist, die Deutschland seit den 1990ern mit Erdgas vom norwegischen Kontinetalshelf versorgen, auf dem alleine der Marktführer Equinor 80 Förderplattformen betreibt. Das Pipelinesystem endet in Niedersachsen im gigantischen Cluster aus Übergabestationen bei Dornum und Emden, die mit fast 2.200 GWh zusammen eine Kapazität haben, die noch über die von Nord Stream I und II und die des über ukrainisches Gebiet verlaufende Transgas-Pipelinesystems hinausgeht. Baltic Pipe zweigt einen kleinen Teil dieser Kapazität mitten in der Nordsee von der Europipe II ab und transportiert sie über dänisches Gebiet und eine kürzere Ostseepipeline nach Polen.
Oder um es noch einfacher zu sagen: Gas, das normalerweise über Europipe II direkt von Norwegen nach Deutschland transportiert wird, wird nun über dänisches Staatsgebiet nach Polen transportiert. Würde Deutschland, wie Habeck dies laut andenkt, „vielleicht 20, 30, 40 Kilometer überbrück[en]“, würde es dadurch kein Jota mehr Gas bekommen. Was sich ändern würde: Für jede noch so kleine Menge, die nun nicht direkt über Europipe II, sondern über den Umweg Baltic Pipe geliefert würde, würden happige Transitgebühren anfallen. Das ist ja auch der Grund, warum Dänemark die Baltic Pipe gegen alle ökologischen Bedenken und Proteste im Eiltempo gebaut hat.
Das Motiv der Dänen ist also klar. Es geht um Geld, viel Geld. Dänemark hat mit Polen einen Rahmenvertrag aufgesetzt, der die Polen (Take-or-Pay-Vertrag) bis 2037 verpflichtet, mehr als 80 Prozent der technisch maximalen Liefermenge abzunehmen. Polen verspricht sich dadurch übrigens selbst ein lukratives Geschäft, da es sich als Gashub für Südosteuropa – vor allem für die Ukraine – positionieren will. Das Kalkül: Wenn Russland diese Länder durch die vor allem von Polen vorangetriebenen Sanktionen nicht mehr beliefern darf, kann Polen einspringen und sowohl das teure LNG-Gas, das über das neugebaute gigantische Terminal Swinemünde importiert wird, als auch über norwegisches Gas, das man über Baltic Pipe importiert, anbieten. Bei dem ganzen Geschäft geht es nicht um Freiheit oder Unabhängigkeit von russischen Lieferungen, sondern um ein angestrebtes Liefermonopol Polens, das übrigens auch zulasten Deutschlands geht, das die über Baltic Pipe nun abgezweigten norwegischen Kapazitäten sonst auch direkt über das etablierte Verbundnetz im Rückwärtsbetrieb nach Südosteuropa verkaufen könnte.
Dass unser Wirtschaftsminister, in dessen Fachgebiet die Energieversorgung fällt, das nicht versteht, ist wirklich dramatisch. Dass er fernab jeder Realität nun auch noch dumme Geschichten über „die Lösung all unserer Probleme“ erzählt, die in einem Anschluss Deutschlands an das Baltic-Pipe-System bestehen soll, lässt den Beobachter wirklich fassungslos zurück und man ringt mit rechtssicheren Formulierungen, die man dann aber doch wieder verwirft, da wir ja spendenfinanziert sind und mit unserem knappen Budget Besseres zu tun haben, als Anwälte zu bezahlen.
Beinahe noch fassungsloser ist man, wenn man hört, dass Robert Habeck angeblich bei den Baltic-Pipe-Betreibern in Dänemark oder Polen angerufen haben will und ein „Robert, Du bist zu spät“ als Antwort bekommen haben will. Dazu muss man wissen, dass das alles vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine noch ganz anders klang. Von einer deutschen Beteiligung an Baltic Pipe war damals selbstverständlich nie die Rede gewesen. Es war schließlich kein Geheimnis, dass diese Pipeline eine ökonomische Narretei ist. Die Grünen waren damals übrigens auch klar gegen diese Pipeline – jedoch nicht aus ökonomischen, sondern aus ökologischen Gründen, wollte man damals doch komplett weg von fossilen Energieträgern.
Wenn Robert Habeck nun also poltert, „Wie viele Unternehmen hätten günstige Gaspreise bekommen, hätten wir diese Pipeline gehabt? Wie viele Verbraucherinnen und Verbraucher hätten keine schlaflosen Nächte gehabt, hätten wir diese Pipeline gehabt?“, ist dies nicht nur sachlich kompletter Unsinn, da diese (sic!) Pipeline die Preise – wenn überhaupt – nur in die Höhe getrieben hätte, sondern auch unehrlich, gehörten die Grünen doch zu den treibenden Gegnern sämtlicher Pipelineprojekte.
Und wenn er sagt, „Diese Pipeline ist nicht gebaut worden, weil Union und SPD sie nicht bauen wollten! Das ist die Ursache der Wirtschaftskrise der letzten Jahre!“, so ist dies einfach nur schäbig und zudem inhaltlich vollkommen hanebüchen. Warum sollte Deutschland die Europipe-Lieferungen über eine neue, für Deutschland völlig unnötige Pipeline über Dänemark an die deutsche Ostseeküste umlenken? Deutschland verfügt schon lange über ein Verbundnetz, mit dem es die norwegischen Importe auch so überallhin transportieren kann. Weiß der Mann es nicht besser? Dann wäre er wohl der inkompetenteste Wirtschaftsminister, den die Welt je gesehen hätte. Oder weiß er es besser und macht billigen Wahlkampf? Dann wäre er ein gnadenloser Populist, der mit politischen Lügen arbeitet. Suchen Sie es sich aus. Tertium non datur.
Zum Abschluss könnte man aber durchaus noch zwei Aspekte aufgreifen, die sich an das Thema tatsächlich inhaltlich anschließen. Zum einen ist die Frage, ob man die norwegischen Gaslieferungen in der jüngeren Vergangenheit hätte steigern und damit den Markt sättigen können, ja durchaus legitim. Die Antwort darauf lautet: Im Prinzip wäre dies möglich, der Flaschenhals ist dabei aber nicht das Pipelinesystem, sondern die norwegische Förderung. Investitionen wurden aus verschiedenen Gründen, die von Klimaschutz bis hin zum Preisdruck durch preiswerte russische Lieferungen reichten, in den letzten Jahren vernachlässigt. In den nächsten Jahren soll sie jedoch um jährlich 7,5 Prozent steigen. Mittelfristig haben die vorhandenen Pipelines noch genügend freie Kapazitäten, um die Lieferungen zu steigern. Während des Höhepunkts der deutschen Gaskrise sah dies ganz anders aus, da sorgten vor allem Streiks der norwegischen Gas- und Ölarbeiter für eine Drosselung der Exporte – so viel zu Habecks „Lösung aller Probleme“.
Und wie sieht es mit den „teuren Preisen“ für die Industrie und den „schlaflosen Nächten der Verbraucher“ aus, die Robert Habeck heute so beschäftigen? Nun, auch da spielt die oben genannte norwegische Equinor durchaus eine Rolle; wenn auch ganz anders als von Habeck insinuiert. Dazu ein kurzer Auszug aus meinem in diesem Sommer erschienenen neuen Buch „Wem gehört Deutschland? Die Bilanz der letzten zehn Jahre“. Vielleicht wäre das ja mal ein schönes Weihnachtsgeschenk für Robert Habeck?
