Politisches Interview

Südwestrundfunk

Interviews zu politischen und gesellschaftlichen Themen aus den aktuellen Kulturmagazinen von SWR2.

  • 24 minutes 33 seconds
    FDP-Fraktionschef Dürr: Wir brauchen mehr Menschlichkeit
    Mit Emotionen und Nebensächlichkeiten der Politik hat es Christian Dürr nicht so. Fragt man ihn, wie das denn so war, am Abend des Koalitionsausschusses im Kanzleramt, bleibt er sachlich. Will seine politischen Ideen verkaufen: Mehr tun für die Wirtschaft. Waffen für die Ukraine. Schuldenbremse beibehalten. Und sonst so? Gab es Emotionen? Keine Tränen, kein Lachen, sagt er. Und seine eigenen Gedanken, wenn er mal zur Ruhe kommt, vor dem Einschlafen, unter der Dusche? "Es kommen natürlich die Gedanken, wie geht es weiter? Wie kann man die Dinge so strukturieren, damit wir vernünftig vorankommen?", sagt der FDP-Fraktionschef. Politiker-Sprech.

    Reaktionen des Kanzlers haben Dürr überrascht

    Christian Dürr ist geübt. Der 47-jährige Familienvater aus Niedersachsen sitzt seit 2017 im Bundestag. Seit drei Jahren ist er Fraktionschef. Davor war er mehrere Jahre im Präsidium seiner Partei. Er versteht es, mit einem Lächeln den eigentlichen Fragen auszuweichen, seine politischen Ideen und den Spin seiner Partei zu verkaufen. Zum Beispiel den, dass die Reaktionen des Kanzlers nach dem Koalitionsausschuss am Mittwochabend unfein waren: "Das hat mich teilweise überrascht", sagt Dürr. "Ich weiß nicht, ob so scharfe Äußerungen des Nachtretens klug waren für die politische Kultur. Ich würde mich freuen, wenn wir da wieder zu mehr Menschlichkeit kommen."

    "Ich bin ein offener Typ"

    Er selbst sei ohne Groll, sagt Dürr, tritt aber auch selbst ein bisschen nach – geschickt und indirekt. Er zitiert einfach andere: "Ich habe gestern einen Journalisten gehört, der hat formuliert, dass ihm Politiker suspekt sind, die Wutausbrüche vom Monitor ablesen müssen. Aber ich glaube, das muss Olaf Scholz mit sich selbst ausmachen." Den Parlamentariern der anderen Parteien will er weiter offen begegnen. Zu manchen habe man ein engeres freundschaftliches Verhältnis, zu anderen weniger. "Ich bin ein offener Typ und bin immer bereit, mit Demokraten zu reden. Freundschaftlich." Dürr kann sich auch vorstellen, wieder mit Volker Wissing zu sprechen, der aus der FDP ausgetreten und in der rot-grünen Minderheitsregierung geblieben ist.

    "Brauchen keine Regeneration in der Opposition"

    Trotz der anstrengenden Ereignisse der vergangenen Tage bleibt Dürr dabei: Er sei gerne Fraktionsvorsitzender seiner Partei. Und überhaupt, sei er gerne Parlamentarier. An eine Zukunft seiner Partei im Bundestag glaubt er fest. "Wir brauchen keine Phase der Regenerierung in der Opposition, sondern wir sind mit Tatendrang unterwegs", sagt Dürr. Und fordert schnelle Neuwahlen. Danach will FDP-Chef Lindner sogar wieder Finanzminister werden. Wäre Dürr, studierter Ökonom, da nicht auch für das Amt des Wirtschaftsministers zu haben? Vielleicht ja sogar unter einem grünen Kanzler Habeck? Der hat seine Ambitionen jetzt öffentlich gemacht. Beim Grünen Parteitag kommende Woche soll er als Kandidat gekürt werden. Dürr lächelt. "Ich kann mir Vieles vorstellen, aber die Tatsache, dass Robert Habeck jetzt Bundeskanzler wird, sehe ich offen gestanden nicht."
    8 November 2024, 2:19 pm
  • 24 minutes 44 seconds
    Digitalpakt Schule: Stark-Watzinger erhöht Druck auf Länder
    Die Situation ist verfahren, die Fronten verhärtet, doch die Zeit drängt: Bund und Länder scheinen beim Thema Digitalpakt Schule für nächstes Jahr nicht zueinander zu finden. Knackpunkt: Kompetenzen und Geld. Im ARD Interview der Woche erhöht Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) den Druck auf die Bundesländer: "Wir vom Bund sind klar aufgestellt." 2,5 Milliarden Euro als Angebot würden auf dem Tisch liegen, jetzt komme es darauf an, "dass die Länder eben auch sagen, welchen Beitrag sie leisten wollen." Mit dem Digitalpakt 1.0 haben Bundesregierung und Länder seit 2019 Milliarden investiert, um die Schulen moderner und digitaler aufzustellen: mit W-Lan, iPads oder Tablets. Im Sommer ist der Pakt ausgelaufen, alle Beteiligten sind sich einig: Es braucht eine Fortführung, einen Digitalpakt 2.0. Doch die Zeit drängt, wenn er im neuen Jahr an den Start gehen soll. Bund und Länder liegen weit auseinander. Streitpunkt: Kompetenzen, Geld. Im ARD Interview der Woche besteht Stark-Watzinger auf einer Ko-Finanzierung: 50 Prozent der Finanzen übernimmt der Bund, 50 Prozent die Länder. Die FDP-Politikerin fordert "mehr Tempo". Doch in einem föderalen System gibt es 16 zuständige Minister in den Bundesländern – Bildung ist Ländersache. Stark-Watzinger fordert im Zuge des Digitalpakts 2.0 daher mehr Verantwortung für den Bund bei digitaler Bildung. Sie spricht sich für eine "klare Aufgabenteilung" aus, um die Umsetzung zu beschleunigen und Zuständigkeiten zu schaffen – auch über das Thema Digitalisierung hinaus: mit einheitlichen, verbindlichen Standards bei Bildungsabschlüssen. Das sei "ein großer Wunsch der Familien in unserem Land", damit es eine Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern gebe: "Wir wollen ja mobil sein mit unseren Bildungsabschlüssen." Wäre der Bund für diese übergeordneten Themen bei der Bildung zuständig, so hätten die Menschen auch einen Ansprechpartner, der in der Verantwortung stehe, so Stark-Watzinger.

