Politisches Interview

Südwestrundfunk

Interviews zu politischen und gesellschaftlichen Themen aus den aktuellen Kulturmagazinen von SWR2.

  • 24 minutes 42 seconds
    Cyber-Sicherheitsbehörde warnt vor Erpressungen
    Für BSI-Chefin Claudia Plattner steht fest: Die Frage sei nicht ob, sondern wann Deutschland mit einem größeren Cyberangriff klarkommen müsse. Denkbar hält die Präsidentin der nationalen Cyber-Sicherheitsbehörde Angriffe auf die kritische Infrastruktur. "Wir sehen das in den Konfliktregionen, wo so etwas ganz gezielt eingesetzt wird", sagt Plattner im SWR-Interview. "In der Ukraine gibt es viele Beispiele dafür, wie staatliche Infrastrukturen angegriffen werden. Das sind Themen, mit denen müssen wir uns auseinandersetzen", mahnt Plattner. Nach ihren Worten ist Deutschland aber insgesamt nicht schlecht aufgestellt und hat Technologien im Bereich der Cyber-Abwehr, die sich sehen lassen können. Plattner warnt auch vor Angriffen auf Schulen. Es gehe Hackern darum, zu zeigen, "was nicht so gut schützbar ist, wie verwundbar auch ein Land ist."

    Größte Bedrohung ist die Cyber-Erpressung

    Die größte Bedrohung sieht das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik aktuell bei Cyber-Erpressungen, den sogenannten Ransomeware-Attacken. Dabei greifen Hacker auf Daten zu, verschlüsseln sie und fordern Geld, um sie wieder freizugeben. "Da ist Russland ganz vorne dabei", sagt Plattner. Das mache ihrer Behörde "viele Sorgen". Nach Plattners Einschätzung ist Deutschland ein attraktives Ziel für Cyber-Kriminelle. "Wir haben nach wie vor eine Finanzkraft, wir haben ein politisches Gewicht". Betroffen von Ransomeware-Attacken seien vor allem mittelständische Unternehmen, die sich selbst nicht ausreichend vor Cyberangriffen schützten. Plattner warnt betroffene Firmen davor, Lösegeld an die Erpresser zu zahlen, um wieder an seine Daten zu kommen. "Weil man sich nicht sicher sein kann, dass das dann auch funktioniert. Investiert lieber vorher in die Cyber-Sicherheit!" Stattdessen rät Plattner dazu, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik zu kontaktieren.

    Plattner: keine Cyber-Gegenattacken

    Nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Gegenattacken im Cyberraum ins Spiel gebracht, sogenannte Hackbacks. BSI-Chefin Plattner hält das für den falschen Weg. "Ich mag den Begriff schon nicht. Mir ist wichtig, dass wir in der Lage sind, uns zu verteidigen. Der wichtigste Punkt ist, dass man den Angriff unterbindet. Das ist eine hohe Kunst und wenn man das schafft, hat man eigentlich schon gewonnen." Nach Plattners Worten ist es wichtig, die technischen Verbindungen für Cyber-Attacken zu kappen und so langfristig zu verhindern, dass Angriffe dieser Art möglich sind. Plattner spricht sich dafür aus, dass Bund und Länder bei der Abwehr von Cyberattacken besser zusammenarbeiten.

    Diskussionen über Cyberangriff auf die SPD

    Die Bundesregierung wirft Russland vor, hinter einem Hackerangriff im vergangenen Jahr auf die SPD zu stecken – konkret sollen staatliche russische Institutionen verantwortlich sein. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach bei ihrem Besuch in Australien von eindeutigen Belegen dafür. Sie nannte den Angriff "völlig inakzeptabel", der "nicht ohne Konsequenzen" bleiben werde.
    3 May 2024, 11:39 am
  • Daniel Günther: An TikTok hab ich mich noch nicht rangewagt
    Lassen sich AfD-Politiker von autoritären Regimen einspannen? Die beiden AfD-Spitzenkandidaten Krah und Bystron stehen im Verdacht, Politik für China und Russland gemacht zu haben. Im Interview der Woche zeigt sich Günther wenig überrascht von den Vorwürfen und meint, „dass die AfD mal wieder ein bisschen auch ihre Maske gelockert hat“. Er habe nach wie vor "eine Grundsympathie" für ein Parteiverbot gegen die AfD, um die Demokratie zu schützen, aber das müsse gut vorbereitet sein.

    "Die Schuldenbremse hat Unwuchten"

    Schleswig-Holstein hat einen Schuldenhaushalt für 2024 verabschiedet mit gleich 3 Notkrediten wegen Corona, wegen des Ukraine-Kriegs und wegen der Ostseeflut im vergangenen Jahr. Daniel Günther steht deshalb in der Kritik und stellt sich außerdem gegen den Kurs der Bundes-CDU, die an der bestehenden Schuldenbremse festhält. Er sagt: die Schuldenbremse ist grundsätzlich richtig, aber eine Notlage bedeutet eine andere Situation. "Ich glaube, wir müssen schon feststellen, dass die Schuldenbremse in der Form, wie sie im Moment besteht, schon auch einige Unwuchten hat, dass wir auf Bundesebene andere Regeln haben als in den Ländern". Er fordert im Interview der Woche "einen Anpassungspfad" für Notlagen.

    Neues CDU-Grundsatzprogramm

    Daniel Günther findet nicht, dass das neue Grundsatzprogramm seiner Partei zeigt, "dass wir uns konservativer entwickeln". Es gebe der CDU ein klares Profil und fokussiere sie klar in der Mitte. Dennoch möchte er noch Änderungen erreichen, etwa beim Punkt "Fachkräfte". Da müsse deutlicher werden, dass Deutschland auch ausländische Fachkräfte anwerben müsse, "um unseren Wohlstand zu erhalten." Es würde sich lohnen "auch ein bisschen darüber zu streiten, dass das auch in den Formulierungen deutlich wird." Die umstrittene Passage zum Islam gefällt Günther nach der Korrektur besser, weil sie nicht Menschen (Muslime) ausgrenze, sondern die Auslegung des Islam gemeint sei. "Und wenn man eben ne große Partei sein will, wenn man den Anspruch hat, vierzig Prozent zu erreichen, dann müssen eben auch unterschiedliche Flügel auch in solchen Formulierungen mitgenommen werden.", sagt Günther.