Equinor konnte 2022 einen märchenhaften Überschuss von 70 Milliarden Euro erzielen und zahlte Sonderdividenden aus. Das Unternehmen gehört übrigens zu gut zwei Dritteln dem norwegischen Staat, der die Dividenden in seinen Staatsfonds umleitet. Sie erinnern sich, das ist der Staatsfonds, der mittlerweile zu größten Besitzern der deutschen Großkonzerne gehört. So bekommt der Begriff „Ausverkauf“ eine ganz neue Bedeutung. Die wesentlich kleinere niederländische Gasunie konnte ihre Einnahmen in 2022 um 872 Millionen Euro auf 2,25 Milliarden Euro steigern. Der Gewinn betrug 555 Millionen Euro, das ist ein Viertel des Umsatzes, und fiel auch nur deshalb „so gering“ aus, weil man im gleichen Geschäftsjahr fix die Anteile der Niederländer an der gesprengten Nordstream-Pipeline abgeschrieben hatte. Und auch die deutschen Gasverteiler machten trotz oder besser wegen der Krise blendende Geschäfte. So konnte RWE einen Reingewinn von 6,3 Milliarden Euro erzielen.
Derartige Rekordgewinne waren 2022 bei den Energiekonzernen keine Seltenheit. Exxon meldete 56 Milliarden US-Dollar Gewinn, Shell 41,6 Milliarden US-Dollar. Der französische Energiekonzern Total kam auf 36,2 Milliarden US-Dollar, Chevron aus den USA auf 35,5 Milliarden US-Dollar und BP auf 28 Milliarden Euro Gewinn. Bürger und Unternehmen ächzten unter den hohen Preisen, bei den Energiekonzernen und ihren Aktionären knallten die Champagnerkorken. Vor der eilends in Deutschland und Brüssel beschlossenen Übergewinnsteuer brauchten sie übrigens keine Angst zu haben. Internationale Konzerne lassen ihre Gewinne durch Buchhaltungstricks traditionell dort entstehen, wo die niedrigsten Steuern anfallen – und das ist nicht Deutschland und nur selten ein EU-Staat.
Rekordverluste machten hingegen die vom Staat beauftragten Gaseinkäufer. Sie kauften das Gas, mit dem die Speicher gefüllt wurden im Sommer und Herbst 2022 zu einem Durchschnittseinkaufspreis von 175 Euro je Megawattstunde ein. Im Winter sank der Gaspreis an den Börsen jedoch rapide – klar, nun gab es ja auch keinen Monopoleinkäufer mehr, der jeden aufgerufenen Preis zahlte. Zu Beginn des Winters waren es rund 75 Euro, im Frühjahr 2023 sogar nur rund 40 Euro je Megawattstunde. Mit jeder Megawattstunde aus den Speichern, die währen der Heizperiode 2022/2023 vom Staat an die Versorger oder die Industrie verkauft wurden, macht der Staat also zwischen 100 und 135 Euro Verlust. Diese Verluste, die zur Zeit noch in den „Sondervermögen“ versteckt sind, wird der Steuerzahler übernehmen müssen. Wie heißt es so schön? Verluste werden sozialisiert, Gewinne privatisiert.
P.s.: Danke an unsere Leserin F.P., die mich noch einmal in einer Mail auf diesen Punkt aufmerksam gemacht hat.
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Dass Umfragen genutzt werden, um Meinung zu machen – das könnte man sich gerade noch vorstellen. Dass Umfragen darauf angelegt werden, dass Umfrage-Ergebnisse zurechtgebogen werden, um Meinung zu machen, das ist schon ein bisschen schwerer zu begreifen. Und schon gar nicht zu rechtfertigen. Das geschieht aber zurzeit mit dem klar erkennbaren Ziel, die Anhänger des BSW zu entmutigen. Umfragen des Umfrageinstituts Forsa zum Beispiel lassen das BSW unter 5 Prozent sinken. Schauen Sie sich mal diese Übersicht über verschiedene Umfragen der letzten Zeit an. Albrecht Müller.
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Hier ist der Link zur Quelle dieser Tabelle.
Zwischenbemerkung: Im Folgenden geht es um Vorgänge in Westdeutschland, also in der alten Bundesrepublik.
Jene, die in der alten Bundesrepuplik Wahlkämpfe planten und die Planungen umsetzten, hatten immer schon die Möglichkeit genutzt, Meinungsbefragungen so zurechtzubiegen, dass ein für sie positiver Effekt auf das Wahlverhalten erzielt wurde. Das älteste mir bekannte Beispiel reicht zurück bis zur Bundestagswahl 1965. Bis dahin, also von 1949 bis 1965, gab es immer nur Bundeskanzler von der CDU. Die damalige Konkurrenz, die SPD, hatte sich zwar schon 1949, also zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland West, Hoffnungen gemacht, mitzuregieren. Aber 1949 hatte es nicht geklappt, 1953 nicht, 1957 nicht und auch nicht 1961. Jetzt aber, 1965, so das Ziel und die damalige Stimmung, müsse der Kanzlerwechsel gelingen.
Diese Suggestion, anders kann man es wohl kaum ausdrücken, wurde vom damals tonangebenden Meinungsforschungsinstitut, dem Institut Allensbach und seiner Leiterin Elisabeth Noelle-Neumann unterfüttert. – Das Ergebnis sah aber ganz anders aus: die CDU/CSU erreichte 1965 47,6 Prozent der Zweitstimmen, die SPD nur 39,3 Prozent. Und CDU-Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter Dufhues ließ mit Rückendeckung von Frau Noelle-Neumann wissen, dass man absichtlich den Eindruck erweckt habe, die Mehrheit der CDU/CSU sei gefährdet, die Kopf-an-Kopf-Propaganda sei eine Wahllist gewesen, um die Bürger an die Urne zu bringen.
Über diesen Vorgang habe ich auf den NachDenkSeiten schon einmal berichtet. Siehe hier; es lohnt sich wegen der jetzt stattfindenden Wiederholung, die damalige Analyse und Beschreibung nachzulesen.
Ich will noch von einem weiteren einschlägigen Vorgang berichten: Nach Ende meiner Tätigkeit als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt 1982 war ich unter anderem als Wahlkampfberater tätig. In dieser Funktion war ich beteiligt an der Wahlkampfplanung für die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, auch im Jahr 1985. Noch gut erinnere ich mich daran, dass der damalige Landesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter der NRW-SPD, Bodo Hombach, am Ende einer der regelmäßigen Wahlkampfplanungsbesprechungen anmerkte: Er werde sich in Bälde mit dem Leiter des Umfrageinstituts treffen, das für die NRW-SPD arbeite. Wichtiger Gegenstand des Gesprächs sei die Frage, welches Umfrage-Ergebnis die SPD wolle. – Wir mussten nicht lange nachdenken, wir waren uns sofort einig: Das Ergebnis soll signalisieren, dass die Mehrheit der SPD gefährdet ist. Das dann veröffentlichte Umfrageergebnis entsprach unseren Wünschen und die damit verbundene Behauptung, die Mehrheit der SPD sei gefährdet, wirkte. Das Ergebnis: 52,1 Prozent für die NRW-SPD.