    Stark-Watzinger zu Ampel-Koalition: Hängt von nächsten Wochen ab

    Nicht nur zwischen Bund und Ländern hakt es – auch in der Bundesregierung stockt die politische Arbeit: FPD, Grüne und SPD positionieren sich auf offener Bühne – jeder einzeln. Der Wahlkampf scheint längst eingeläutet zu sein, das haben vor allem die separat einberufenen Industrie- und Wirtschaftsgipfel von Kanzler Scholz (SPD) und Finanzminister Lindner (FDP) in dieser Woche deutlich gemacht. Bettina Stark-Watzinger war bei keinem dabei. Oft geht unter, dass sie auch stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP ist. Angesprochen auf einen möglichen Ampel-Bruch durch die FDP meint die Ministerin im ARD Interview der Woche: "Natürlich tritt man an in dieser Legislaturperiode und ich will auch eine Legislaturperiode zu Ende machen, aber wir müssen auch die richtigen Entscheidungen treffen." Für sie und die FDP hänge jetzt alles von der Wirtschaft und dem Haushalt ab. "Eine Regierung ist dann gut, wenn sie ihre Arbeit gut macht. Und das ist für mich die Frage der nächsten Wochen."

    Fördergeld-Affäre: "Die Sache ist erklärt, es gibt jetzt nichts, was offen ist."

    Auf weiterhin offene Fragen zur sogenannten Fördergeld-Affäre scheint Stark-Watzinger auszuweichen. In ihrem Ministerium wurde kurzzeitig geprüft, ob Forschern staatliche Fördermittel gestrichen werden könnten, die sich in einem Brief gegen die Räumung eines pro-palästinensischen Protestcamps an einer Berliner Hochschule ausgesprochen hatten. Im ARD Interview der Woche betont die Bildungsministerin erneut: Sie habe alles offengelegt. Kritiker – auch aus den eigenen Ampel-Reihen – sehen das anders, stellen weiterhin Fragen: Warum lässt die Ministerin die ehemalige Staatssekretärin, die für die Fördergeld-Affäre verantwortlich gemacht und entlassen wurde, nicht öffentlich reden? Warum legt das Ministerium die interne Kommunikation nicht offen? Damit konfrontiert, erwidert Stark-Watzinger, man müsse jetzt "auch wieder an den Themen arbeiten, die unser Land voranbringen." Weiter meint Stark-Watzinger zur Fördergeld-Affäre, die Sache sei erklärt, es gebe nichts, was offen sei.
    1 November 2024, 9:18 am
  • 24 minutes 27 seconds
    Lauterbach will steigende Pflegekosten stoppen
    Die Kosten für einen Platz in einer Pflegeeinrichtung steigen seit Jahren stark an. Nach einer Auswertung des Verbands der Ersatzkassen müssen Betroffene für das erste Jahr im Heim durchschnittlich rund 2900 Euro im Monat zahlen. Vor allem in Süddeutschland liegen die Preise noch höher. Bundesgesundheitsminister Lauterbach will das ändern. Im ARD Interview der Woche sagt er: "Ich arbeite mit Olaf Scholz schon seit einigen Wochen sehr intensiv an einem ersten Vorschlag für eine Pflegereform." Das Ziel dieser Reform sei, "dass wir die stetig steigenden Pflegekosten beherrschen." Und zwar so: "Dass der Anstieg stoppt", betont Lauterbach.

    Neue Pflegereform soll Entlastung bringen

    Der Minister verspricht eine "große Reform". Ein Teil der hohen Kosten habe allerdings nichts mit der Pflege der Menschen zu tun, sondern mit den steigenden Kosten für die Unterbringung und Versorgung. "Das sind alles Dinge, die bezahlt die Pflegekasse gar nicht. Und da müssen wir auch Lösungen finden." Er sei dazu auch mit Bauministerin Klara Geywitz im Gespräch. Lauterbach geht davon aus, dass die Reform noch vor der nächsten Bundestagswahl verabschiedet wird. "Die Zeit reicht auf jeden Fall", sagt er. Ein noch größeres Problem als die Finanzierung sieht Lauterbach darin, künftig genügend Pflegekräfte zu finden: "Weil die Babyboomer-Pflegekräfte verlassen die Pflege. Und wir haben den Nachwuchs nicht." Mit drei verschiedenen Gesetzen, die schon im Verfahren seien, will er gegensteuern und genug Pflegekräfte ausbilden. Zudem setzt Lauterbach auf das weltweite Anwerben von Pflegekräften aus dem Ausland: "Wir werden in der Medizin und auch in der Pflege zunehmend, und zwar stark zunehmend, auf ausländische Kräfte angewiesen sein." Der Personalmangel habe schon heute schwerwiegende Folgen. "Es ist auf dem Land jetzt zum Teil schon so, dass die Pflegeeinrichtungen keine neuen Bewohner mehr aufnehmen können", sagt Lauterbach.

    Medikamentenmangel: Lauterbach verspricht Lösung der Probleme

    Mit Blick auf Lieferengpässe bei mehreren wichtigen Medikamenten wie Antibiotika verteidigt der Gesundheitsminister im ARD-Interview seine bisherigen Gesetze gegen den Mangel von Arzneimitteln. Das Hauptproblem für die weiterhin bestehenden Probleme seien alte Rabattverträge mit den Arzneimittelherstellern bei Nachahmerprodukten, sogenannten Generika. Diese Verträge würden keine Regelungen zur Bevorratung der Medikamente beinhalten. Lauterbach: "Somit sind immer dann, wenn Lieferengpässe da sind, die deutschen Apotheken leer, weil wir eben die Lieferengpässe nicht überbrücken können. Es gibt keine Lagerhaltung, die vorgeschrieben wäre." Das seien keine intelligenten Verträge gewesen, die unter früheren Gesundheitsministern geschlossen wurden.

    Alte Verträge mit Arzneimittelherstellern müssen erst auslaufen

    Diese Fehler seien inzwischen beseitigt worden. Nun würden die "alten, schlechten Verträge" systematisch auslaufen. Problem: Aktuell sind noch viele der bisherigen Verträge in Kraft, sie können nicht einfach gekündigt werden, erklärt Lauterbach. Allerdings: "Ein Viertel ist schon ausgelaufen. Da gelten schon die neuen Verträge. Dreiviertel laufen aus", so der Minister. Künftig sollen nur noch diejenigen Arzneimittelhersteller einen Vertrag erhalten, die sechs Monate Lagerhaltung nachweisen können. Lauterbach: "Kommt dann tatsächlich ein Lieferengpass, sind diese Firmen nicht betroffen." Seine Gesetze würden wirken, und mit Verweis auf diesen Herbst und Winter unterstreicht der Minister: "Gerade bei Kindern werden wir weniger Lieferengpässe haben – bei Kinderantibiotika, auch bei den Fiebersäften wird es deutlich besser sein." Insgesamt sei die Zahl der nicht lieferbaren Medikamente zurückgegangen.