    Wer wird Kanzlerkandidat der Union? Da hält sich CDU-Präsidiumsmitglied Daniel Günther ganz an die Sprachregelung der Parteispitze: abwarten mindestens bis nach der Europawahl. Eins ist aber klar, sagt der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, "dass die Zeiten, wo zwei Männer das untereinander ausmachen, in der Union lange vorbei sind. So funktionierts halt auch nicht mehr, sondern natürlich müssen wir da auch in einem größeren Kreis drüber sprechen." Die CDU-Ministerpräsidenten wollen mitreden, während CDU-Chef Merz und CSU-Chef Söder sagen, sie würden eine gemeinsame Entscheidung treffen.

    TikTok ohne Daniel Günther

    Bundesgesundheitsminister Lauterbach, Bundeskanzler Scholz und in dieser Woche auch Wirtschaftsminister Habeck - die Ampel entdeckt TikTok. "An TikTok (…) habe ich mich zumindest Stand heute noch nicht rangewagt.", sagt Günther. Er sei nicht so der Fan davon, mit ganz kurzen Botschaften zu arbeiten, sondern wolle Politik "eher ein bisschen umfänglicher (…) erklären". Ob er als begeisterter Tänzer nicht besonders geeignet wäre für die beliebten Videoschnipsel? "Also ich würde mir das durchaus zutrauen, da einigermaßen zielgruppengerecht auch zu arbeiten, das stimmt", sagt Günther – und lacht dabei.
    26 April 2024, 11:27 am
  • 24 minutes 39 seconds
    Sind Sie neidisch auf Claus Weselsky, Herr Werneke?
    Ob er ein bisschen neidisch ist auf GDL-Chef Claus Weselsky und dessen Medienpräsenz in den vergangenen Wochen? Mit ihren 40.000 Mitgliedern ist die Lokführergewerkschaft schließlich deutlich kleiner als Verdi mit ihren knapp zwei Millionen. Frank Werneke schmunzelt kurz, dann winkt der Verdi-Vorsitzende ab. "Für mich zählt, was wir für unsere Mitglieder herausholen. Und daran messe ich auch meine Arbeit", sagt er im SWR Interview der Woche.

    Bahn-Streiks: Hat Weselsky übertrieben?

    Viel herausgeholt hat allerdings auch Claus Weselsky für seine Lokführerinnen und Lokführer – mit harten Bandagen, kritisieren einige. Zu hart? Gewerkschaftskollege Werneke will das lieber nicht kommentieren, nur so viel: "Es ist schon wichtig darauf zu achten, dass die generelle Unterstützung für den Arbeitskampf in der Bevölkerung nicht abbricht." Erst diese Woche hat auch Verdi erneut zu Streiks im ÖPNV der Länder aufgerufen, unter anderem in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Sie zählen zu den wenigen, in denen noch kein Tarifabschluss erzielt wurde. Dass Arbeitgeber, Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) und Vertreter der Union nach Änderungen im Streikrecht rufen, hält der Verdi-Chef für durchsichtig: "Weil sie kein Interesse daran haben, dass sich nachhaltig die Bedingungen der Beschäftigten verbessern. Ausgerechnet da, wo es eine erfolgreiche Tarifpolitik gibt, soll das Streikrecht eingeschränkt werden."

    Änderungen im Streikrecht: "Was soll das bringen?"

    Wenn die Gewerkschaften Warnstreiks wie vorgeschlagen immer vier Tage vorher ankündigen müssten, wären sie wirkungslos, glaubt Werneke: "Dann ist es für die Arbeitgeber ein Leichtes, Streikbrecher zu organisieren. Das erleben wir im Flughafenbereich bei der Luftsicherheit oder der Gepäckabfertigung regelmäßig." Also doch lieber eine verpflichtende Schlichtung, bevor gestreikt werden darf? "Das ist ein Vorschlag von Leuten, die noch nie Tarifverhandlungen geführt haben", sagt der Verdi-Vorsitzende und schüttelt den Kopf. "Was soll das bringen, wenn noch gar nicht verhandelt wurde?" Verdi-Chef geht auf Konfrontation mit der FDP Vor allem an der FDP lässt Werneke im SWR-Interview kein gutes Haar: Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner, der "mehr Lust auf die Überstunde" machen will? Werneke schnaubt: "Dieses Bild von einem Großteil der Beschäftigten, die sich zu fein sind, um zu arbeiten, ist total weltfremd! Wenn jemand mal eine Überstunde mehr macht, ist das ja vollkommen in Ordnung. Das Problem ist eher, dass der größere Teil davon nicht bezahlt wird." Der Vorstoß von FDP-Fraktionschef Christian Dürr für eine flexiblere Rente, zum Beispiel mit 72? Hält Werneke für ein Ablenkungsmanöver: "Die Idee der FDP dahinter ist natürlich, das Regeleintrittsalter nach oben zu schieben. Wer länger arbeiten möchte, kann das auch heute schon tun."

    Kindergrundsicherung: "Bringt einen zur Verzweiflung"

    Auch der Streit in der Regierung über die Kindergrundsicherung wird Werneke zu sehr zur "parteipolitischen Profilierung" genutzt. "Das ist schlicht nicht akzeptabel! Jedes vierte Kind in Deutschland lebt in Armut." Es könne ja sein, dass der Gesetzentwurf von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) Schwächen habe, sagt Werneke. "Aber dann erwarte ich, dass in einer Koalition konstruktiv daran gearbeitet wird, damit die Kindergrundsicherung noch in dieser Legislaturperiode beginnt." Das Thema bringe ihn ein bisschen zur Verzweiflung. "Mit lauter gescheiterten Projekten in einen Bundestagswahlkampf gehen zu wollen im Jahr 2025, kann eigentlich für keine der beteiligten Parteien eine erfolgversprechende Strategie sein. Aber genau das betreiben sie gerade."