Schon damals gab es solche und solche Institute. Mit Forsa konnte man rechnen. Siehe dazu auch ein Beitrag vom Dezember 2007 zum Thema.
Was lernen wir daraus für den Umgang mit angeblichen Umfragen zum BSW?
Nach den Umfragen der jüngeren Vergangenheit konnte das BSW bei Umfragen zur Bundestagswahl bis zu 10 Prozent, bei Landtagswahlen zweistellige Werte erreichen. Diese Erwartungen wurden durch die tatsächlichen Ergebnisse bei den Landtagswahlen in Sachsen mit 11,8 Prozent, Thüringen 15,8 Prozent und Brandenburg 13,5 Prozent gestützt.
Wäre ich Gegner des Bündnisses Sahra Wagenknecht und für die Strategie zum Umgang mit dem BSW verantwortlich, dann würde ich dem für meine politische Gruppierung arbeitenden Meinungsforschungsinstitut vorschlagen, Ergebnisse von Umfragen zu präsentieren, die das BSW in einer wackligen Position zeigen. Dies zu behaupten, ist angesichts der guten Ergebnisse bei den Landtagswahlen zwar schwierig, aber mit dem Hinweis auf die 6,2 Prozent bei der Europawahl und den Disput in Thüringen kann man ja eine Art Abstiegstrend insinuieren. Die Botschaft an die Wählerinnen und Wähler wäre: Verschenkt eure Stimme nicht an einen unsicheren Kantonisten. Und ich würde diese Behauptung mit neuen Umfrageergebnissen unterfüttern. Die Helfer für diese Strategie würde ich wie aktuell geschehen beispielsweise bei Forsa finden.
Dieses Institut hat schon geleistet, wie man an der oben wiedergegebenen Tabelle mit der Forsa-Umfrage vom 19. November sehen kann: Dort sind für das BSW 4 Prozent notiert – weit unterhalb der anderen Notizen zwischen 9 und 6 Prozent.
Der Wahlkampf gegen das BSW wird sich jedenfalls des von Forsa publizierten Umfrageergebnisses bedienen. Es wird gestreut werden, wer BSW wähle, verschenke seine Stimme. Wegen der 5-Prozent-Klausel werden 4 Prozent ja nicht mitgezählt.
Warum das BSW so eingebrochen sein soll, wie Forsa behauptet, ist schwer zu erklären. Gut, es gab Irritationen wegen Thüringen. Aber dass sich das bundesweit so stark auswirken soll, dass eine Partei, die in drei Bundesländern vor kurzem noch gute zweistellige Werte erreicht hat, jetzt nur noch unter 5 Prozent erzielen soll, ist nicht nachzuvollziehen. Da sind Machenschaften, wie geschildert durchaus nicht neuentdeckte Machenschaften, am Werk. So arbeitet man halt schon über ein halbes Jahrhundert lang mit Umfragen als Mittel der Meinungsmache.
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Zum Jahreswechsel bekommt jeder Versicherte eine elektronische Patientenakte aufgedrückt. Nur wer aktiv widerspricht, bleibt verschont und vielleicht unbehelligt. Dem großen Rest verspricht Bundesminister Lauterbach optimale Versorgung und medizinische Innovation, in einem Land, dessen Bevölkerung nicht mehr älter wird und welches das europaweit teuerste Gesundheitssystem beheimatet. Wohin das ganze Geld wohl wandert? Von Ralf Wurzbacher.
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Vor fünf Wochen erhielt Karl Lauterbach (SPD) den Big Brother Award in der Kategorie Gesundheit. Den alljährlich durch den Verein Digitalcourage verliehenen „Oskar für Datenkraken“ hat er sich mit dem von ihm mitverantworteten Europäischen Gesundheitsdatenraum – European Health Data Space (EHDS) – „verdient“ und dessen nationaler Umsetzung, dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG). Beide Regelwerke erleichtern die Erhebung, den Austausch und die Nutzbarkeit von Gesundheitsdaten für, wie es so schön heißt, „gemeinwohlorientierte Zwecke“.
Der noch amtierende Bundesgesundheitsminister blieb der Preisverleihung in Bielefeld fern und verpasste die „Laudatio“ durch Thilo Weichert vom Netzwerk Datenschutzexpertise, früher Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein. Mit den neuen Gesetzen werde ein zentraler Grundsatz der Medizin in Frage gestellt, nämlich die „ärztliche Schweigepflicht“, befand er, und weiter: „Galt bisher, dass Behandlungsdaten grundsätzlich vertraulich zu behandeln sind, so gilt künftig, dass diese Daten Dritten grundsätzlich zur Verfügung gestellt werden können.“ Weichert zeigte sich desillusioniert. Er sei „lange ein Fan“ von Lauterbach gewesen, doch beim Thema Datenschutz knüpfe dieser „nicht nur voll bei seinem Vorgänger“ Jens Spahn (CDU) an, „er verschlimmert dessen verfassungswidrige Pläne zur sogenannten Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten sogar“.
Ladenhüter
Den Verfassungsbruch gibt es demnächst als Kassenleistung. Ein für Deutschland entscheidender Baustein im Rahmen der EU-Digitalisierungsstrategie ist die elektronische Patientenakte (ePA), die im kommenden Jahr „für alle“ eingerichtet werden soll. Was viele nicht wissen: Die ePA existiert bereits seit Januar 2021 auf freiwilliger Basis, also auf aktiven Antrag derer, die das Angebot nutzen wollen. Allerdings ist der Zuspruch statistisch kaum messbar, nach Angaben der Bundesärztekammer hat lediglich „ein Prozent aller“ rund 73 Millionen gesetzlich Versicherten zugegriffen. Was ein Datenhüter für die breite Masse werden sollte, ist bisher ein echter Ladenhüter. Warum wohl?
Die Macher in Politik, bei Verbänden und in den Reihen der Gesundheitsökonomie behaupten, der bürokratische Aufwand sei einfach zu groß gewesen. Deshalb wird das Prozedere jetzt „vereinfacht“, durch Umstellung auf das mit dem Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitswesen (DigiG) implementierte Opt-out-Modell. Demnach wird für jeden eine ePA eingerichtet, es sei denn, der Betroffene widerspricht dem ausdrücklich. Der Dreh wird die Nutzerzahlen in die Höhe schießen lassen, der verbreitete Hang zur Bequemlichkeit wird es richten. Die Bundesregierung rechnet damit, dass im kommenden Jahr 80 Prozent der Versicherten in das System eingebunden sein werden.
Zum Glück zwingen
Ob sie davon auch profitieren, steht auf einem anderen Blatt. Die Verantwortlichen jedenfalls tun so, als bringe die ePA nichts als Vorteile und als wäre der Quasi-Automatismus zum Mitmachen das opportune Mittel, die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Derzeit werden die Versicherten von ihren Kassen mehr oder weniger umfassend über die anstehenden Änderungen und darüber informiert, wie und zu welchem Grad sie eine Teilnahme ablehnen beziehungsweise begrenzen können. Zur Auswahl stehen mehrere Möglichkeiten: vom Komplettverzicht über bestimmte Zugriffs- und Einstellungsbeschränkungen bis hin zur Absage an eine Verwendung von Daten zu Forschungszwecken.