    Apotheker warnen weiter vor Lieferengpässen

    Manche Apothekerverbände sehen das anders. Vor zwei Wochen schlug der Apothekerverband Nordhessen Alarm und kritisierte, dass wieder viele Antibiotika-Säfte für Kinder und Babys fehlen würden. Aktuell werden Engpässe bei Kochsalzlösungen gemeldet, die vor allem in Kliniken gebraucht werden. Grund: Hurrikan "Helene" hat den größten Produktionsstandort der USA für Infusionslösungen beschädigt. Seitdem sprechen Experten von einer erhöhten Nachfrage und Engpässen im Markt, unter denen auch deutsche Krankenhäuser leiden.
    25 October 2024, 2:29 pm
  • 24 minutes 31 seconds
    VDA-Chefin Müller: Brauchen schnelle Entscheidung bei E-Auto-Prämie
    Das private Auto von Hildegard Müller verrät viel über die E-Mobilität in Deutschland: Denn die Cheflobbyistin der Branche fährt hybrid und sagt dazu im ARD Interview der Woche. "Wenn ich mal längere Strecken fahren und nicht ganz sicher bin, ob ich das hinbekomme mit dem elektrischen Laden, klappt das dann auch." So wie die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie zögern viele in Deutschland bei der reinen Elektromobilität. Mehr noch: Laut einer Umfrage im Auftrag des Versicherers HUK Coburg entscheiden sich immer mehr E-Autofahrer dazu, wieder auf einen Verbrenner umzusteigen. Hildegard Müller sieht die Verantwortung auch in der Politik. Als Beispiele nennt sie die abrupte Rücknahme der Kaufprämie im vergangenen Jahr und fehlende Ladesäulen. "Die Leute überlegen: Ich muss mich von A nach B bewegen. Klappt das? Kann ich laden? Kann ich nicht laden? Und diese gesamte politische Diskussion derzeit verunsichert."

    "Wir erwarten klare und schnelle Signale"

    Damit meint die VDA-Chefin auch die gerade entfachte Diskussion über neue Kaufanreize für E-Autos. Erst vor einer Woche hatte die SPD diese in ihrem Strategiepapier angeregt. Zwar zeigt sich Hildegard Müller grundsätzlich offen, mahnt aber zu Tempo: "Dieses ‚Man müsste mal darüber nachdenken, ob und ab wann‘, führt erstmal dazu, dass die Leute abwarten", sagt Müller. "Wir erwarten jetzt klare und schnelle Signale, die zum Beispiel in der Frage einer KfZ-Steuerbefreiung für E-Autos liegen könnte." Statt langer Diskussionen bräuchte es schnelles Handeln. "Die Verbraucher wollen schnell wissen, woran sie genau sind."

    "Wir müssen unsere Probleme in den Griff bekommen"

    Tempo fordert Müller auch bei der Wachstumsinitiative: Ein Maßnahmenpaket, mit dem die Bundesregierung die Wirtschaft in Deutschland ankurbeln möchte. "Wir brauchen dringend diese Impulse, es geht nicht nur um die Automobilindustrie. Die gesamte Wirtschaft wartet", so Müller. Sie verweist auf eine BDI-Studie, wonach 20 Prozent der Industrieproduktion akut gefährdet ist. Am Ende bleibe aber auch die Wachstumsinitiative ein "Tropfen auf den heißen Stein". Langfristig brauche es mehr als Symptombekämpfung: "Wir müssen unsere Probleme in den Griff bekommen." Also etwa hohe Energiekosten und zu viel Bürokratie. Ein Verschlafen der deutschen Autohersteller beim Einstieg in die E-Mobilität möchte Müller nicht erkennen. "Von den Zahlen her kann ich das nicht unterstützen, wir sind der zweitgrößte Produzent von E-Autos weltweit. Sieben von zehn in Deutschland verkauften Autos sind von deutschen Herstellern." Allerdings: Größter Hersteller von E-Autos bleibt China. Laut einer Untersuchung der Unternehmensberatung McKinsey kommt die Mehrheit - nämlich fast zwei Drittel – aller weltweit produzierten Autos aus China. 2023 war demnach jedes zweite verkaufte E-Auto von einer chinesischen Marke.

    "Für viele wird sich die Welt gigantisch ändern"

    Gleichzeitig will der weltweit größte E-Autohersteller BYD aus China auch den deutschen Markt erobern: Firmenchefin Stella Li kündigte jüngst an, den Absatz in Deutschland in den kommenden sechs Monaten steigern zu wollen. Drohen die Chinesen, auch bald den deutschen E-Auto-Markt zu dominieren? "Ich bin da optimistischer, weil ich um die Qualität unserer Autos weiß. Wir stellen uns dem Wettbewerb", zeigt sich Müller hoffnungsvoll. Auch wenn es derzeit bei VW brodelt und der Konzern massiv Stellen kürzen will, Müller sieht darin eine Folge der Transformation: "Das ist jetzt auch der Abbau der bisherigen Verbrennertechnologie." Man könne nicht auf Elektro umsteigen und glauben, dass sich das nicht auf Arbeitsplätze auswirke. "Darauf haben wir immer hingewiesen." Müller erinnert auch an die mittelständische Zulieferindustrie: "Da wird sich für viele die Welt gigantisch ändern und nicht jeder findet ein neues Geschäftsmodell." Hildegard Müller glaubt trotzdem, dass die deutschen Autobauer die Transformation überleben. Sie möchte jedenfalls auch zukünftig ein deutsches Modell fahren. Dass sie irgendwann mal ein chinesisches E-Auto fährt, schließt sie nahezu aus: "Da müsste schon viel passieren."
    18 October 2024, 8:58 am
  • 24 minutes 43 seconds
    Laschet: Politik in der ersten Reihe kann mörderisch sein
    Armin Laschet ist heute einfacher CDU-Bundestagsabgeordneter aus Aachen. Dabei hatte er bis 2021 eine steile Politikerkarriere: er war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, CDU-Parteichef - und: der letzte Kanzlerkandidat der Union vor Friedrich Merz. Als solcher war er massivem Druck ausgesetzt. Im Wahlkampf lachte er bei einem Termin nach der Flutkatastrophe an Ahr und Erft an unpassender Stelle, das Foto löste einen Shitstorm aus. Dazu kamen ständige Sticheleien vom internen Konkurrenten Markus Söder (CSU). Laschet scheiterte und macht trotzdem weiter. Respekt für Kevin Kühnert In dieser Woche hat der bisherige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert seinen Rückzug aus dem Amt und dem Bundestag aus gesundheitlichen Gründen erklärt. Laschet zeigt sich betroffen, dass Kühnert mit nur 35 Jahren aus der Politik aussteigt. "Er war ja ein Vollblutpolitiker, der sich immer ins Gefecht gestürzt hat," sagt Laschet. "Und dann sieht man auch, was die Politik und unsere Lebensart, unsere ständige Präsenz, auch an gesundheitlichen Schäden hervorrufen kann". Auf die Frage, wie mörderisch das politische Geschäft in der ersten Reihe inzwischen ist, sagt Laschet im ARD Interview der Woche: "Ja, das ist es. Ich habe vielleicht das Glück gehabt, dass das bei mir nie gesundheitlich erkennbare Schäden hervorgerufen hat." Als Kanzlerkandidat der Union sei er Anfeindungen und Hass ausgesetzt gewesen, berichtet Laschet und fügt hinzu. "Aber das ist so. Ich klage da nicht drüber. Aber man muss das wissen, wenn man in solchen Funktionen tätig ist."