    Werneke: Koalition wird sich für SPD nicht auszahlen

    Fordert der Verdi-Vorsitzende also mehr Führung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)? "Diese Vorstellung, der müsste einfach häufiger auf den Tisch hauen, funktioniert nicht in einer Drei-Parteien-Koalition", glaubt Werneke. Aber: "Aus meiner Sicht lassen sich SPD und Grüne viel zu sehr von der Vier-Prozent-Partei FDP mit dem Nasenring durch die Manege ziehen. Besonders für die SPD wird sich das am Ende nicht auszahlen."
    19 April 2024, 8:01 am
  • 24 minutes 46 seconds
    Wehrpflicht dient nicht dazu, Personalprobleme zu lösen
    Seit Monaten diskutiert die Politik wahlweise über eine allgemeine Dienstpflicht für junge Menschen oder über die Wiedereinführung der 2011 ausgesetzten Wehrpflicht – häufig, ohne in die Detailfragen zu gehen. Bis Mitte April erwartet Verteidigungsminister Pistorius eine Liste mit Wehrpflichtmodellen aus anderen Ländern. Dann will er sich mehrere Monate Zeit für eine Entscheidung nehmen. Für seinen ranghöchsten militärischen Berater, Generalinspekteur Carsten Breuer ist die Wiedereinführung der Wehrpflicht eine Abwägungsfrage, die man aus seiner Sicht nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten kann. Denn mehr Grundwehrdienstleistende bräuchten beispielsweise mehr Ausbilder, die dann an anderer Stelle in der Bundeswehr fehlen würden. Auf der anderen Seite würde Deutschland mit einer Wehrpflicht aber "ein sehr starkes sicherheitspolitisches Zeichen nach außen setzen.", findet der Generalinspekteur. "Das alles gilt es abzuwägen, um dann zu sagen, ja, eine Wehrpflicht ist sinnvoll", sagt General Breuer im SWR-Interview. "Es ist nicht so einfach zu sagen ich bin dafür und ich bin dagegen."

    Noch fehlen belastbare Personalzahlen

    General Breuer blickt vor allem auf die militärischen Notwendigkeiten und weniger auf gesellschaftspolitische Gründe für eine Wehrpflicht oder eine allgemeine Dienstpflicht. Das heißt, Breuer sieht die Aufgaben, die im Kriegsfall von der Bundeswehr innerhalb der NATO übernommen werden müssen. Und daran sollte sich aus seiner Sicht auch die Zahl möglicher Wehrpflichtiger ausrichten. Allerdings fehlen hier noch die konkreten Personalzahlen für den Ernstfall. Was die sogenannte "Aufwuchsfähigkeit" der Bundeswehr angeht, "da sind wir noch nicht so weit", sagt General Breuer. Er rechnet damit, dass sich in den nächsten "drei bis vier Monaten" die neuen NATO-Pläne auch für Deutschland "langsam, aber sicher herauskristallisieren". "Dann können wir eine Aussage treffen, wie viel Personal wir brauchen, um aufzuwachsen.", sagt Breuer. Und "dann kann man sich darüber unterhalten, welches das richtige Wehrpflicht-Modell ist." Das schwedische Wehrpflicht-Modell Auch wenn sich Generalinspekteur Breuer nicht festlegt, äußert er im Moment Sympathie für das flexible schwedische Wehrpflicht-Modell. In Schweden werden ganze Jahrgänge registriert und angeschrieben. Dann wird ein Teil gemustert und am Ende leistet davon wiederum nur ein Teil den Militärdienst. Je nach Bedarf könnte die Bundeswehr die Zahl der jährlichen Wehrpflichtigen also anheben oder senken. Und weil ein Teil der Wehrpflichtigen sich dann erfahrungsgemäß auch länger verpflichtet, könnte dann zumindest mittelfristig der Personalbedarf gelindert werden. Denn nach Angaben von Generalinspekteur Breuer hat die Bundeswehr "im Moment knapp unter 184.000 Soldatinnen und Soldaten als aktive Truppe". Die Zielgröße bis 2031 ist aber 203.300 Soldatinnen und Soldaten. Generalinspekteur Breuer rückt davon nicht ab: "Das muss also weiterhin eine Zielgröße bleiben. Wichtig scheint mir aber zu sein, dass wir auf die Fähigkeiten gucken und nicht nur auf die Personalzahl." Ein weiterer Aspekt, der in der komplexen Wehrpflicht-Diskussion eine Rolle spielen dürfte.

    Putins Russland als möglicher Gegner

    Militärbeobachter rechnen damit, dass Russland in fünf bis acht Jahren in der Lage sein wird, ein NATO-Land anzugreifen. Auf diesen Zeitraum kommen sie aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen. Generalinspekteur Breuer verweist auf die russische "Kriegswirtschaft" und darauf, dass "Rüstungsgüter aktuell in großer Stückzahl produziert" werden. Breuer stellt fest: "Dass diese Rüstungsgüter eben nicht alle an die ukrainische Front gehen, sondern auch in Depots, das heißt man produziert mehr als man benötigt." Hinzu komme, "wie Putin sich gegenüber dem Westen einlässt". Bringt man diese Punkte zusammen, dann sieht man, dass "zumindest die Möglichkeit besteht, dass diese Waffen dann auch zum Einsatz gebracht werden." "Und diese Möglichkeit, diesen Worst Case in fünf bis acht Jahren, die muss ich als Militär mitaufnehmen."
    12 April 2024, 9:14 am
  • 24 minutes 27 seconds
    Katarina Barley: Wir reden zuhause "Kuddelmuddel"
    Wenn die Vizepräsidentin des EU-Parlaments Katarina Barley sich mit ihrem Mann unterhält, kann es sein, dass sie auf Deutsch beginnt, auf Englisch weitermacht und Holländisch endet - alles in einem Satz. "Wir reden Kuddelmuddel", sagt sie dazu. Ihr Mann ist Niederländer, sie selbst halb Engländerin, halb Deutsche. Vor kurzem hat sie ihren Vater in Großbritannien besucht und hautnah erlebt, wie es aussieht, wenn ein Land die EU verlässt: Die Bauern haben ihre europäischen Erntehelfer verloren, das Gesundheitssystem steht wegen fehlender europäischer Fachkräfte vor dem Kollaps, Meeresbuchten werden zu Kloaken, weil die strengeren EU-Umweltregeln nicht mehr gelten, "die Flüsse sind voller Fäkalien", erzählt Barley von ihrer Reise.