Hierin liegt die eigentliche „Revolution“ der Neuerung. Die in der ePA abgelegten Daten werden der Forschung zur Verfügung gestellt. Akteure, die sie nutzen wollen, stellen einen Antrag an das Forschungsdatenzentrum des Bundes (FDZ), wo sämtliche Informationen gesammelt und gespeichert werden. Dabei soll nicht nur die „unabhängige“ Wissenschaft, etwa in Gestalt der staatlich finanzierten Forschungsinstitute, Zugriff bekommen, sondern prinzipiell auch die kommerzielle Gesundheitswirtschaft, zum Beispiel die großen Pharmakonzerne. Selbstredend soll auch das nur zum Besten der Menschen geschehen, zugunsten der Entwicklung moderner Therapien und Medikamente oder zur Bekämpfung unheilbarer Krankheiten wie Krebs.
Technik könnte Leben retten
Wollte man all diese Aspekte in der Diktion von Datenschützer Weichert unter „Sekundärnutzung“ fassen – worin bestünde dann der „Primärnutzen“? Die Argumente der Befürworter wirken zunächst überzeugend: Sämtliche Daten, die bisher in einer Praxis, Klinik oder durch sonstige Gesundheitsdienstleister einzeln abgelegt wurden, werden künftig digital gebündelt, um sie bei Bedarf schnell und zielgerichtet abzurufen. Leistungserbringer wie Ärzte, Therapeuten und Apotheker gewinnen einen umfassenden Überblick über die Krankheitsgeschichte ihrer Patienten, um auf dieser Basis die beste Behandlung zu gewährleisten. Beispielsweise können so Mehrfachuntersuchungen vermieden oder in Notfallsituationen falsche Eingriffe verhindert werden. Wenn etwa ein Patient nicht ansprechbar ist, dringend ein Medikament benötigt, aber keine Auskunft über bestehende Arzneimittelallergien geben kann, genügt ein Blick in seine ePA, und der Notarzt bewahrt ihn und sich vor einer mithin fatalen Fehlentscheidung. Im äußersten Fall könnte die Patientenakte also durchaus Leben retten.
Solche und andere denkbare Vorzüge sind nicht von der Hand zu weisen. Dies allerdings unter der Voraussetzung, dass das System wirklich reibungslos funktioniert und alle für eine optimale Versorgung erforderlichen Informationen tatsächlich zusammenlaufen und bei Bedarf einsehbar sind. Das allein ist angesichts der technischen Herausforderungen längst nicht ausgemacht (dazu mehr weiter unten). Grenzen seiner Tauglichkeit ergeben sich indes schon aus den (noch) offerierten Entscheidungsfreiheiten der Nutzer, mit welchen Daten sie ihre Akte bestücken und wem sie über welchen Zeitraum Zugang dazu gewähren möchten. Tatsächlich sollen Versicherte die ePA über eine App auf dem Smartphone, Tablet oder PC eigenverantwortlich verwalten können. Zum Beispiel wäre es ihnen überlassen, nur einzelne Dokumente (Befunde, Diagnosen, Therapiemaßnahmen) oder bestimmte Bereiche wie Orthopädie oder Dermatologie freizugeben, sei es aus Sorge vor Diskriminierungen, zum Beispiel im Fall von Aids-Patienten, oder aus Scham, etwa bei Genitalerkrankungen.
Selbstbestimmung ade
Diese Eingriffsrechte bergen jedoch Gefahren dahingehend, dass Behandelnde aus der unvollständigen Akte die falschen Schlüsse ziehen und ihnen mitunter über Leben und Tod entscheidende Informationen verborgen bleiben. Damit könnte sich der beschworene Fortschritt durch die ePA ins exakte Gegenteil verkehren – zumal dann, wenn Mediziner künftig der ePA blind vertrauen und von bisher üblichen Verfahren zur Abklärung des Zustands ihrer Patienten (Aktenstudium, Absprache mit Kollegen) absehen. Letztlich könnte die ePA ihre Potenziale unter der Bedingung tatsächlich unabhängiger und einzig auf das Patientenwohl kaprizierter Leistungserbringer nur dann zur Entfaltung bringen, wenn sie uneingeschränkt alle Daten allen Behandelnden offenlegt – und medizinische Laien (und das sind die allermeisten) gefälligst die Finger davon lassen müssten.
Das hätte indes einen sehr hohen Preis, weil sich so die informationelle Selbstbestimmung der Versicherten komplett erledigen würde. Dagegen wahren die Verantwortlichen mit ihrem (fürs erste) gewählten Modell immerhin noch den Schein, die Menschen blieben irgendwie doch Herr über ihre persönlichen Daten. Das ist natürlich Augenwischerei. Es ist zunächst anzunehmen, dass die allerwenigsten von den individuellen Wahlmöglichkeiten Gebrauch machen und stattdessen den Komplettzugriff gestatten werden. Die ganzen Modalitäten überhaupt zu begreifen, erfordert allerhand Geduld und Reflexionsvermögen, und beides geht heutzutage vielen Bürgern ab (vergleiche dazu den Leitfaden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung). Gerade in Fragen des Datenschutzes herrscht in der Bevölkerung eine verbreitete Indifferenz. „Wen interessiert‘s, mit welchen Wehwehchen ich mich herumärgere – außer meinen Arzt.“
„Gute“ und „schlechte“ Risiken
Irrtum! Gesundheitsdaten sind heiß begehrt, insbesondere bei Versicherern und in der Pharmaindustrie. Das Wissen darüber, welches Gesundheitsprofil, welche Dispositionen ein Mensch hat, um später vielleicht schwer zu erkranken oder langfristig gesund zu bleiben, entscheidet schon heute darüber, ob eine Assekuranz einen Kunden will oder nicht. Privatversicherungen wählen wie selbstverständlich zwischen „guten“ und „schlechten“ Risiken, wobei Erstere geringere, Letztere höhere Prämien zahlen müssen. Zumindest in Tendenzen gibt es das heute auch bei den gesetzlichen Krankenkassen, unter denen die Beiträge je nach Versichertenstruktur (mehr Junge, mehr Alte) erheblich variieren können.
Zwar sollen die Kassen als Anbieter der Akte selbst keinen Zugriff auf die persönlichen ePA-Daten erhalten. Allerdings liegen ihnen ohnehin umfangreiche Informationen in den Abrechnungsdaten vor. Und nach den Regularien des besagten Gesundheitsdatennutzungsgesetzes sind sie neuerdings berechtigt, „in gesetzlich geregelten Fällen (der risikoadaptierten Krebsfrüherkennung oder im Rahmen einer Überprüfung der Arzneimittelsicherheit) auch auf solche Risiken (für die Gesundheit des Versicherten) hinweisen zu können“. Diese Verarbeitung dürfe nur im Interesse der Betroffenen erfolgen und diene der Patientensicherheit, heißt es seitens des Lauterbach-Ministeriums. „Verarbeitet eine Krankenkasse Daten entgegen den gesetzlichen Vorschriften, droht dem Vorstand ein Bußgeld.“
Fünf Jahre Blackbox
Nur wie wäre das nachzuvollziehen? Der Informatiker und Jurist Martin Weigele hat sich den Gesetzesbeschluss genauer angesehen. Darin sei geregelt, dass erst in fünf Jahren „die Zugriffe und die versuchten Zugriffe auf personenbezogene Daten der versicherten Personen beziehbar protokolliert werden“, sagte er im Oktober gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR), und weiter: „Dass man so was machen kann, ist absoluter Standard.“ Aber eben nicht bei der ePA. „Dass anonym irgendwelche Dinge jetzt abgefragt werden können, die in dieser Patientenakte gespeichert werden, und niemand nachvollziehen kann, wer auf diese Daten zugreifen kann bis zum Jahr 2030. Das finde ich schon einen ziemlichen Hammer.“ Wegen dieser und anderer offener Fragen rät Weigele dazu, der Einrichtung einer ePA grundsätzlich zu widersprechen.