    Laschet rät Kanzlerkandidat Merz: auch mal lachen

    Der aktuelle Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, wird jetzt ein Jahr unter intensiver Beobachtung stehen. Armin Laschet weiß, was das bedeutet. Ein unbedachtes Lachen im falschen Moment hat ihn Glaubwürdigkeit und vielleicht auch den Wahlsieg gekostet. Trotzdem rät er Merz vom Lachen nicht ab. "Na ja, ich finde, ab und an sollte man auch freundlich sein und lachen." In seinem Wahlkampf hat Laschet auch unter den ständigen Seitenhieben von CSU-Chef Markus Söder gelitten, der sich für den besseren Kanzlerkandidaten hielt. Jetzt sagt Söder, er sei fein damit, dass Merz der Kanzlerkandidat der Union für 2025 ist. Laschet hofft, dass Söder loyal bleibt, setzt aber im ARD Interview der Woche auch eine Spitze gegen Söder: "Ich bin noch nicht sicher, ob er nicht auch heute glaubt, dass er der Bessere ist. Aber es kann halt nur einen geben. Und Union, heißt CDU und CSU, müssen sich verständigen. Aber alle haben die Lehre aus 2021 verstanden: Zerstrittene Parteien werden nicht gewählt. Und ich glaube, das weiß auch Markus Söder."

    Koalitionsmöglichkeiten offenhalten

    Laschet hält nichts vom Kurs des CSU-Chefs Markus Söder, der ein Bündnis mit den Grünen auf Bundesebene ausschließt, ja sogar sein Veto angedroht hat. Der ehemalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen befürchtet, dass das den Verhandlungsspielraum einengt. Im ARD Interview der Woche argumentiert er: "Wenn man heute schon, sagt: DIE schon mal auf gar keinen Fall. AfD auch auf gar keinen Fall, was richtig ist, BSW auf Bundesebene auch auf gar keinen Fall. Ja, dann bleibt ja am Ende nur die SPD. Und sich auf die festzulegen, halte ich nicht für besonders klug." Laschet verweist auch auf die funktionierenden schwarz-grünen Regierungen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein und grün-schwarz in Baden-Württemberg.

    Kein AfD-Verbot

    Armin Laschet hat im Parlament viel Beifall bekommen für seine klaren Worte zur AfD. Er sieht in ihr eine Gefahr für die Demokratie, hält aber nichts davon, die Partei zu verbieten. Ein Verbotsverfahren sei aussichtslos und würde der AfD mehr nutzen als schaden. Marco Wanderwitz (CDU) und 37 Abgeordnete mehrerer Fraktionen wollen aus dem Bundestag heraus ein Verbotsverfahren gegen die AfD anstoßen. Laschet sagt dazu: "Das ist ein legitimes Anliegen. Ich habe mit ihm lange über die Frage diskutiert. Er hatte auch versucht, mich zu bewegen, da mitzumachen. Ich verstehe seine Argumente. Aber ich glaube, ich habe bessere." Das ARD Interview der Woche hat Hauptstadtkorrespondentin Eva Ellermann geführt.
    11 October 2024, 8:44 am
  • 24 minutes 43 seconds
    Integrationsbeauftragte Alabali-Radovan: Deutsche Einheit - Identität geht auch im Plural
    Reem Alabali-Radovan ist erst 34 Jahre alt und hat eine Vorzeige-Einwanderungsgeschichte: sie ist in Moskau geboren als Tochter irakischer Eltern, mit ihnen kam die damals 6-Jährige als Flüchtling nach Schwerin. Alabali-Radovan machte Abitur, studierte Politikwissenschaften und stieg 2015 in die Koordination der Flüchtlingsarbeit ein. Erst vor drei Jahren trat sie in die SPD ein und gewann bei der letzten Bundestagswahl gleich ein Direktmandat für ihre Partei. Sie ist Staatsministerin im Kanzleramt und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration und seit 2022 auch für Antirassismus. Alabali-Radovan ist verheiratet mit einem Boxer mit rumänischen Wurzeln und Mutter einer eineinhalbjährigen Tochter.

    "Identität geht auch im Plural"

    Die Zentrale Feier für den Tag der Deutschen Einheit war in diesem Jahr in Schwerin – ihrer Heimatstadt, freut sich Alabali-Radovan. Zu Deutschland gehören aus ihrer Sicht alle Menschen, die hier leben und ihren Beitrag leisten. "„Wir sind ein Einwanderungsland und wir wollen es auch bleiben und alle Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gehören selbstverständlich auch dazu", sagt die Integrationsbeauftragte im ARD Interview der Woche. "Wir müssen uns gar nicht zwischen Identitäten entscheiden", ergänzt sie. Sie selbst sagt über sich: "Ich fühle mich als Deutsche, als Schwerinerin, als Ostdeutsche, aber ich habe eben auch einen großen Bezug zu meinem irakischen Wurzeln. So fühlen viele Menschen, dass sie sich nicht zwischen einer Identität entscheiden können und wir müssen uns auch gar nicht zwischen Identitäten entscheiden. Ich finde, das gehört zu einem modernen Einwanderungsland dazu." Trotz der teilweise aufgeheizten Migrationsdebatte, sieht Alabali-Radovan keine Spaltung der Gesellschaft.