    Verhalten der FDP in Brüssel "verheerend"

    Zurück in Brüssel stößt sie auf verwunderte Kolleginnen und Kollegen im EU-Parlament. Die FDP hat dem Ruf der Deutschen in Europa enorm geschadet, meint Barley. Dass die kleinste Ampelpartei in Brüssel europäische Entscheidungen auf den letzten Drücker mehrfach blockiert hat, "das ist verheerend", sagt sie. "Bei praktisch jeder wichtigen Entscheidung hören wir jetzt: Ja kann man sich denn noch auf Euch verlassen, auf Deutschland?". Alle anderen würden sich bei Abstimmungen an die Brüsseler Spielregeln halten, dass nach langen Diskussionen ab einem bestimmten Punkt die Würfel gefallen sind und abgestimmt wird. Darauf müssten sich auch alle verlassen können. Danach plötzlich auf den letzten Drücker wie die FDP zu sagen "ach jetzt doch nicht", sorge in Brüssel für Entsetzen. Auf der anderen Seite ist Katarina Barley froh darüber, dass in Europa auch sehr stark wahrgenommen wird, wie sich die Deutschen für Demokratie einsetzen und zu Tausenden auf die Straße gehen: "Da bekomme ich ganz viele positive Rückmeldungen zu. Denn natürlich schaut Europa, schaut die Welt beim Thema Demokratie und Kampf gegen Rechtsextremismus besonders auf Deutschland", sagt Barley.

    Atombombe?

    Sollte der nächste amerikanische Präsident den NATO-Beistand für Deutschland aufkündigen, hätte das Land keinen atomaren Schutzschirm mehr. Vor kurzem hatte Barley deswegen gesagt, man müsse darüber nachdenken, wie sich Deutschland beim Thema Atomwaffen in diesem Fall aufstelle. Daraufhin gab es Einiges an Kritik. Barley selbst sieht das so, als habe sie ein Tabu gebrochen, darüber zu sprechen. Im Interview der Woche bleibt sie aber bei ihrem Vorstoß: "Natürlich müssen wir darüber nachdenken, was denn sonst". Das heiße nicht, dass Deutschland eigene Atombomben beschaffen solle. Aber man solle die Menschen nicht für blöd halten, "die Leute fragen danach und es wäre schlimm, wenn wir nicht darüber nachdächten."
    5 April 2024, 9:45 am
  • 24 minutes 43 seconds
    Wer hilft den Soldaten im Krieg, Bischof Felmberg?
    Wenn der evangelische Militärbischof Bernhard Felmberg Bundeswehrstandorte besucht, stellt er bei den Soldatinnen und Soldaten bei aller Professionalität eine Angespanntheit fest. Dass sie "jetzt an der NATO-Ostflanke in Einsatzübungen sind und quasi direkt (…) Verteidigung üben, das macht die Ernsthaftigkeit der Situation deutlich", sagt Felmberg im SWR Interview der Woche. Die Situation sei für viele anstrengend, auch für die Familien. Das Szenario der Bündnisverteidigung habe eine andere Intensität als die Auslandseinsätze der Bundeswehr, beobachtet der evangelische Militärbischof: "Wenn man sich vorstellt, was passieren würde, wenn Russland die NATO angreifen würde, dann sprechen wir über viele Verletzten- und Todeszahlen. Und das fasst natürlich die Menschen auch an. Keine Frage."

    Nachfrage bei der Militärseelsorge steigt

    Die Nachfrage nach Seelsorge bei der Bundesehr hat laut dem evangelischen Militärbischof seit Beginn des Ukraine-Krieges stark zugenommen. Die 104 evangelischen Militärgeistlichen erreichten viele Menschen bei der Bundeswehr, auch über soziale Medien – aber nicht alle. "Dafür sind wir personell zu schwach aufgestellt", beklagt Felmberg. Die Militärseelsorge sei aber auch gefordert, sich auf neue Einsatzszenarien und auf einen möglichen "Großschadensfall" einzustellen, um seelsorgerisch handlungsfähig zu sein. Nach vielen Jahren der Einsatzbegleitung nach Afghanistan, Mali und an andere Orte, wo die Aufgabe der Militärseelsorge klar gewesen sei, stehe sie nun vor neuen Herausforderungen.

    "Brauchen ein Bewusstsein für Verteidigung"

    Bernhard Felmberg sieht keine Notwendigkeit für mehr Jugendoffiziere der Bundeswehr an Schulen, wie es Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger (FDP) angeregt hatte. Nötig sei aber ein Bewusstsein in Gesellschaft und Politik dafür, wie Deutschland seine Verteidigung organisiere. Pazifismus innerhalb und außerhalb der Kirche hält Felmberg weiterhin für wichtig, plädiert aber für einen differenzierteren Blick: "Ich glaube auch, dass die evangelische Kirche in Deutschland und die Gliedkirchen und viele Christinnen und Christen da inzwischen anders draufschauen. Indem man jetzt sagen kann: Es ist gut, dass wir verteidigungsfähig sind, dass Menschen da sind, die in der Bundeswehr dienen und für die Freiheit sorgen – in der Hoffnung, dass Gewaltanwendung wirklich als Ultima Ratio gesehen wird und nie angewendet werden muss."

    Kriegstüchtigkeit? "Ein schillernder Begriff"

    Den von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und Generalinspekteur Carsten Breuer verwendeten Begriff "kriegstüchtig" findet der evangelische Militärbischof "schillernd". Aus seiner Sicht sollte der Begriff aufrütteln. Mit Blick auf die Fähigkeiten der Bundeswehr ist er für Felmberg insofern angemessen, "als dass man sagt, ihr müsst in der Lage sein, wirklich zu verteidigen." Wesentlich sei zugleich, dafür einzutreten, friedensfähig zu bleiben. Das sei auch die Aufgabe der Kirchen.