Er ist nur einer unter vielen Kritikern. Sorgen bereitet diesen auch der Stand der Umsetzung. Die elektronische Patientenakte soll ab Mitte Januar 2025 in ausgewählten Modellregionen getestet werden, um sie dann im März bundesweit auszurollen. Bisher sei jedoch „keines der beiden ePA-Aktensysteme von IBM und RISE – dort, wo die Gesundheitsdaten der Versicherten liegen – von der gematik zugelassen“, schrieb vor zwölf Tagen das Onlineportal Heise. Eigentlich sollten schon Mitte Oktober die Vertrauenswürdige Ausführungsumgebung (VAU) und die beiden Aktensysteme für Tests zur Verfügung stehen.
Kollateralnutzen
Auch sonst lauert offenbar ein ganzes Rudel an Unwägbarkeiten. So können zum Beispiel Bilddaten in den Formaten JPG und PNG zunächst nicht in die ePA eingestellt werden. Am 15. Januar werde es – wenn überhaupt – nur „dunkelgrüne Schrumpelbananensoftware“ in den Praxen und Apotheken geben, zitierte Heise einen IT-Hersteller. Dabei hatten die Ärzte schon im Frühjahr genug Ärger mit der Umstellung auf das sogenannte E-Rezept. Die ePA biete noch viel mehr Möglichkeiten, Praxisabläufe zu behindern, befand das Portal und verwies auf Befürchtungen, mit der sogenannten Innovation drohe demnächst die „digitale Schriftenrolle“.
Aber wenn alles so schlecht läuft und vor allem beim Datenschutz so vieles im Argen liegt, warum zieht die Regierung dann nicht die Reißleine? Antwort: Weil die Profiteure des Projekts so mächtig sind und mit den Hufen scharren. Anders ausgedrückt: Der „Primärnutzen“ liegt bei den Pharmakonzernen und privaten Gesundheitsdienstleistern, wogegen mögliche Vorteile für die Patienten bestenfalls als „Kollateralnutzen“ zu betrachten sind. Die Möglichkeit, demnächst zu „Forschungszwecken“ an gewaltige Datensätze von mithin 70 Millionen Versicherten zu gelangen, öffnet bisher unbekannte Profitquellen. Und um medizinischen Fortschritt geht es dabei allenfalls als nette Begleiterscheinung.
„Nebenwirkung Tod“
Wer sich seine Illusionen über das Gesundheitssystem in den kapitalistischen Zentren dieser Welt nehmen lassen will, sollte das Buch „Nebenwirkung Tod“ des inzwischen verstorbenen John Virapen lesen. Der packte darin 2007 als Ex-Topmanager des US-Konzerns Eli Lilly über die Machenschaften seines früheren Arbeitgebers aus. Geschildert wird ein Räderwerk aus Bestechung und Korruption, mit dem Ärzteschaft, Versicherungen und Wissenschaft zu Geschäftszwecken eingespannt wurden. In Stichpunkten: Hochgefährliche Medikamente fanden auf den Markt, nachdem in klinischen Studien etliche Todesfälle zu beklagen, aber systematisch vertuscht worden waren. Trotz selbstmörderischer und amoklaufender Patienten wurden die fraglichen Präparate unter den zugedrückten Augen der Aufsichtsbehörden jahrelang weiter vertrieben. Vermeintlich innovative Produkte waren reine Zufallsfunde, weil sich in Studien Nebenwirkungen plötzlich als vermarktungsfähig herausstellten (Fettabbau). Schon existente Wirkstoffe wurden minimal – etwa durch Veränderung nur eines Moleküls und ohne jeden Zusatznutzen – aufgepeppt, um ein neues Patent zu ergattern, das jahrelang die Kasse klingeln ließ. Laut Virapen waren dies keine singulären Ausrutscher, sondern das gängige Geschäftsmodell der gesamten Branche. Diese streiche ihre Gewinne nicht damit ein, Menschen gesund zu machen, sondern sie krank zu machen und zu erhalten, lautete sein Fazit.
Die NachDenkSeiten hatten jüngst über Vorwürfe gegen Eli Lilly berichtet, das Unternehmen habe sich seine Entscheidung zur Ansiedlung im rheinland-pfälzischen Alzey durch ein Gesetz der Ampelregierung vergelten lassen, das ihm das Geldverdienen leichter macht. Das würde ins Bild passen. Nach Angaben der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verschlingt das deutsche Gesundheitssystem mit Pro-Kopf-Ausgaben von 5.300 Euro und damit 50 Prozent über dem EU-Schnitt europaweit das meiste Geld. Zugleich ist die Lebenserwartung seiner Bevölkerung mit im Mittel 81,2 Jahren erstmals unter das EU-Mittel gerutscht. Daraus lässt sich schließen: Die Ausgaben landen über das übliche Maß hinaus als Profite bei Klinikkonzernen, Pharmaunternehmen und sonstigen Gesundheitsdienstleistern, ohne jeden Mehrwert für die Volksgesundheit – im Gegenteil.
Gruß von der Dystopie
Trotzdem braucht die Republik angeblich noch mehr Innovation und bekommt sie prompt, dank ePA. Bei der geballten Lobbymacht der Industrie nimmt es auch nicht wunder, wenn die beim FDZ lagernden Datenschätze ziemlich lausig gesichert werden. Die künftig zu Forschungszwecken vergebenen Daten sollen laut Gesetz lediglich pseudonymisiert und nicht anonymisiert werden. Fachleute beklagen, damit ließen sich die Informationen mit bloß geringem Aufwand der zugehörigen Einzelperson zuordnen. Außerdem müssen die Empfänger den Nachweis, wie und wofür sie die Daten verwendet haben, erst nach zwei Jahren nachliefern. Für den Fall eines Datenmissbrauchs droht der Gesetzgeber mit dem Wurf von Wattebällchen: Dann wäre ein Nutzungsverbot von maximal zwei Jahren fällig.
Die Risiken seien beträchtlich, warnte Datenschützer Weichert in seiner „Lobrede“ auf Lauterbach. Die Daten könnten in die Hände von Adresshändlern gelangen und die Krankenkassen versucht sein, Patienten hinter dem Rücken ihrer Ärzte zu günstigeren Therapien zu überreden. Man könne den Bogen auch „ins Dystopische“ spannen: „Wer kann künftig ausschließen, dass Versicherungsunternehmen oder Arbeitgeber aus solchen Daten ablesen, wer zum Beispiel wegen einer Depression behandelt wurde oder einen spezifischen Gendefekt hat?“ Zudem käme die Infrastruktur für die Datenbereitstellung vom Staat, „die Profite kommen der Industrie zugute“. Die Betroffenen würden „weder informiert, geschweige denn gefragt“.