    "Patriarchale Strukturen gibt’s auch beim Oktoberfest"

    "Völlig klar ist, wir müssen Migration ordnen und steuern", stellt die Migrationsbeauftragte klar. Allerdings kritisiert sie die Migrationsdebatte als aufgeheizt und teilweise populistisch. Ihr Kabinettskollege Cem Özdemir von den Grünen hat vor kurzem gefordert, es müsse über problematische Frauenbilder und patriarchale Strukturen von jungen Männern mit Migrationshintergrund geredet werden. Die Integrationsbeauftragte widerspricht im ARD Interview der Woche: "Ich finde, es geht insgesamt um patriarchale Strukturen, die wir ebenso in Deutschland erleben bei Menschen ohne Migrationsgeschichte. Ich denke da nur zum Beispiel ans Oktoberfest und was da manchmal so los ist." Bei der Integration müssten noch viele Hürden beseitigt werden. Für ihre kleine Tochter wünscht sich Alabali-Radovan: "Vor allem, dass sie die besten Chancen hat auf gute Bildung und ich glaube, das ist das, was sich alle Eltern wünschen, dass sie unabhängig von dem, was sie jetzt von ihrem Elternhaus mitbringen, unabhängig von ihrer Herkunft, von ihrem Namen, die Möglichkeiten hat, das bestmögliche Bildungssystem zu genießen."

    "Ich stehe an der Seite der Jüdinnen und Juden und auch an der Seite der Palästinenserinnen und Palästinenser"

    In wenigen Tagen jährt sich der Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel – eine Zäsur, sagt die Integrationsbeauftragte. "Für mich gibt es keine Seite, zu der man sich stellen muss, sondern es geht um Menschenwürde", sagt Alabali-Radovan im Interview der Woche. Sie betont, dass Antisemitismus strafrechtlich verfolgt werden muss und wird. Dass der Konflikt teilweise mit Gewalt und Hass auf deutsche Straßen getragen wird, kritisiert sie, warnt aber zugleich davor, alle Demonstranten unter Generalverdacht zu stellen: "Antisemitismus geht auf solchen Demonstrationen überhaupt gar nicht. Es muss aber auch eben einen Raum geben für Menschen, wo sie auf das Leid der Menschen in Gaza oder in der Region hinweisen dürfen." Alabali-Radovan setzt auf den Dialog mit Juden und Muslimen.
    4 October 2024, 10:19 am
  • 24 minutes 44 seconds
    Svenja Schulze: Entwicklungspolitik öffnet unserer Wirtschaft Türen
    Der Spardruck in der Regierung ist hoch. Auch im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wurde in diesem Haushalt der Rotstift angelegt. "Ich halte das für einen Fehler", sagt Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) dazu im ARD Interview der Woche. "Und ich glaube, dass wir das auch wieder ändern müssen, weil wir in der Welt vernetzt sind und weil wir uns nicht ins Schneckenhaus zurückziehen können und so tun können, als hätten die Probleme der Welt nichts mit uns zu tun. Wir müssen da Teil der Lösung sein, und das heißt auch Geld mit in die Hand zu nehmen." Genau das fordern auch zahlreiche Hilfsorganisationen.

    Entwicklungspolitik zahlt sich für deutsche Unternehmen aus

    Und das rechne sich am Ende auch für die Wirtschaft hierzulande: "Deutschland ist sehr stark auf Partnerschaften auf Zusammenarbeit in der Welt angewiesen. Unsere Wirtschaft funktioniert so, dass jeder zweite Euro im Ausland verdient wird. Das heißt, unser Ruf im Ausland ist ganz entscheidend dafür, ob Arbeitsplätze in Deutschland gesichert werden", erklärt Schulze. Von der Wirtschaft mal abgesehen ist Entwicklungspolitik für Svenja Schulze auch eine moralische Verantwortung: "Wir können nicht einfach zusehen, wie unsere Nachbarn verhungern und wie Kinder auf der Welt gar keine Perspektive haben."

    UN-Zukunftspakt "enorm wichtig"

    Ein wichtiger Schritt in Sachen Entwicklungspolitik ist auf dem Zukunftsgipfel in New York gemacht worden. Die Vereinten Nationen haben den sogenannten Zukunftspakt beschlossen. Deutschland und Namibia haben ihn zusammen ausgearbeitet. Ein Zeichen, dass der globale Süden als gleichberechtigter Partner mit am Tisch sitzt: "Das ist etwas, wofür wir uns immer wieder einsetzen und wofür wir auch bekannt sind: Dass wir, Partnerschaften wollen, dass wir nicht auf die Länder Afrikas hinabsehen und arrogant sind. Sondern wirklich einen partnerschaftlichen Ansatz fahren und gemeinsam die Probleme lösen wollen."

    Große Probleme werden gelöst

    Und bei allem Fokus auf die Probleme dieser Welt gibt es doch auch gutes zu verkünden: "Die Kindersterblichkeit ist runtergegangen, mehr Menschen haben Zugang zu Wasser. Wir haben weniger Tote durch die großen Krankheiten wie HIV oder Malaria oder Tuberkulose", erklärt Schulze.
    27 September 2024, 8:36 am
  • 24 minutes 40 seconds
    Wirtschaftsexperte Schularick: Strukturwandel in Autobranche nicht aufhalten
    Im Vorfeld des Autogipfels am kommenden Montag hat der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Moritz Schularick, die Politik davor gewarnt, den Strukturwandel in der Automobilindustrie aufzuhalten. Mit Blick auf die Probleme bei VW sagte Schularick im ARD Interview der Woche, die Gefahr sei groß, dass mit Subventionen lediglich Platzhirsche unterstützt würden, die auf dem absteigenden Ast seien. Die Probleme der Autobranche in Deutschland seien zu einem großen Teil hausgemacht. Die Branche habe den Wandel zur E-Mobilität verschlafen und diesen Markt Konkurrenten aus anderen Ländern, insbesondere China, überlassen. Dies werde Arbeitsplatzverluste zur Folge haben, so Schularick: "Wir werden keine Zulieferer mehr brauchen, die Getriebetechnik oder Einspritzanlagen optimieren." Angesichts der guten Lage am Arbeitsmarkt könnten Fachkräfte aus der Autobranche jedoch in anderen Industrien neue Beschäftigungsmöglichkeiten finden. Im konkreten Fall von VW rät der Kieler Ökonom dazu, den Einstieg ausländischer Investoren zu prüfen. Die Produktion von Autos in Deutschland sei wichtiger als die Eigentümerstruktur.

