SWR2 Kultur Aktuell

Südwestrundfunk

Beiträge aus den täglichen Kulturjournalen von SWR2. Mit Kulturnachrichten, Rezensionen, Tipps und Hintergründen zu den Themen Literatur, Kunst, Theater, Tanz, Festivals und Co.

  • 4 minutes 9 seconds
    Katniss Hsiao – Das Parfüm des Todes
    Yang Ning ist Tatortreinigerin in Taipeh. Sie macht diesen Job seit einiger Zeit, sie braucht ihn – nicht nur aus finanziellen Gründen: Seit dem Selbstmord ihres jüngeren Bruders hat sie ihren exzellenten Geruchssinn verloren. Sie riecht nicht, schmeckt nichts, fühlt nichts. Mit einer Ausnahme: Sobald sie den Geruch von Leichen wahrnehmen kann, fühlt sie sich wieder lebendig.   Yang Ning lehnte sich über das Bett, lag beinahe mit dem Oberkörper darauf, keuchend; atemlos strich sie mit beiden Händen über die Matratze, streichelte sie mit zitternden Fingern, die geradezu zärtlich über Insektenpanzer, sich windende weiße Maden und die undefinierbare Masse aus Urin und anderen Körpersäften glitten. 
    Ihr Geruchssinn, seit einem Jahr mausetot, war wieder zum Leben erwacht. 

    Quelle: Katniss Hsiao – Das Parfüm des Todes

    Im Rausch der Gerüche 

    Auf den ersten Seiten des Thrillers „Das Parfüm des Todes“ von Katniss Hsiao gibt es viele dichte Beschreibungen von überwiegend ekligen Gerüchen. Für Yang Ning sind sie wie eine Droge, von der sie immer mehr braucht. Doch dann wird sie verhaftet: Üblicherweise wird ein Tatort erst gereinigt, wenn die Polizei alle Beweise gesichert hat. Yang Ning wurde aber von einem Serienmörder an einen polizeiunbekannten Tatort gelockt und hat dort alle Spuren vernichtet. Für die Polizei ist sie damit die Hauptverdächtige. Yang Ning sucht daraufhin den Tatort abermals auf und entdeckt eine Spur, die nur sie finden kann: Den Geruch eines Parfüms. Sie erinnert sich, dass sie diesen Duft schon einmal gerochen hat: An der Kleidung ihres Bruders, als er noch gelebt hatte.   „Das Parfüm des Todes“ ist ein überwältigender Thriller, der alle Sinne ansprechen, ja, regelrecht sprengen will: Mitreißend, ungehemmt und voller Anspielungen auf Filme und Literatur. Bei einem Mörder mit Faible für Düfte denkt man sofort Patrick Süskinds „Das Parfüm“ – und Katniss Hsiao unterstreicht diese Verbindung, indem sie dem unbekannten Verdächtigen den Namen Grenouille gibt.   Ähnlich deutlich verfährt sie mit der zweiten großen Referenz: Wie in Thomas Harris‘ „Das Schweigen der Lämmer“ sucht Yang Ning Hilfe bei einem Serienmörder, der sie in die Denkweise solcher Täter einführen soll – und Yang Ning dann fast zärtlich „Lämmchen“ nennt.   ‚Jetzt stell dir vor, du bist die Beute, und wenn du das Fürchten gelernt hast, stell dir vor, du bist der Jäger, und lerne, die Furcht zu beherrschen.‘ Er drängte sie zu lernen, Dominanz, Manipulation und Kontrolle zu genießen, die Freude an der Angst zu entdecken, das Licht im Dunkel des Bösen. Was für eine Frau, die vom Schnüffeln an einer Leiche einen Orgasmus bekam, gar nicht so neu war. 