Zum Abschluss grüßte Weichert den Abwesenden mit einem Zwinkern: „Herzlichen Glückwunsch, Gesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach.“ Man möchte hinzufügen: „Und bleiben Sie gesund!“
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Washington hat dem ukrainischen Militär die Erlaubnis erteilt, Langstreckenraketen auf Ziele tief im russischen Staatsgebiet abzuschießen. Die Entscheidung kommt wenig überraschend, nachdem das Pentagon im Sommer die Eskalation auf eine neue Stufe gehoben hat, indem es ankündigte, ab 2026, also nach den 1980er-Jahren, wieder Raketen unter US-Kommando in Deutschland zu stationieren, die tief in Russland einschlagen können. Beide Entscheidungen bedrohen die Sicherheit Europas und bringen die Aussicht auf einen Atomkrieg näher. Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, warum es heute in Europa keinen ähnlichen Protest wie gegen die Stationierung der Pershings gibt. Ein Beitrag von Gábor Stier, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
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Joe Biden hat der Ukraine die Erlaubnis erteilt, unter bestimmten Einschränkungen eine US-Langstreckenwaffe, das ATACMS-Raketensystem, auf russischem Territorium einzusetzen. Wie die New York Times berichtet, hat der US-Präsident diesen gefährlichen Schritt angesichts der Präsenz nordkoreanischer Truppen in Russland in der Region Kursk unternommen. Biden soll die Stationierung von ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von rund 300 Kilometern in dem Gebiet damit gerechtfertigt haben, dass die ukrainischen Streitkräfte sich auf russischem Boden verteidigen können und gleichzeitig eine Botschaft an das nordkoreanische Regime senden, keine weiteren Truppen zu entsenden. Darüber hinaus war die Entscheidung der USA vermutlich auch dadurch motiviert, den Ukrainern bei künftigen russisch-ukrainischen Friedensgesprächen eine bessere Verhandlungsposition zu verschaffen.
Bisher war die Regierung Biden strikt dagegen, dass die Ukraine russisches Territorium mit ihrem ATACMS-Überschallraketensystem angreift.
Die Ukraine bemüht sich seit Monaten um eine Genehmigung für den Einsatz der Raketen, mit dem Argument, dass die Waffe es ihr ermöglichen würde, „Ziele zu beschädigen, die die Kriegsmaschinerie des Kremls schwächen könnten“. Anfang dieses Jahres bat Kiew Washington, der Ukraine ATACMS-Raketensysteme zur Verfügung zu stellen, und im August darum, dass die ukrainischen Streitkräfte diese in Kursk einsetzen können. Wolodymyr Selenskyj kann also behaupten, dass einer der Punkte seines sogenannten Siegesplans erfüllt wurde. Das könnte für eine Weile verhindern, dass die Moral der ukrainischen Armee weiter geschwächt wird, und der Schritt der USA könnte die Briten und Franzosen sowie im Falle eines Wahlsieges der CDU auch die Deutschen zu einer ähnlichen Entscheidung veranlassen. Zwei Monate vor dem Abgang Joe Bidens und dem Amtsantritt des designierten US-Präsidenten Donald Trump, der damit gedroht hat, die Hilfe für die Ukraine zu kürzen, markiert die Entscheidung einen wichtigen Wandel in der Haltung der USA.
Der Schritt Bidens wurde gerade wegen Trumps Sieg erwartet. Der scheidende Präsident ist an nichts mehr gebunden, und wenn nicht zu seinen Vorstellungen, so passt sie doch in das Narrativ derer, die hinter ihm stehen. Außerdem kann er möglicherweise eine Situation schaffen, die bei einer überhaupt nicht auszuschließenden Eskalation den Handlungsspielraum des Nachfolgers einengt und es schwieriger macht, den Konflikt einzufrieren und einen Waffenstillstand mit starken Kompromissen für die Ukraine zu vereinbaren.
Doch die Entscheidung ist nach Ansicht vieler Experten nicht ohne Präzedenzfall. Wie Anatol Lieven in einem Beitrag darlegt, wurde sie im Wesentlichen dadurch ausgelöst, dass Deutschland zum ersten Mal seit den 1980er-Jahren zugestimmt hat, dass Washington ab 2026 drei Typen von US-Raketen auf seinem Territorium unter US-Kommando stationieren darf: den Marschflugkörper Tomahawk Block 4 mit einer Reichweite von etwas mehr als 1.000 Meilen (ca. 1.600 Kilometer), die Standard Missile-6 (SM-6) mit einer Reichweite von 370 Kilometern, die vor allem der Luftverteidigung dient, und die noch in der Entwicklung befindliche Long-Range Hypersonic Weapon LRHP (auch „Dark Eagle“ genannt) mit einer Reichweite von mehr als 2.900 Kilometern. Zwei dieser Raketen werden in der Lage sein, tief in Russland einzudringen und Moskau zu treffen.
Die Stationierung von Tomahawks und LRHP verstößt gegen den INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces) von 1987, der die Stationierung von bodengestützten Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.000 Kilometern verbietet.
Die Trump-Administration ist jedoch 2019 aus dem INF-Vertrag ausgetreten, und Russland hat daraufhin seine Einhaltung ausgesetzt. Die Regierung Biden hat keinen Versuch unternommen, über eine Rückkehr zu diesem Vertrag zu verhandeln. Sowohl die Trump- als auch die Obama-Administration haben behauptet, dass Russlands ballistische SRBM-Rakete Iskander (nuklearfähig, aber nicht nuklear bestückt) mit einer angeblichen Reichweite von weniger als 500 Kilometern (innerhalb der Grenzen des INF-Vertrags), die in Kaliningrad stationiert ist (ein isoliertes Gebiet in der Ostsee, angrenzend an Polen und Litauen, 526 Kilometer von Berlin entfernt), in Wirklichkeit eine größere Reichweite hat und somit gegen den Vertrag verstößt.
Es ist außerdem nicht ausgeschlossen, dass die Stationierung der Tomahawks von Washington für ein zukünftiges Abkommen mit Russland wie bei den Pershings vorgesehen ist, aber in der Zwischenzeit schaffen sie erhebliche Unsicherheit.
Der einzige erklärbare Zweck der Stationierung von Tomahawk-Raketen in Deutschland ist laut Lieven das Angebot, diese im Rahmen eines neuen Abkommens mit Russland zur Reduzierung der Atomwaffen wieder abzugeben. Dies war auch das einzige positive Ergebnis der Stationierung von Pershing-II-Raketen in Westdeutschland in den 1980er-Jahren. Die Entscheidung über die Stationierung der Pershings im Jahr 1979 war nämlich von der Ankündigung begleitet, dass ein Abkommen ausgehandelt werden würde. Die jetzige Entscheidung wurde nicht von einer solchen Erklärung begleitet, und die gesamte Entwicklung der Rüstungskontrollvereinbarungen in den letzten zehn Jahren ging in die entgegengesetzte Richtung, hin zu einem unkontrollierten Wettrüsten. Die Vereinigten Staaten haben die Vereinbarungen zur Gewährleistung der strategischen Stabilität aufgekündigt, was die Sicherheit Europas auf erkennbare Weise geschwächt hat.