    Schularick begrüßt EU-Zölle gegen China

    Staatliche Fördergelder sieht Schularick kritisch: "Der Staat ist nicht gut darin, die Gewinner von morgen zu finden, aber die Verlierer von gestern sind sehr gut darin, den Staat zu finden." Sinnvoll könne die Förderung innovativer Technologien sein, zum Beispiel die Förderung von Batterieherstellern. Nichts-Tun würde bedeuten, der hochsubventionierten chinesischen Industrie Märkte zu überlassen. Vor diesem Hintergrund begrüßt Schularick die von der EU angekündigten Zölle gegenüber China: er wünsche sich hier mehr Unterstützung aus Berlin für Brüssel. Auch die Unterstützung der Chipproduktion in Europa könne grundsätzlich ein sinnvolles Ansinnen sein. Allerdings bestehe hier die Gefahr eines Subventionswettlaufs: Unternehmen würden sich nur noch dort ansiedeln, wo es die höchste Förderung gibt. Die aktuelle Absage von Intel zum Bau der geplanten Chipfabriken in Magdeburg zeige die Schwierigkeiten und Risiken, die staatliche Förderung von solchen großen Investitionen mit sich bringe. Problematischer seien aber die strukturellen Probleme der deutschen Wirtschaft. Deutschland müsse sich ernsthaft mit der Frage vom "kranken Mann Europas" beschäftigen. Allein die Alterung der Gesellschaft werde die jährliche Wirtschaftsleistung um 0,5 Prozentpunkte nach unten drücken. Dies müsse, um überhaupt Wachstum erzielen zu können, über Produktivitätsfortschritte und Zuwanderung ausgeglichen werden.

    Die Schuldenbremse muss reformiert werden

    Nachholbedarf sieht Schularick auch bei staatlichen Investitionen. Zur Finanzierung sollte die Schuldenbremse reformiert werden. Allerdings müsse darauf geachtet werden, dass zusätzliche Verschuldungsmöglichkeiten nicht dazu führen, dass reguläre Staatsausgaben in Sondertöpfe verschoben werden, um die Renten erhöhen zu können: "Und die Gefahr sehe ich durchaus." Den dringendsten Finanzierungsbedarf sieht Schularick bei den Militärausgaben. Die im Februar 2022 ausgerufene Zeitenwende sei bislang mehr eine Worthülse als durch konkrete Taten unterlegt. Eine Untersuchung seines Kieler Instituts für Weltwirtschaft habe ergeben, dass Deutschland in der Verteidigungsfähigkeit in den vergangenen zweieinhalb Jahren weiter gegenüber Russland verloren habe. Russland habe inzwischen die Fähigkeit, innerhalb von nur sechs Monaten die gesamten Bestände der Bundeswehr zu produzieren. Für Investitionen in die Verteidigung sollte es daher künftig Ausnahmen von der Schuldenbremse des Grundgesetzes geben beginnend mit einem weiteren Sondervermögen von bis zu 300 Milliarden Euro, fordert Schularick: "Wir können uns mit der Schuldenbremse nicht gegen Russland verteidigen." Die Schuldenbremse sei auch kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck: "Und Zweck ist, in Frieden und Freiheit und Wohlstand in Europa zu leben."
    20 September 2024, 3:22 pm
  • 24 minutes 34 seconds
    "Mehr Sensibilität im Umgang mit Terroropfern"
    Pascal Kober wirkt nicht wie ein typischer Politiker – schon gar nicht wie ein typischer Bundestagsabgeordneter im schlagzeilenfreudigen Berlin: Er tritt zurückhaltend auf, spricht leise, bedacht und nimmt sich Zeit. Vielleicht waren genau das die Gründe, warum die Bundesregierung den FDP-Abgeordneten aus Reutlingen 2022 zum Bundesopferbeauftragten ernannte. Seither kümmert sich der 53-Jährige um die Betroffenen von Terroranschlägen: unmittelbare Opfer, Tatzeugen, Ersthelfer und Angehörige – auch nach dem Attentat von Solingen Ende August. "Die entscheidende Frage für meine Arbeit ist immer: Hat die Gewalttat ein politisches Motiv?" Diese Annahme habe sich am Tag nach der Tat in Solingen konkretisiert. "Als klar war, der Generalbundesanwalt übernimmt die Ermittlungen, habe ich entschieden, ich fahre sofort hin, ich bin zuständig."

    Viele wissen nicht, welche Hilfe es gibt

    Erste psychologische Hilfe bieten die Notfallseesorge und die Opferbetreuung der Polizei. Kober und sein neunköpfiges Team sind hingegen auch langfristig direkte Ansprechpartner und die Stelle, bei der die Fäden zusammenlaufen: "Wir haben ein psychosoziales Hilfetelefon angeboten. Da können wir vonseiten des Bundes 50 Leitungen, 24/7 für einen unbegrenzten Zeitraum bereitstellen mit professionellen Helfern, die die Nöte und Sorgen der Menschen aufnehmen." Es gehe auch darum, die Betroffenen zu informieren: "Oft wissen die Menschen nicht, welche Möglichkeiten es gibt und häufig wissen auch die Hilfssysteme wie die Unfallkassen nicht, wer betroffen ist." Beim Umgang mit den Betroffenen sieht Kober noch Luft nach oben, gerade wenn es um Würde und Empathie geht. „Wir reden hier von Menschen, die vielfach schwer traumatisiert sind." Betroffenen würden gleichzeitig zu Personen der Zeitgeschichte, stünden damit in der Öffentlichkeit und im Interesse der Medien. Kober fordert: "Da muss man besondere Sensibilisierung an den Tag legen, wenn man mit den Betroffenen umgeht. Da ist noch einiges verbesserungswürdig."

    "Nüchternheit des bürokratischen Prozesses führt zur Retraumatisierung"

    Als Beispiel nennt Kober die aufwendigen Begutachtungen, in denen Menschen darlegen müssen, inwiefern sie betroffen sind, um überhaupt Hilfe zu erhalten. "Viele Betroffene empfinden es nicht immer als würdigend und empathisch, wenn sie das Gefühl haben, es wird infragestellt, dass es ihnen schlecht gehen könnte (...). Die Nüchternheit des bürokratischen Prozesses führt dann zu einer Entfremdung, zu einer Retraumatisierung und Entmutigung. Da würde ich mir wünschen, dass es mehr Sensibilität auf allen Seiten gibt." Auch die laufende öffentliche Debatte, die seit Woche anhält, ist nicht für alle Betroffenen leicht auszuhalten. Zwar gibt es Menschen, denen die Diskussion über politische Konsequenzen guttut. "Manchen ist es eine Hilfe, dass der Staat jetzt handelt, mit Blick darauf, dass vielleicht so eine Tat möglichst nicht mehr geschieht", so Kober. Andre betrachteten die Diskussion aber sehr kritisch, wollten nicht, dass dadurch Menschen mit Migrationshintergrund unter Verdacht gestellt werden.