    Einfrieren des Ukraine-Kriegs "keine Option"

    Den Ukraine-Krieg in der aktuellen Lage "einzufrieren", wie es u.a. SPD-Fraktionschef Mützenich ins Spiel gebracht hatte, hält der evangelische Militärbischof Bernhard Felmberg nicht für eine Option. Er begründet das zum einen mit der unveränderten Haltung des russischen Präsidenten Putin, zum anderen unterstreicht er mit Blick auf mögliche Friedensverhandlungen: "Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind diejenigen, die entscheiden müssen, wann welcher Zeitpunkt gekommen ist." Felmbergs Sorge: "Diejenigen, die den Schnellschuss im wahrsten Sinne des Wortes machen, wenn es um einen eingefrorenen Frieden geht, riskieren, dass in einer späteren Zeit Revanche wieder hervorkommt. Und das, finde ich, gilt es auf jeden Fall zu verhindern." Felmberg ist überzeugt, "dass ein echter Frieden, der auch hält, über die Zeit hinaus Recht, Freiheit und Gerechtigkeit nicht ausblenden darf, sondern beinhalten muss." Ein gerechter Frieden müsse einer sein, der der Ukraine wirklich auch gerecht werde.
    28 March 2024, 10:10 am
  • 24 minutes 43 seconds
    Wirtschaftsweise Grimm: Müssen massiv in Bildung investieren
    "Wir müssen massiv in Bildung investieren", sagt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. Sie beantwortet damit eine der zentralen Fragen unseres Jahrzehnts, nämlich die, wie sich die schwächelnde deutsche Wirtschaft unter anderem wieder ankurbeln lässt. Seit Monaten entwerfen Ökonomen Schreckensszenarien von einem Rückgang des Wirtschaftswachstums. Und auch Veronika Grimms Prognose ist düster in einer Zeit des demografischen Wandels: "Wenn sich bei den Investitionen nicht groß was tut oder man diesem Effekt entgegenwirkt, durch die Rekrutierung von Fachkräften und die Mobilisierung von Arbeitskräften, dann werden wir nur 0,4 Prozent pro Jahr wachsen in diesem Jahrzehnt. Das ist nur ein Drittel im Vergleich zum letzten Jahrzehnt. Und das ist schon eine Ansage."

    Grimm: Der Staat muss aktiver werden

    Grimm fordert deshalb im SWR-Interview der Woche: "Wir brauchen ganz viel Aktivität des Staates in verschiedenen Bereichen. Nur nicht in denen, über die wir die ganz Zeit reden." Sie fordert langfristige Lösungen und einen stärkeren Blick auf eine Generation ohne Lobby, die schon in der Corona-Zeit zu kurz gekommen ist. "Das wichtigste Kapital in unserer Volkswirtschaft ist die Jugend." Engagierte, zufriedene junge Menschen seien nicht nur wichtig für die Wirtschaft, sondern auch für die Demokratie. "Wie müssen gute Ausbildung schaffen." Grimm kritisiert das bisherige Ausbildungssystem: Das sei sozial unausgewogen und delegiere viel an die Eltern. Nachmittags maximal "ein bisschen improvisierte Hausaufgabenbetreuung" reiche nicht. Vor allem nicht für Schüler mit Migrationshintergrund, deren Eltern nicht gut Deutsch sprechen, die obendrein arbeiten müssen und wenig Zeit haben. Wie gut kann das im föderalen Schulsystem verändert werden? "Wir brauchen mehr Koordination, um das ein oder andere gemeinsam besser zu machen", sagt Grimm. Einfach lasse sich das föderale Schulsystem aber nicht überwinden.

    "Deutschland braucht mehr Mut, auch mal zu scheitern"

    Und wenn man schon ans Bildungssystem geht, dann kann man auch gleich den Mut in Deutschland fördern. Daran mangelt es für Grimm: "Das ist schon in unserer DNA angelegt. Wir haben große Hemmungen, zu scheitern." Ihr Rat, auch an Schüler und Studierende: "Man muss sich trauen, Misserfolg zu haben und sich dann erhobenen Hauptes auf zum nächsten Schritt zu machen."

    Grimm: Renteneintrittsalter an Lebenserwartung koppeln

    Mehr Mut wäre für die Wirtschaftsweise auch bei der Rente gefragt. In dieser Woche war der Tragfähigkeitsbericht der Regierung. Erkenntnis: Wir sind nicht gut genug auf die alternde Gesellschaft vorbereitet. Das ließe sich ändern, findet Veronika Grimm und schlägt drei Punkte vor: Das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung anpassen – jedes zusätzliche Jahr an Lebenserwartung sollte zu einem Drittel aufs Renteneintrittsalter aufgeschlagen werden, so Grimm. "Das wären ungefähr acht Monate alle zehn Jahre. Damit würde das Verhältnis von Erwerbstätigen und Rentnern konstant bleiben. Das wäre wichtig für die Tragfähigkeit der Rentenversicherung." Auch sollten die Renten künftig nicht mehr ans Lohnniveau gekoppelt werden, sondern an die Inflation – sie würden also künftig weniger stark ansteigen. Außerdem sollte aus Sicht der Wirtschaftsprofessorin die kapitalgedeckte Säule gestärkt werden. Die von der Regierung geplante Aktienrente reiche noch nicht. Die Menschen sollten auf ein eigenes Konto ansparen und sehen, dass sich so Erträge realisieren lassen: "Es wird wichtig, dass Deutsche sich stärker am Kapitalmarkt engagieren."