    Quelle: Katniss Hsiao – Das Parfüm des Todes

    Westlich geprägtes Genre trifft auf taiwanische Lebensrealität 

    Diese beabsichtigten Verweise auf genreberühmte Texte sind mehr als eine Spielerei: Katniss Hsiao verknüpft sie mit Einblicken in die taiwanische Gesellschaft. Die viel zu engen Wohnungen werden zu Tatorten. Traditionelle Werte lösen sich auf. Familiäre Bindungen zerbrechen. Der Druck, zu funktionieren, ist allgegenwärtig – ihm aber widersetzt sich Yang Ning.   ‚Warum kann ich verdammt noch mal nicht bleiben, wo ich bin? Warum darf es nicht sein, dass ich mein Leben lang nicht darüber hinwegkomme?‘ Alles sprudelte aus ihr heraus. ‚Du hast dir nie überlegt, was ich wirklich will. Ich will nicht, dass es mir besser geht. Alle zerren an mir, wollen, dass ich glücklich bin. Was heißt glücklich? Warum muss ich unbedingt glücklich sein? Wie könnte ich, jemand wie ich? ›Du musst loslassen.‹ Ich kann nicht loslassen.‘ 

    Quelle: Katniss Hsiao – Das Parfüm des Todes

    Denn unter der brutalen Oberfläche, dem bewussten Provozieren olfaktorischen Ekels steckt in diesem mutigen, wilden Debütroman eine intensive Auseinandersetzung mit dysfunktionalen Familien und Trauer. Yang Ning verändert sich im Verlauf ihrer Nachforschungen. Sie lernt, ihre Impulsivität zu zügeln. Das macht sie gefährlicher. Und am Ende überschreitet dann auch sie eine Grenze in diesem überbordenden Debüt.  
    23 December 2024, 5:30 pm
  • 4 minutes 23 seconds
    Ein Plakat für zehn Sack Zement: Meisterhafte Werbezeichnungen in Kornwestheim

    Harmonische Werbewelt von Salamander

    Im Stadtmuseum von Kornwestheim findet man eine seltsam heile Welt vor. Von den Wänden lächeln propere Kinder, glückliche Paare, elegante Damen und Herren. Es handelt sich um Zeichnungen und Werbegrafiken von drei herausragenden Künstlern, die in den 40er bis 60er-Jahren für große Marken gearbeitet haben, vor allem für den Kornwestheimer Schuh-Platzhirsch Salamander. Die zuckersüße Harmonie dieser Werbewelt ist so etwas wie die spiegelverkehrte Gegenseite der Nachkriegs-Realität. Der Illustrator Franz Weiss hat die Sehnsüchte dieser Notjahre geradezu surreal bebildert. „Es gibt den Schuhbaum, da wachsen Schuhe auf den Bäumen und entstehen aus Samen von der Wiese“, erklärt Kunsthistorikerin Ruth Kappel. Es geht um den Traum der Menschen, wieder Schuhe en masse zu haben, und nicht nur das eine Paar, das man gerade an den Füßen trägt, das fast auseinanderfällt. Als gebürtige Kornwestheimerin kennt sie die große Schuhmarke aus der Nachbarschaft von Kindesbeinen an. Kappel erinnert sich auch noch an eine Besonderheit, für die Salamander sein Sortiment besonders gerüstet hatte.


    Drei Schuhe für Kriegsversehrte

    Ruth Kappels Vater war einer der vielen Veteranen, die im Krieg ein Bein verloren hatten.  „Für Kriegsversehrte gab es die Möglichkeit, bei Salamander drei Schuhe zu kaufen. Prothesenträger haben immer einen Schuh mehr beschädigt als den anderen. So hatte man die Möglichkeit, bei Salamander zwei gleiche Schuhe und einen Dritten zu kaufen“, erläutert Ruth Kappel.


    Versteckte Kritik am Nazi-Regime

    Auch die Stuttgarter Grafikerin Lilo Rasch-Nägele war Zeitzeugin der Kriegsepoche, allerdings ganz anders als ihr Berufs-Kollege Franz Weiss, ein NSDAP-Mitglied und völkischer Maler. Rasch-Nägele machte sich heimlich lustig über das Regime. Sie gehörte – als einzige Frau – zum Freundeskreis um Willi Baumeister, den die Nazis als verdächtig und entartet drangsalierten. 

    „Sie selber war eine sehr emanzipierte Frau, die rauchte, Hosen trug und kurze Haare hatte. Auf der anderen Seite hat sie ganz ätherische Wesen entworfen, auf dem Papier und hat sich in einer ganz anderen Welt bewegt“, schildert die Kunsthistorikerin Maria Christina Zopff. Die Zeichnungen von Lilo Rasch-Nägele sind souverän gestaltete Porträts und Körperdarstellungen, manchmal mit einem einzigen Pinselstrich aufs Papier gebracht. Auch in der jungen Bundesrepublik kreierte sie Rollen-Bilder der hübschen, femininen Frau, die dem aus dem Krieg heimgekehrten Mann, ein wohnliches und modernes Heim herrichtet. Die Kunsthistorikerin Zopff nennt das „Neo-Rokoko“.