    Traumatisierung ist heimtückisch

    Kober selbst bringt für sein Amt Erfahrung mit: Der frühere Pfarrer hat bereits als Militärseelsorger gearbeitet und hat Soldaten bei ihrem Einsatz in Mali begleitet. Dadurch, erzählt er, habe er Erfahrung mit traumatisierten Menschen. "Traumatisierung ist heimtückisch. Symptome können mitunter erst Jahre später auftreten und zerstörerisch wirken." Neben seinem Amt als Opferbeauftragter der Bundesregierung sitzt Pascal Kober für die FDP im Bundestag, kümmert sich um sozialpolitische Themen. Dass er als gläubiger Christ ausgerechnet in die FDP eingetreten ist, erklärt er mit seinem Menschenbild. Im evangelischen Christentum gehe es um die Wertschätzung des einzelnen Menschen. Der Einzelne habe einen Wert, nicht nur die Gesellschaft als Ganzes. Da sei auch die Philosophie des Liberalismus. Bei konkreten politischen Themen der FDP stößt Kobers Glaube aber an Grenzen: Abtreibung, Eizellenspende oder Adoptionsrecht. "Ich bin in einzelnen Fragen durchaus anderer Meinung als die Mehrheit meiner Partei", erzählt Kober offen. Er hält das aber für kein großes Problem: "Was wir alle mal wieder lernen müssen in unserer Gesellschaft ist, dass es auch andere Meinungen gibt und dass wir den Streit durch Mehrheitsentscheidungen entscheiden und dann auch akzeptieren müssen." Für Kober steht fest: "Ich lebe ganz gut in einer Partei, in der die Mehrheitsmeinung eine andere ist."

    "Es gibt ein Leben nach der Politik"

    Dass seine Partei in Umfragen gerade unter der Fünf-Prozent-Hürde dümpelt, besorgt den Abgeordneten aus Reutlingen nicht. "Eine Eigenschaft unserer Wähler ist, dass sie sich relativ spät zu uns bekennen." Und falls es doch nicht klappt, hat er ein Rückkehrrecht zu seinem alten Arbeitgeber, der evangelischen Kirche. "Es gibt ein Leben nach der Politik und darauf freue ich mich auch. Wobei ich im Moment sehr gerne Politiker bin und als Politiker auch sehr gerne Bundesopferbeauftragter."
    13 September 2024, 7:00 am
  • 24 minutes 32 seconds
    FDP-Chef Lindner: "Kann Naivität kaum mehr ertragen"
    Der Haushalt hat den Finanzminister in der Sommerpause beschäftigt, nicht nur beruflich: "Ich hatte zuhause mal Zeit für den Haushalt, im engeren Sinne", verrät Christian Lindner im ARD Interview der Woche. Soll heißen: Für den Garten und für alltägliche Dinge wie Einkaufen und Kochen. Was er besonders gerne kocht: italienisch. "Man sagt mir eine recht gute Bolognese nach", sagt Lindner, der im Sommer mit seiner Frau auch eine Woche in Italien Urlaub gemacht hat. Dabei war dafür eigentlich wenig Zeit. Ein anderer Haushalt hielt den Finanzminister beruflich auf Trab: der Bundeshaushalt. Die Koalition musste nacharbeiten, versuchen, die Finanzierungslücke zumindest etwas kleiner werden zu lassen. Derzeit klafft sie bei zwölf Milliarden Euro.

    Entspannung beim Thema Haushalt

    Durch die Haushaltsberatungen im Bundestag, so hofft Lindner, könnte sie in den kommenden Wochen noch kleiner werden. Denn ab kommender Woche sind die Abgeordneten am Zug. Am Dienstag wird der Finanzminister den Entwurf dafür im Bundestag vorstellen, dann folgt die erste Lesung. Lindner klingt beim Thema Haushalt entspannt. Bei einem anderen Thema scheint seine politische Gefasstheit aber an ihre Grenzen zu gelangen: beim Thema Asyl und Migrationspolitik. "Die Leute haben die Schnauze voll davon, dass dieser Staat möglicherweise die Kontrolle verloren hat bei Einwanderung und Asyl nach Deutschland", sagte Lindner Anfang der Woche, auch als Reaktion auf die verheerenden Ergebnisse seiner Partei bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Ein wütender Minister Hier klingt Lindner wütend. "Ich bin es auch", bestätigt er jetzt im ARD Interview der Woche. "Ich kann die Bedenken, die geäußert werden, und auch teilweise die Naivität kaum mehr ertragen." Das Land müsse sein Recht beanspruchen, zu entscheiden, wer nach Deutschland kommt, wer hierbleiben darf und wer nicht. "Für mich ist das eine Frage der Liberalität. Unsere Gesellschaft ist vielfältig, wir brauchen Einwanderung. Aber wir müssen entscheiden können. Diese Kontrolle ist zu lange verloren gegangen, mühsam erarbeiten wir sie uns zurück und mir können Ambitionen und Tempo nicht hoch genug sein."

    Kritik an den Grünen: Keine Denkverbote

    Denkverbote dürfe es keine geben, so der Minister. Für Zurückweisungen an den deutschen Grenzen zeigte er sich offen und kritisierte die Haltung der Grünen. "Ich bedauere, dass sich die Grünen jetzt schon öffentlich, obwohl es laufende Gespräche gibt, gegen die Zurückweisung an den deutschen Grenzen ausgesprochen haben. Das ist nicht hilfreich für die Gespräche, die die Regierung mit Ländern und der CDU-Opposition führt." Die Grünen hatten Bedenken geäußert, ob eine Zurückweisung rechtlich möglich wäre. Lindner kritisiert auch die CDU-Haltung in der Debatte und wirft der Partei vor, taktisch bei dem Thema Migration vorzugehen. CDU-Chef Friedrich Merz fordert von der Bundesregierung bis Dienstag eine verbindliche Zusage: Künftig soll es an den deutschen Grenzen Zurückweisungen von Geflüchteten geben, für deren Asylverfahren die Bundesrepublik gar nicht zuständig ist. Nur dann will Merz die Gespräche über Migrationspolitik mit der Ampel fortsetzen. "Ich verstehe die Ungeduld von Friedrich Merz und teile sie", sagt Lindner. "Es muss noch mehr passieren. Aber wir alle müssen Demut zeigen. Es sind auch CDU-Landesregierungen, in denen es Vollzugsdefizite gibt."