    Diskussion um Siemens Energy: "Nicht günstig für das Gremium"

    Die Wirtschaftsweise Grimm äußert sich im SWR-Interview der Woche auch zu ihrem umstrittenen neuen Posten als Aufsichtsratsmitglied bei Siemens Energie, einem Unternehmen, das in Sachen Energiewende und Transformation der Wirtschaft eine zentrale Rolle spielt. Die anderen Wirtschaftsweisen haben Grimms Doppelrolle öffentlich kritisiert, sie sehen die Unabhängigkeit des Gremiums in Gefahr. Grimm verteidigt ihren Schritt, sie halte sich an die Regeln. Auch in der Vergangenheit habe es immer wieder Fälle gegeben, in denen Mitglieder des Sachverständigenrats in einem Aufsichtsrat aktiv waren. Man habe das immer kooperativ, kollegial und gewissenhaft gehandhabt, das hätte sie jetzt auch erwartet. Auf die Frage, ob der Fall dem Ansehen des Expertenrats schadet, sagt sie: "Dass die Diskussion darum so in die Öffentlichkeit dringt, ist nicht günstig für das Gremium."
    22 March 2024, 10:17 am
  • 24 minutes 40 seconds
    Strack-Zimmermann: "In der Politik braucht man viel Humor"
    "Ich habe mir gedacht, den Krieg verlierst du", sagt die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Und meint den Kampf gegen ihre grauen Haare. Sie hat gar nicht erst angefangen zu Färben. Drum sind die Haare jetzt weiß und kurz – und Teil ihres burschikosen Erscheinungsbildes: Anzug, zugeknöpfte Bluse, sportliche Schuhe, dazu Statements, die wie Befehle wirken. Wird man so, weil man Verteidigungspolitik macht, oder macht man Verteidigungspolitik, weil man so ist? Strack-Zimmermann lacht: "Weder noch". Das sei reiner Zufall, sagt sie und erzählt: Die Augsburger Puppenkiste habe mittlerweile eine Strack-Zimmermann-Figur in Flecktarn-Uniform. "Ich finde sowas wahnsinnig lustig".

    "Oma Courage" wechselt nach Brüssel

    Überhaupt: Humor sei in der Politik sehr wichtig, sagt die FDP-Politikerin im SWR-Interview der Woche. Vor allem müsse man über sich selbst lachen können. Sieben Jahre lang war sie Abgeordnete im Bundestag, drei Jahre lang Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. Im Sommer ist Schluss, dann wechselt sie nach Brüssel. Für die Freien Demokraten tritt sie als Spitzenkandidatin zur Europawahl im Mai an. In dieser Woche hat sie ihre Kampagne vorgestellt – launisch und nicht ganz ohne Fettnäpfchen. "Oma Courage" steht auf einem ihrer Wahlplakate. Es soll eine Anspielung sein auf den alten Spruch: "Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa" – über das EU-Parlament als Abstellgleis für alte Nervensägen. Strack-Zimmermann, die gerade 66 Jahre alt geworden ist, weiß, dass sie aneckt: Wegen ihrer hartnäckigen Haltung in Sachen Ukraine-Hilfe hat der außenpolitische Chefberater des Kanzlers mal "Boah, die Alte nervt" gezischt - bei einer Bundeswehrtagung im vergangenen Jahr, als Strack-Zimmermann den Kanzler öffentlich nach einer möglichen nachhaltigen Ukraine-Strategie fragte. Den Vorfall machte sie auf X (ehemals Twitter) selbst öffentlich.

    Strack-Zimmermann als Kriegstreiberin?

    Oma Courage klingt aber auch wie Mutter Courage. In dem Werk von Bertolt Brecht zieht eine Händlerin im Dreißigjährigen Krieg über die Schlachtfelder und verdient so ihr Geld. Manche sehen mit dem Werbeslogan die These von Strack-Zimmermann als Kriegstreiberin bestätigt. Die Literaturwissenschaftlerin, die 20 Jahre lang für einen Kinderbuchverlag gearbeitet hat, kann das nicht nachvollziehen: "Ich habe überhaupt nicht an Bertolt Brecht gedacht." Das sei eine intellektuelle Diskussion, angefacht von Linken. "Die, die sich jetzt daran hochziehen, würden mich nie wählen."

    "Die FDP wird natürlich wieder in den Bundestag kommen"

    Egal wie die Europawahl im Mai ausgeht: Strack-Zimmermann hat ihren Platz im EU-Parlament sicher. Eine Sperrklausel gibt es in Brüssel nicht. Ganz anders in Berlin. Dort könnte es die FDP schwer haben, wieder in den Bundestag gewählt zu werden: Umfragen zufolge kommt die Partei aktuell nur ganz knapp auf die nötigen fünf Prozent. Verlässt Strack-Zimmermann ein sinkendes Schiff? "Die FDP wird selbstverständlich wieder in den Bundestag kommen", sagt sie. Man habe jetzt noch 19 Monate. "Wir werden erklären müssen, dass wir in einer Konstellation sind, die für alle Beteiligten nicht einfach ist." Diesen Job müssen andere übernehmen. Strack-Zimmermann wird ab dem Sommer auf EU-Ebene die Politik der FDP vertreten. Das wichtigste Thema: Wirtschaft. Man brauche sie, um die Verteidigung bezahlen zu können. Und man brauche Verteidigung, um den Wohlstand sichern zu können, so Strack-Zimmermann. Worauf sie sich in Brüssel am meisten freut? Dass es international wird: "Wir müssen lernen, welche Sichtweise die europäischen Freunde haben. Wie sehen sie uns und wie sehen sie diese Welt? Und nicht: Unsere Sichtweise ist alles erklärend."
    15 March 2024, 11:18 am
  • 24 minutes 37 seconds
    Israels Botschafter Prosor: Palästinensischer Staat müsste demokratisch sein
    Israels Botschafter Ron Prosor kann sich durchaus einen palästinensischen Staat neben Israel vorstellen – aber nicht mit der Hamas und nur, wenn er demokratisch ist. Sorge bereite ihm der "linke Antisemitismus" im Kulturbetrieb. Israelische Künstler seien auf Festivals wie der Berlinale nur willkommen, wenn sie Israel dämonisierten. Das Interview der Woche mit Ron Prosor hat SWR-Redakteur Gábor Paál geführt.