    „Das war ein Rückgriff auf eine Zeit, wo man versucht hat, wieder an die alte Ordnung anzuknüpfen, nach diesem verheerenden Zweiten Weltkrieg, nach diesem Frauenbild der Nationalsozialisten hin wieder zu einer Art Neo-Rokoko“, beschreibt Zopff.
    Mit so etwas musste sich der dritte Zeichner dieser Ausstellung nicht herumschlagen: der Schweizer Otto Glaser. Ein begnadeter Autodidakt, der ohne Vorskizze oder Modell zeichnete – ausschließlich nachts.

    Zeichnungen entstanden in besonderer Umgebung

    Denn tagsüber, erinnert sich sein Sohn Urs, war das Familienleben ein Taubenschlag, buchstäblich: „Wir hatten viele Tiere. Zwei Tukane, Eulen in der Voliere, einen Wollaffen, einen Esel und einen Taubenschlag. Unglaublich, dass solche anspruchsvollen Bilder in dieser Umgebung entstanden sind.“ Die Glasers lebten in einem Tessiner Bergdorf, wo die Häuser weder Heizung noch fließendes Wasser hatten.

    Ein Flair von weiter, großer Welt

    Dort zeichnete Otto Glaser Bilder moderner Zeitgenossen: junge, dynamische, elegante Damen und Herren mit einem Flair von weiter Welt. Umso verrückter, dass er seine sensationell locker getuschten Zeichnungen als wertlos empfand.
    „Meine Mutter hat die immer mit einer Schnur um das Packpapier verpackt. Da stand drauf: Wertlose Drucksache. Mein Vater hatte auch seine Originale und seine Zeichnungen und Werbezeichnungen immer als wertlos betrachtet,“ erzählt Urs Glaser.
    Erhalten geblieben sind diese wunderbaren Blätter nur, weil jemand in der Stuttgarter Druckerei sie nicht ins Altpapier steckte, sondern aufbewahrte.

    Ruhm war egal, dem Urheber genügte das Honorar

    Otto Glaser war es herzlich wurscht. Ihm genügte das Honorar – denn damit konnte er auf einem ganz anderen Gebiet schöpferisch tätig bleiben: dem Ausbau von Häusern für Eltern, Kind und Kegel. Er hat immer gesagt: wenn ich ein Salamander-Plakat gemacht habe, dann kann ich zehn Säcke Zement kaufen.

    Quelle: Urs Glaser

    23 December 2024, 11:30 am
  • 7 minutes 15 seconds
    Vision „Zehn-Minuten-Stadt“ Stuttgart – Intendant Andreas Hofer über die IBA 27
    Andreas Hofer, Intendant der IBA, sieht eine Chance, Lebensbereiche enger zu verzahnen und die Stadt lebenswerter zu gestalten. „Wir müssen die Trennung von Arbeits-, Wohn- und Naturräumen überwinden“, fordert Hofer im Gespräch mit SWR Kultur. Besonders wichtig sei dabei die Idee der „Zehn-Minuten-Stadt“, in der alle wesentlichen Lebensbereiche in kurzer Distanz erreichbar sind. Neben kürzeren Wegen stehe auch die soziale Durchmischung im Mittelpunkt, betont er. Damit solle Stuttgart als Metropolregion nicht bloß funktionieren, sondern Begegnungen und Vielfalt fördern.