Wenn man dann noch bedenkt, dass vor den Toren Europas Krieg herrscht und Washington unter diesen Umständen zulässt, dass tief liegendes russisches Territorium von US-Langstreckenraketen angegriffen wird, dann gibt es Grund zur Sorge. Die US-Amerikaner brauchen sich natürlich keine Sorgen über eine mögliche Eskalation der Situation zu machen, da russische Mittelstreckenraketen zwar Deutschland, nicht aber die Vereinigten Staaten treffen könnten. In solchen Situationen – oder besser gesagt, um sie zu verhindern – wäre die strategische Autonomie Europas vonnöten. Es scheint jedoch, dass die gegenwärtigen europäischen Eliten höchstens darüber reden. Straßenproteste oder der Rückgang der Popularität könnte die Politiker dazu zwingen, diese Autonomie herbeizuführen.
Dieser Beitrag ist zuerst im ungarischen Original auf Moszkvater erschienen.
Titelbild: Shutterstock / Mike Mareen
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Letzte Woche fand in Lissabon der Web Summit (WS), eine alljährliche Technologie-Konferenz statt, intern auch als „Davos der Tech-Branche“ benannt, mit über 70.000 Teilnehmern aus 160 Ländern. Am Rande kam es auf Initiative eines der Mitgründer von WS zu einer denkwürdigen Zusammenkunft. Rund 15 hochrangige Vertreter von internationalen Leitmedien aus den USA, England und Deutschland trafen auf Journalisten von „Alternativmedien“, um über das Thema „Desinformation“ und „Faktencheck“ zu diskutieren. Die NachDenkSeiten waren als einziges deutsches „Alternativ“-Medium eingeladen. Die Diskussion verlief zwischen produktiv und hitzig, angespannt. Von Florian Warweg.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Einleitende Anmerkung zum Verständnis über die Art der folgenden Berichterstattung: Die zwei aufeinanderfolgenden Paneldiskussionen zwischen Vertretern von Leit- und Alternativmedien im Rahmen des Web Summit in Lissabon, über die im weiteren Verlauf dieses Artikels berichtet wird, fanden unter der sogenannten „Chatham House Rule“ (Chatham-Haus-Regel) statt, die die Weitergabe von Inhalten vertraulicher Gespräche an Dritte regelt. Diese Regel lautet: „Bei Veranstaltungen, die unter die Chatham-House-Regel fallen, ist den Teilnehmern die freie Verwendung der erhaltenen Informationen unter der Bedingung gestattet, dass weder die Identität noch die Zugehörigkeit von Rednern oder anderen Teilnehmern preisgegeben werden dürfen.“ Es kann also nur in der Art, wie etwa auch über Bilderberg-Treffen geschrieben wird, bei dem übrigens auch die Chatham-Haus-Regel gilt, darüber berichtet werden.
Am Rande des Web Summits …
Im Rahmen des Web Summit in Lissabon, bei dem in diesem Jahr auch die Whistleblowerin Chelsea Manning zu Gast war, trafen bekannte Journalisten aus dem Feld der Mainstream-Presse und Vertreter von Alternativmedien in der portugiesischen Hauptstadt zusammen. In zwei aufeinanderfolgenden Diskussionsrunden wurden die derzeit wohl heikelsten Themen der modernen Medienwelt diskutiert. Die vorgegebenen Titel der beiden nichtöffentlichen Zusammenkünfte lauteten:
Etwas Kontext …
Das Treffen fand vor dem Hintergrund der Kontroversen um den Mitbegründer des Web Summit, den irischen CEO Paddy Cosgrave, statt, der erst kürzlich in seine Funktion als Vorstandsvorsitzender des WS zurückgekehrt war, nachdem er 2023 nach kritischen Äußerungen über Israels Vorgehen in Gaza zurücktreten musste. Zuvor hatten sich aus Protest gegen dessen Äußerungen große Technologiekonzerne wie Intel, Siemens, Google, Amazon und Meta vom WS 2023 zurückgezogen, ebenso hatte Robert Habeck damals seinen geplanten Besuch der Konferenz abgesagt. Cosgraves Rückkehr auf die Bühne und Leitung der Tech-Konferenz wurde von den genannten Tech-Vertretern in diesem Jahr sehr genau unter die Lupe genommen.
Der Auslöser für seinen kurzfristig erzwungenen Rücktritt 2023 war übrigens dieser Tweet:
„Ich bin schockiert über die Rhetorik und die Handlungen so vieler westlicher Staats- und Regierungschefs, mit Ausnahme insbesondere der irischen Regierung, die ausnahmsweise einmal das Richtige tut. Kriegsverbrechen sind Kriegsverbrechen, auch wenn sie von Verbündeten begangen werden, und sie sollten als das bezeichnet werden, was sie sind.“
I’m shocked at the rhetoric and actions of so many Western leaders & governments, with the exception in particular of Ireland’s government, who for once are doing the right thing. War crimes are war crimes even when committed by allies, and should be called out for what they are.
— Paddy Cosgrave (@paddycosgrave) October 13, 2023
Es war diese am eigenen Leib erlebte Cancel-Erfahrung, die den irischen CEO dazu motivierte, Medienvertreter aus unterschiedlichen Lagern im Rahmen des Web Summit zusammenzubringen. Ein in diesen Zeiten wohl relativ einmaliges Format, welches allerdings auf beiden Seiten durch Journalisten aus den USA und England dominiert wurde, ergänzt um drei deutsche Journalisten. Vertreter aus Afrika, Asien, Lateinamerika oder auch Süd- und Osteuropa fehlten völlig.
Let’s start …
Ein hochrangiger Vertreter einer deutschen Rundfunkanstalt erklärte gleich bei seinem Eingangsstatement nach der allgemeinen Vorstellungsrunde, dass man hier ja unter Westlern sei und die eigentlichen Probleme der Pressefreiheit eher in autoritären Staaten wie Russland und China zu suchen seien. Als konkretes Beispiel verwies die Person dann darauf, dass ja etwa der deutsche Auslandssender Deutsche Welle (DW) im Februar 2022 vom Kreml mit einem Sendeverbot belegt worden sei. Darauf folgte die Nachfrage, ob es nicht etwas widersprüchlich sei, die Schließung der DW zu beklagen, aber gleichzeitig nicht zu erwähnen, dass diesem Schritt das Verbot von RT in Deutschland vorausgegangen war und ob dieses Verbot wiederum gutgeheißen würde. Die Erwiderung lautete, man habe die Schließung von RT in Deutschland nicht befürwortet und sich eine andere Lösung erhofft. Diese Haltung hätte man auch so kommuniziert.
Daran schloss sich unmittelbar ein weiterer Diskussionspunkt an, eingeleitet durch die Frage, wieso die sogenannten Faktenchecks die Tendenz hätten, „immer nur nach unten zu treten“. Gemeint war damit, dass Faktenchecks sich beinahe ausnahmslos nur gegen viral gegangene X-Tweets von privaten Nutzern oder Veröffentlichungen kleinerer Online-Portale richten, aber so gut wie kein Fall bekannt ist, in dem sich private Faktenchecker oder staatlich finanzierte (im deutschen Fall z.B. Correctiv und DW) mit Veröffentlichungen großer Medienhäuser oder Nachrichtenagenturen auseinandersetzen würden. Als konkretes Beispiel wurde angesprochen, dass etwa ein aktueller Faktencheck der DW („Faktencheck: Verstößt NATO-Präsenz gegen 2+4-Vertrag?“) die Darstellung eines viralen Tweets, dass es sich bei dem neuen maritim-taktischen Hauptquartier in Rostock um ein NATO-Hauptquartier handeln würde, als „falsch“ bezeichnet, aber die identische Betitelung bei Tagesschau, SPIEGEL, dem eigenen polnischen DW-Ableger und fast allen anderen Leitmedien völlig unangetastet ließ.