    Kurzfristiger Rückzug aus Westjordanland würde Hamas stärken

    Vor 20 Jahren war Ron Prosor im israelischen Außenministerium für den Abzug der israelischen Armee aus Gaza und die Aufgabe der jüdischen Siedlungen in Gaza verantwortlich. "Damals hieß es: Der Siedlungsbau sei die größte Hürde auf dem Weg zum Frieden. Also haben wir versucht, darauf eine Antwort zu geben." Israel habe 2005 alle Siedlungen in Gaza geräumt. Doch statt in Gaza "etwas Vernünftiges aufzubauen, haben sie einen Terrorstaat aufgebaut", so Prosor. Auch die Situation im Westjordanland beunruhigt ihn. Dort befürworten Umfragen zufolge 82 Prozent der Menschen die Angriffe der Hamas. "Wenn unsere Armee morgen aus dem Westjordanland rausgeht, wird Hamas dort die Sache in ein paar Wochen für sich regeln." Dann müsse Israel von dort mit Angriffen wie aus Gaza rechnen. Israel hat erst kürzlich 3500 neue Siedlerwohnungen im Westjordanland genehmigt.

    "Palästinensischer Staat muss demokratisch sein"

    Für das langfristige Ziel eines palästinensischen Staates müsse die arabische Welt eingebunden werden, meint Prosor. Konkret nannte er die Vereinigten Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien und Ägypten. Um zu einer friedlichen Lösung zu kommen, sollten diese ein neues "Quartett" bilden – anstelle des bisherigen Nahost-Quartetts, das aus den Vereinten Nationen, den USA, Russland und der EU besteht.

    Vergleich mit Nachkriegsdeutschland

    Prosor verglich die Situation mit der im Nachkriegsdeutschland: "Nach 1945 haben die Alliierten die Sicherheit in Deutschland gebracht. Durch den Marshallplan gab es eine wirtschaftliche Lösung." Man habe auf demokratische Bildung und Entnazifizierung gesetzt. "Das alles hat Jahre gedauert, aber das fand hier in Deutschland statt, nachdem die Nationalsozialisten nicht mehr da waren." Ähnlich könne man erst daran denken, etwas Neues aufzubauen, wenn die Hamas beseitigt sei. Israels Premier Netanjahu lehnt einen souveränen, unabhängigen palästinensischen Staat hingegen ab – das hat er auch zuletzt wieder deutlich gemacht: Israel müsse die Sicherheitskontrolle über das gesamte Gebiet westliche des Jordanflusses behalten. Und das sei "unvereinbar mit einem palästinensischen Staat", schrieb Netanjahu als Reaktion auf zuletzt geäußerte Forderungen, es müsse eine Zwei-Staaten-Lösung geben. Israel kontrolliert große Teile des Westjordanlandes seit 1967 militärisch. Außerdem ist der Bau israelischer Siedlungen in dem Gebiet über die Jahre immer weiter vorangetrieben worden: Mittlerweile leben fünf Prozent der israelischen Bevölkerung in 146 Siedlungen im Westjordanland. Die derzeitige rechts-nationalreligiöse Regierung, baut die Siedlungen immer weiter aus, zuletzt wurden 3500 Wohneinheiten genehmigt.

    "Hamas ist schuld an schlechter Versorgungslage in Gaza"

    Auch für die humanitäre Krise im Gazastreifen ist nach Ansicht von Prosor die Hamas verantwortlich. "Seit Beginn des Krieges haben wir 200.000 Tonnen Lebensmittel in den Gazastreifen gebracht, 25 Tonnen Wasser und 18.270 Tonnen medizinische Güter." Die Hamas verhindere, dass die Lebensmittel die Bevölkerung erreichen. Damit widerspricht Prosor der Kritik internationaler Hilfsorganisationen. Sie beklagen, Israel weise Hilfslieferungen nach Gaza ab beziehungsweise beschränke sie unnötig. Dies kritisieren auch die USA, die deshalb vor wenigen Tagen damit begonnen haben, Hilfslieferungen aus der Luft abzuwerfen.

    "Israelische Künstler nur willkommen, wenn sie Israel dämonisieren"

    In Bezug auf die deutsche Antisemitismus-Debatte kritisierte Prosor insbesondere die Kulturinstitutionen. Die Gefahr "linke Antisemitismus" sei lange unterschätzt worden. Die Berlinale sei ein Beispiel: "Israelische Künstler werden dort nur eingeladen, wenn sie Israel dämonisieren oder delegitimieren." Sein Ziel in seiner Zeit als Botschafter sei es, den deutsch-israelischen Jugendaustausch zu vertiefen, "auch mit Jugendlichen muslimischen Glaubens". Diese hätten oft falsche Vorstellungen von Israel.

    "Wer das Massaker vom 7. Oktober leugnet, ist kein Ansprechpartner"

    Was Kritik an Israel betrifft, nennt Prosor eine Grenze: "Diejenigen, die das Massaker vom 7. Oktober leugnen oder nicht in der Lage sind, es zu verurteilen, mit denen führe ich keinen Dialog. Mit denen kann man keinen Frieden erzielen. Es gibt auch muslimische Verbände, die das nicht getan haben – die sind keine Ansprechpartner."
    7 March 2024, 11:06 am
  • 24 minutes 31 seconds
    Grüne wollen gegen Fake News in Social Media kämpfen
    Falschinformationen, Verschwörungsideologien, Aufrufe zur Gewalt. Social Media ist voll davon. Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge sieht darin eine Erklärung für die steigende Zahl von gewaltsamen Protesten – auch gegen Politiker. "Wenn die Menschen am Ende nicht mehr wissen, welcher Information sie vertrauen sollen, vertrauen sie am Ende gar keiner Information mehr. Und das ist wirklich schlecht für die Demokratie", sagt Dröge im SWR-Interview.

    Mehr Tempo beim Digitale-Dienste-Gesetz

    Um stärker gegen fragwürdige Inhalte im Netz vorgehen zu können, hat die EU das Gesetz "Digital Service Act" in Kraft gesetzt. Doch das deutsche Gesetz dazu, das die Umsetzung hierzulande regeln soll, ist noch nicht endgültig beschlossen. Dröge macht Druck: Das Digitale-Dienste-Gesetz müsse schnell durch den Bundestag, damit es im Netz weniger Falschinformationen gibt. Geplant sind neue Aufsichtsstellen, die kontrollieren, ob Betreiber von sozialen Netzwerken Fake News löschen. Auch der stellvertretende Grünen-Fraktionschef, Konstantin von Notz, fordert mehr Regulierung im Netz: Nach seinen Worten verlangt der Staat von jedem Handwerker und jedem Imbiss scharfe Auflagen, die er auch kontrolliert. Bei Social Media dürfe es nicht anders sein, so von Notz in Leipzig.