    Der Neckar mehr als Lebensraum wahrnehmen

    Ein zentrales Anliegen der IBA ist zudem die Rückeroberung des Neckars als Lebensraum. Für Hofer ist dies ein Symbol für die notwendige Öffnung und Durchlässigkeit der Stadt. „Die Verknüpfung von Wasser- und Naturräumen mit der Stadt ist eine zentrale Aufgabe“, erklärt er. Durch Projekte wie den Rückbau der B14 und die Begrünung urbaner Flächen könnte Stuttgart als Modellstadt für klimafreundliche Transformationen gelten. Eine Jahrhundertchance, die dadurch für Stuttgart 21 entstehe: „Die neuen Flächen könnten den urbanen Charakter der Stadt grundlegend verändern.“

    Die Zukunft liegt in lebenswerten Wohnquartieren

    Die Weißenhofsiedlung, ikonisches Beispiel für innovative Architektur, wird zum Kernstück der IBA 27. Hier entsteht ein Besucherzentrum, während andere Projekte im Norden Stuttgarts auf neue Wohnformen abzielen. Hofer betont, wie wichtig es sei, auf demografische Veränderungen zu reagieren, Quartiere zu schaffen, die für kleinere Haushalte und ältere Menschen geeignet sind. Gleichzeitig sollen neue Wohnformen Funktionen wie Begegnungsorte oder soziale Infrastruktur integrieren. Die IBA feiert die urbane Vielfalt, nicht nur als ästhetischen Wert, sondern als Lebenskonzept. Hofer fasst zusammen: „Wir möchten keine Monokultur, sondern lebenswerte Orte für alle.“
    23 December 2024, 11:30 am
  • 4 minutes 4 seconds
    In Konstanz kann man bedürftigen Menschen eine Kultur-Eintrittskarte spenden
    Darüber hinaus organisiert die Stadt an vielen Konstanzer Schulen Projekte mit Kunstschaffenden, damit kulturelle Teilhabe bereits für die Kleinsten unserer Gesellschaft möglich ist.
    23 December 2024, 11:30 am
  • 3 minutes 49 seconds
    Opernperformance „Sancta“ der größte Kulturmoment des Jahres

    Bühnenskandal des Jahres

    Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass die Opernperformance „Sancta“ von Florentina Holzinger, die mich 2024 so ergriffen und bewegt hat, wie lange kein Abend im Theater, ausgerechnet der Bühnenskandal des Jahres werden würde. Dass einige Zuschauerinnen Kreislaufprobleme im Opernhaus bekamen und in manchen Fällen auch Sanitäter dazu gerufen wurden, war dem Land und der Presse einen künstlich hochgeputschten Skandal wert, an dessen Ende die Darstellerinnen mit verstärktem Sicherheitspersonal geschützt werden mussten.

    Radikal feministischer Blick

    Ja, „Sancta“ kann die eigenen Sehgewohnheiten strapazieren und damit meine ich nicht unbedingt das Live-Piercing, die nackten, sich aneinanderreibenden Darstellerinnen oder das Hinzufügen einer Schmuckwunde mit Skalpell, was hier als Videoübertragung zu sehen war.   Das Radikale dieser Performance liegt eher in dem uneingeschränkten feministischen Blick – hier auf die christliche Religionsgeschichte, die seit jeher von Männern bestimmt wurde und wird.

    Auch Jesus wird als Frau dargestellt

    Ein umschlungenes Frauenpaar ersetzt Jesus am Kreuz, Frauen zaubern beim Abendmahl Brot und Wein auf den Tisch. Der Papst ist weiblich und auch Jesus ist eine Frau – selbstbewusst, modern, uneingeschüchtert – und vergibt dem Publikum großzügig die Sünden.      Neben diesem selbstbewussten Gestus und seiner Kritik an männlicher Gewalt und Dominanz, berührte mich an diesem Abend der Überschuss an weiblicher Zärtlichkeit, an Liebe und Akzeptanz, die bei „Sancta“ in unbeschreiblich poetische Bilder gebannt wurden.

    Toleranz als Botschaft

    Dieser Abend ist eine Feier der Toleranz, des unbedingten Miteinanders und des gegenseitigen Respekts. Das ist die Botschaft, die hier erlebbar war – besonders am Ende, als wir alle im Publikum zum gemeinsamen Singen aufgefordert wurden. Love never fails and with that, Please, I’m gonna encourage you: Sing the words with me. Don’t dream it, be it! Stand up everybody...

    Quelle: Aus der Oper "Sancta"

    Träum es nicht, sei es! – lautete die Aufforderung zur Akzeptanz aller Körper und als ich mich umsah, wie jeder und jede mitsang und diese kurze Utopie mitträumte – da überkam mich für diesen Moment der Glaube.