    Lindner: "Mehr Dänemark wagen"

    Lindner warnt davor, dass alle Parteien gemeinsam verlieren könnten. "Wenn wir als staatstragende Parteien, die in Bund und Ländern in der Verantwortung stehen, keine Lösung anbieten, dann macht das nur BSW und AfD stark. Wenn die Demokratie hier nicht liefert, dann wird sich eine wachsende Zahl von Menschen die Systemfrage stellen." Er verweist auf Dänemark, ein Land mit einer sozialliberalen Regierung, wo es gelungen sei, die Rechtspopulisten in die Schranken zu weisen – mit Konsequenz und Kontrolle bei der Einwanderung, so der FDP-Chef. "Wir sollten in diesem Sinne mehr Dänemark wagen."

    FDP auch nach der Wahl 2025 "selbstverständlich" wieder im Bundestag

    Trotz tiefer politischer Unterschiede beim Haushalt und beim Thema Migration innerhalb der Ampelregierung: Christian Lindner will mit seiner FDP weitermachen. Auch, wenn eine Basisinitiative seiner Partei jetzt den Austritt fordert – alternativ den Rücktritt von ihm als Parteivorsitzenden. Als Nachfolger benennen sie den derzeitigen Generalsekretär Bijan Djir-Sarai. Lindner gibt sich gelassen. "Ich kenne meine Partei sehr gut und weiß, dass meine Parteifreundinnen und Parteifreunde Aufs und Abs kennen und deshalb starke Nerven haben." Man messe die Regierungsbeteiligung der FDP daran, ob in der verbleibenden Wahlperiode noch Gutes bewirkt werden könne. Ein klares Bekenntnis zum Verbleib in der Ampel. Und danach? "Selbstverständlich" sei die FDP nach der Wahl 2025 wieder Teil des Bundestages. "Und wir kämpfen, dass wir auch weiter die Regierungspolitik in Deutschland mitbestimmen."
    7 September 2024, 7:12 pm
  • 24 minutes 19 seconds
    Sorgt politischer Streit für mehr Wahlbeteiligung im Osten?
    Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) Thomas Krüger rechnet damit, dass sich wieder mehr Menschen an den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg beteiligen als in der Vergangenheit. Nach einem Rückgang der Wahlbeteiligung über längere Zeit, sei dieser Trend bereits bei den letzten überregionalen Wahlen (Europawahlen am 9.6.2024) spürbar gewesen, sagt Krüger im ARD Interview der Woche. Man merke, dass in den betreffenden Bundesländern das Interesse an den Abstimmungen "relativ ausgeprägt" ist. Als Grund nennt Krüger "größere Kontroversen im politischen Raum". Sie führten dazu, dass die Beteiligung an den Wahlen vermutlich wachsen wird. Bei den letzten Landtagswahlen im Jahr 2019 gingen in Sachsen 66,5 Prozent und in Thüringen 64,9 Prozent der Berechtigten wählen. In Brandenburg lag die Wahlbeteiligung mit 61,33 Prozent etwas niedriger.

    Großes Interesse am Wahl-O-Mat

    Das große Interesse an den Landtagswahlen zeigt sich auch in der starken Nutzung des Wahl-O-Mat. Mit dem Online-Tool der Bundeszentrale lassen sich die Positionen der Parteien zu 38 Thesen mit der eigenen Überzeugung vergleichen. Krüger sagt, schon zur Europawahl im Juni hat die bpb mit 14 Millionen Nutzerinnen und Nutzern einen absoluten Rekord verbucht. Der gleiche Trend sei nun bei den drei Landtagswahlen im Osten zu beobachten. In Sachsen wurden 500-tausend Zugriffe registriert. In Thüringen wurde die Webseite rund 300-tausend Mal aufgerufen. Beim Wahl-O-Mat für Brandenburg, wo erst am 22.09. gewählt wird, wurden bereits am ersten Tag 80-tausend Zugriffe verzeichnet. Der Präsident der bpb ist davon überzeugt: "Wenn man das hochrechnet, auf die gesamte Laufzeit, werden wir in allen drei Bundesländern einen Nutzungsrekord erzielen."

    Populismus und Verunsicherung

    Krüger, der seit dem Jahr 2000 die Bundesbehörde bpb leitet, geht davon aus, dass die Wahlentscheidungen der Menschen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg stark von populistischen Argumenten beeinflusst werden. Im ARD Interview der Woche erklärt Krüger, dass viele Menschen verunsichert sind: "Der Klimawandel, die internationale Politik, aber auch der ökonomische Wandel, die Verflechtung, die im globalen Kontext passieren, all das sind Herausforderungen, mit denen die Menschen tagtäglich zu tun haben. Und sie fühlen sich oftmals überfordert." Der Politik falle es oft schwer, klare und nachvollziehbare Antworten zu finden. Krüger betont, dass diese Situation populistischen Parteien in die Hände spiele, die einfache Lösungen für komplexe Probleme versprechen. Er, der selbst als Sozialdemokrat sowohl im Berliner Senat als auch im Bundestag tätig war, ist jedoch überzeugt, dass es solche einfachen Lösungen nicht gibt.

    Politische Medienbildung als Schlüssel

    Schon seit längerem ist die bpb auch auf sozialen Plattformen präsent, mit Web-Videos, Podcasts und anderen digitalen Formaten, um Menschen zu erreichen, die durch klassische Formate wie Seminare und Konferenzen nicht angesprochen werden. Ziel der Social-Media-Aktivitäten ist es nicht nur, politische Bildung im klassischen Sinne zu fördern, sondern insbesondere jungen Menschen mehr Kompetenz in der Mediennutzung zu vermitteln. Krüger nennt als Beispiel dafür die Partnerschaft mit dem Influencer Rezo, der gerade bei jungen Menschen als besonders glaubwürdig gilt. Rezo erklärt im Quiz-Format ‚Fake Train‘ Unterschiede zwischen verlässlichen Informationen, Werbung, Meinungsbeiträgen und Desinformation. Diese Kombination aus politischer Bildung und dem Vermitteln von Medienkompetenz bezeichnet der bpb-Präsident als "politische Medienbildung".

    Frühe Medienbildung statt Verbote

    Ein eigenes Schulfach für Medienbildung sieht Krüger nicht als sinnvoll an, da die Nutzung von Medien ein Querschnittsthema in allen Bereichen der schulischen Ausbildung sein sollte. Er plädiert dafür, bereits im Kindergarten mit Medienbildung zu beginnen, da viele Kinder bereits Medien nutzten. Die jüngst erhobene Forderung von Burkhardt Blienert, dem Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, TikTok für Kinder unter zwölf Jahren zu verbieten, lehnt Krüger ab. Er hält diesen Vorschlag für nicht alltagstauglich und betont, dass es wichtiger sei, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen als mit den Plattformen selbst. Hier gebe es jede Menge Herausforderungen.
    30 August 2024, 10:15 am
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