Hier wurde zunächst von den Leitmedien-Vertretern immer wieder betont, man hätte keine Agenda (ein Vorwurf, der zu diesem Zeitpunkt gar nicht erhoben worden war), um im späteren Verlauf aber durchaus einzugestehen, dass das Ausklammern der großen Medienhäuser tatsächlich ein relevanter Kritikpunkt bei der Natur der derzeitigen Faktenchecks sei. Dabei kam in der weiteren Diskussion heraus, dass es bei der Faktencheck-Produktion eine relevante Rolle spielt, ob die entsprechende Faktenprüfung auch gut geklickt wird, und erfahrungsgemäß die Deklarierung als „falsch“ klicktechnisch vielversprechender sei als abwägende Bewertungen wie „teilweise…“, „fehlender Kontext“ oder gar „richtig“. Dies, das wurde durchaus selbstkritisch eingeräumt, könne zu einem gewissen „bias“ bei der Vorauswahl der zu faktcheckenden Themen führen. Ein Teilnehmer mit Sitz in London brachte den Aspekt in die Diskussion ein, dass ausgerechnet bei Faktenchecks oft die jüngsten, unerfahrensten und am schlechtesten bezahlten Journalisten der Redaktionen zum Einsatz kommen. Diese Beobachtung wurde länderübergreifend bestätigt. Vor diesem Hintergrund sei noch erwähnt, dass die Fauxpas des ARD-Faktenfinders Pascal Siggelkow (man denke etwa an seine legendäre Falschübersetzung „Sprengstoff in Pflanzenform“) auch schon bei den anglo-amerikanischen Kollegen die Runde gemacht hatten und für entsprechende Lacher und Kopfschütteln sorgten.
Es wird hitzig …
Bis zu diesem Punkt war die Diskussion leidenschaftlich, aber durchaus produktiv verlaufen.
Dies sollte sich ändern, sobald der Begriff „Zensur“ in die Debatte eingebracht wurde und die Teilnehmer über die Rolle von Plattformen bei der Kontrolle von Berichterstattung debattierten. Uneinigkeit herrschte insbesondere über die Bewertung der Twitter-Files, einer Reihe interner Mitteilungen, die Ende 2022 nach der Übernahme durch Elon Musk veröffentlicht worden waren. Einige Teilnehmer argumentierten, dass die Dateien Beweise für eine systemische Zensur lieferten, die von staatlichen und unternehmerischen Interessen beeinflusst sei. Ein Teilnehmer bezeichnete dies als „Zensur-Industrie-Komplex“. Andere taten die Twitter-Dateien wiederum als „nichts“ („nothing burger“) ab und deuteten an, dass die Enthüllungen übertrieben seien und es an stichhaltigen Beweisen für ein wirkliches Fehlverhalten oder gar Zensur fehle. Die Debatte offenbarte eine tiefe Kluft in der Frage, wie solche Enthüllungen zu interpretieren seien und inwieweit private Unternehmen für die Moderation und Unterdrückung von Inhalten zur Rechenschaft gezogen werden sollten.
Die Diskussion wurde interessanterweise besonders hitzig und kontrovers geführt, als es um die Frage ging, ob Journalisten Informationen von Regierungen oder suprastaatlichen Institutionen wie etwa der WHO unhinterfragt übernehmen sollten oder ob auch diese im Interesse der Transparenz hinterfragt werden sollten. Die aufschlussreiche Antwort eines Leitmedien-Vertreters: Er hätte für einen Faktencheck zwei oder drei Stunden Zeit, es sei völlig illusorisch und nicht zielführend, in so einem Rahmen auch noch anzufangen, Berichte oder Statistiken der WHO oder des Gesundheitsministeriums zu hinterfragen, dies seien schließlich „good faith institutions“ (dies kann man am ehesten noch mit „vertrauenswürdige Institutionen“ übersetzen). Danach verließ besagte Person mit hochrotem Kopf die Diskussion.
Es kam auch zu einem Disput darüber, wie mit den Äußerungen von Donald Trump umgegangen werden sollte. Ein Teilnehmer fragte, wie die Medien über eine Person berichten sollten, deren Aussagen häufig die traditionellen Standards der Berichterstattung infrage stellen. Während einige dafür plädierten, Trumps Behauptungen rigoros auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, warnten andere davor, dass die Konzentration auf jedes seiner Worte das Risiko berge, Fehlinformationen zu verstärken.
Ein freier Journalist verwies im weiteren Verlauf auf das kanadische Notstandsgesetz, das während der Trucker-Proteste in Ottawa im Jahr 2022 zur Sperrung von Bankkonten führte, als Beispiel für die Macht des Staates, Narrative zu beeinflussen oder zu unterdrücken, wobei Medien und Social-Media-Plattformen laut diesem eine unrühmliche und staatstragende Rolle bei der Einhegung der damaligen Truckerproteste gepielt hätten.
Auf der anderen Seite argumentierte ein in New York ansässiger Tech-Redakteur, dass solche Kritiken Gefahr liefen, den Grad an Koordinierung in Redaktionen überzubewerten, und wies darauf hin, dass Mainstream-Medien, selbst bei sich überschneidenden Ansichten, aus einer Vielzahl von Motiven heraus agieren und daher nie eine „gemeinsame Agenda“ vertreten könnten. Dem widersprachen andere Teilnehmer mit Verweis auf die sehr einseitige Berichterstattung im Themenkontext der Corona-Krise. Ein weiterer Leitmedien-Vertreter wies den Vorwurf der medialen Einseitigkeit zu Themen um Covid-19 zunächst vehement zurück, nur um dann kurz danach einzuräumen, dass seine Kinder ihn regelmäßig befragt und kritisiert hätten, wieso sein Sender so einseitig berichte und nur gewisse Experten zu Wort kommen ließe. Er habe diesen Vorwurf gegenüber seinen Kindern immer vehement bestritten, müsse aber in der Rückschau „vielleicht“ doch einräumen, dass es vereinzelt zu solchen Tendenzen gekommen sei.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass sich dieser Ansatz, rund je ein Dutzend Journalisten von alternativen und Mainstream-Medien, und in beiden Fällen auch in einer breiten politischen Streuung (von klassisch links, über linksliberal bis rechtskonservativ) in einem offenen Diskussionsformat zusammenzubringen, ausgezahlt und auf beiden Seiten Vorbehalte und Blasenbildung aufgebrochen hat.
Wie wichtig und für die Erneuerung der Medien unabdingbar dieser Versuch des Aufbrechens der Blasen ist, wurde einem gleich im Anschluss an die Diskussion vor Augen geführt. Denn unmittelbar im Anschluss an die geschilderte Diskussion gab es eine öffentliche Veranstaltung auf dem Web Summit, in welcher der NPR-Redakteur Bobby Allyn die zwei New-York-Times-Reporter Kate Conger und Ryan Mac zum Thema „Hat Elon Musk Twitter zerstört?“ befragte. Das war für die Zuhörer ungefähr so erkenntnisreich, als wenn DLF-Moderator Christian Schmitt die Spiegel-Kolumnisten Sascha Lobo und Margarete Stokowski zu deren Haltung zu Donald Trump befragt hätte.
Titelbild: Web Summit
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