    EU ermittelt schon gegen TikTok

    Vor anderthalb Wochen erst hat die EU ein Ermittlungsverfahren gegen TikTok eingeleitet wegen mutmaßlich mangelhaftem Jugendschutz. "Das ist richtig", sagt Grünen-Fraktionschefin Dröge im SWR-Gespräch. Sie verweist auf Warnungen der Bundeszentrale für politische Bildung, wonach Kinder und Jugendliche über TikTok gefährlich beeinflusst würden.

    Grüne wollen Milliarden in Infrastruktur stecken

    Dröge verteidigt im SWR-Interview außerdem den sogenannten "Deutschland-Investitionsfonds", den die Grünen-Fraktion auf ihrer Klausur in Leipzig beschlossen hat. In dem Fonds sollen dreistellige Milliardensummen stecken, die nach Vorstellung der Grünen in die Erneuerung der Infrastruktur fließen sollen. Nach Dröges Worten gibt es allein auf kommunaler Ebene einen Investitionsbedarf für Schulgebäude von 50 Milliarden Euro. "Das ist ein schlechtes Zeichen an unsere Kinder und Jugendliche, wenn wir sie an den Ort schicken, wo sie sich vorbereiten sollen fürs Leben und dann regnet es durchs Dach." Die Grünen hoffen, dass durch massive Investitionen in die öffentliche Infrastruktur auch die Wirtschaft bereit sein wird, mehr in Deutschland zu investieren. Das FDP-geführte Bundesfinanzministerium hat sich zum geplanten Investitionsfonds schon kritisch geäußert.
    1 March 2024, 1:23 pm
  • 24 minutes 32 seconds
    AfD-Chef Tino Chrupalla: „Lüge gehört zur Politik“
    Seit zwei Jahren führt Russlands Präsident Wladimir Putin nun Krieg in der Ukraine. Deutschland ist nach den USA inzwischen der größte militärische Unterstützer des angegriffenen Landes. Der AfD-Co-Vorsitzende Tino Chrupalla lehnt Waffenlieferungen dorthin weiter ab: "Die Ukraine ist kein NATO-Mitglied und auch kein EU-Mitglied. Von daher gibt es auch keine Bündnisverpflichtungen für Deutschland", betont Chrupalla im SWR Interview der Woche. Er meint: "Waffenlieferungen bringen keinen Frieden für dieses Land. Die Ukraine wird diesen Krieg auch nicht gewinnen können."

    Ukraine wird laut Chrupalla Gebiete abgeben müssen

    Chrupalla mahnt erneut Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland an: "Dabei wird es auch darum gehen, dass man über Gebietsabtretungen reden muss." Mit Blick auf die von Russland besetzten Gebiete im Osten der Ukraine stellt Chrupalla fest: "Die Ukraine wird wahrscheinlich dieses Territorium in Gänze, noch dazu mit der Krim, nicht wiedererlangen." Der AfD-Chef schlägt im Interview vor, dass die Präsidenten der Ukraine, Russlands und der USA an einem neutralen Ort wie Berlin über "Sicherheitsgarantien für beide Seiten" sprechen. "Zum Beispiel, dass sich die Ukraine nicht der NATO anschließt oder der EU (...). Ein Abzug der russischen Truppen müsste die Gegenbedingung sein." Letzteres allein würde jedoch keine dauerhafte Sicherheitsgarantie für die Ukraine darstellen, betont die Sicherheitsexpertin Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit dem SWR-Hauptstadtstudio: "Es ist außerordentlich unwahrscheinlich, dass Russland von seinen Zielen abrückt, also nicht mehr seine revisionistische Außenpolitik verfolgt und sich in Staat, Gesellschaft und Armee demilitarisiert. Aus ukrainischer Sicht ist deshalb nachvollziehbar, dass sie nach den Erfahrungen der letzten Jahre belastbare Sicherheitsgarantien haben wollen."

    Chrupalla über Putin: „Lüge gehört zur Politik“

    Die AfD spricht sich dafür aus, wieder engere Beziehungen zu Russland aufzunehmen, zum Beispiel wieder russisches Gas über die verbliebene Nordstream-Pipeline zu beziehen. "Wir wollen freien und friedlichen Handel mit aller Welt, auch mit Russland", bekräftigt Tino Chrupalla im Gespräch mit dem SWR. "Russland gehört zu Europa, egal, wer dort Präsident ist." Auch die Wissenschaftlerin Claudia Major findet zwar, dass Gespräche mit Russland grundsätzlich stattfinden müssten: "Langfristig wäre es natürlich wünschenswert, dass es ein geordnetes Verhältnis mit Russland gibt." Sie erklärt jedoch: "Momentan sehe ich bei der russischen Führung weder Interesse noch Grundlage für eine Kooperation. Solange Russland unsere europäische Sicherheitsordnung infragestellt und auch die NATO- und EU-Staaten bedroht, solange ist eine stabile Ordnung mit Russland nicht vorstellbar." Dass Präsident Putin die Welt über seine Absichten, die Ukraine zu überfallen, belogen hat, ist für Tino Chrupalla kein Problem: "Lüge gehört zur Politik. Es gab Lügen und Propaganda auf beiden Seiten, wir erleben gerade wie diese Kriegspropaganda läuft. Es ist unsere Aufgabe, als Politiker diesen Dialog herzustellen und gesprächsbereit mit allen zu sein. Auch mit Regierungschefs, die uns nicht genehm sind, keine Frage."

    Antwort auf Merz-Vorwurf: "Bin nicht Lobbyist von Putin"

    CDU-Chef Friedrich Merz hatte Tino Chrupalla diese Woche im Bundestag vorgeworfen, "Putins nützlicher Idiot" zu sein. Der AfD-Chef sagt dazu im Interview der Woche: "Ich bin weder Lobbyist von Putin, noch von Biden (...)." Chrupalla kritisierte den Oppositionsführer für seine Wortwahl: "Ich würde Merz ja auch nicht als nützlichen Idioten Amerikas bezeichnen."
    23 February 2024, 1:48 pm
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