    Am Ende bleibt Hoffnung

    Nämlich die Hoffnung, dass ein menschliches Miteinander vielleicht doch möglich ist. Dass Kunst diese Hoffnung schenken kann. In der echten Welt habe ich zu dieser Hoffnung wenig Anlass – und das ist doch der eigentliche Skandal.
    23 December 2024, 5:00 am
  • 6 minutes 37 seconds
    Revue-Operette „Casanova“ in Stuttgart: Liberace meets Comedian Harmonists
    Casanova gibt es nicht. Zumindest nicht als Person aus Fleisch und Blut in unserer Gegenwart. In ihr ist er ein Prinzip, ein Mythos, der um erotische Verführung, sexuelle Potenz, Galanterie und nicht zuletzt eine phallusbestimmte Männlichkeit kreist. Schon Federico Fellini hat ihn in seinem Film als Clown dekonstruiert. Seine Lebensgeschichte selbst ist ein Stück Memoirenliteratur geworden, aus der man sich bedienen kann.

    Überschreibung der Strauss-Überschreibung

    Ralph Benatzky hat sich in seiner Operettenrevue „Casanova“ entsprechend verhalten und Motive aus den Abenteuern des venezianischen Liebhabers zu einer losen Handlungskette zusammengebunden. Sie ist Anlass für Musik. Eine Musik, die sich wiederum bei einem anderen Mythos der klassischen Operette bedient. So überschreibt Benatzky einfach die Musik aus Strauss‘ weniger bekannten Operetten wie „Cagliostro in Wien“, „Indigo und die 40 Räuber“ oder „Prinz Methusalem“ und und kombiniert sie mit anderen populären Stücke wie der „Pizzicato-Polka“. Und dann lässt er noch die Comedian Harmonists erstmals öffentlich mit der für die Gruppe später so typischen ironischen Musik auftreten. Was macht man daraus heute? Eine weitere Überschreibung, die sich nun Marco Štorman mit seiner Inszenierung an der Staatsoper Stuttgart gönnt!

    Las-Vegas-Revue mit Liberace und reichlich Phallussymbolik

    Die rudimentäre Handlung wird gekappt, wie auch die Operette mit ihren Zwischentexten. Der Show-Charakter der Revue dominiert dergestalt auch auf der Bühne von Demian Wohler mit einer organisch aussuppenden Showtreppe, den Glitzervorhängen und den schrill überbordenden Kostümen von Yassu Yabara. Hinzu kommt eine Choreografie von Cassie August Jørgensen, die mit Geschlechteridentitäten spielt. Es ist eine Show, angelehnt an Las Vegas und die barocken Performances eines Liberace. Und so spielt man sich durch die Varianten von Begehren, erotischen Maskeraden, einer Phallussymbolik von Kerzen, Kugeln, Patronen und Raketen. Da wimmelt es von Anspielungen und Andeutungen, Elon Musk kommt als bestechender Monarch auf die Bühne und selbst das Frauenbild unserer Neofaschisten wird karikiert. Diese Mixtur ist aber alles andere als lustig. Das Rollenmodell des Casanovas erscheint zuerst wie die aus der Muschel geborene Venus mit langem Haar, das dann zum Zopf eines Ancien-Regime-Bewohners gebunden wird, die Wiederholung der bekannten Porträtsilhouette des venezianischen Superliebhabers. Am Ende verausgabt sich dieser Casanova anhand von Sexpillen in die Vergreisung und legt sich dann zur ewigen Ruhe in der sich schließenden Muschel ab.

    Trashiger Assoziationsreigen

    Form gewinnt dieser ziemlich trashige Assoziationsreigen durch die Musik Benatzkys, die nicht weniger heterogen ist als Štormans Bilderreigen. Dieser musikalische Fluss reicht vom Wiener Walzer über Tango, Flamenco und italienische Mandolinenklänge bis hin zur Kirchenmusik und eben den Comedian Harmonists. Da kommt zusammen, was nicht zusammengehört und verkündet das Verführungsevangelium Casanovas als lustvolles Zusammenspiel der musikalischen Stilmittel. Eine Revue eben.

    Kaum etwas in dieser Revue passt zusammen

    Aber Štormans lässt dann ausgerechnet in der Szene des Wiener Opernballs aus dem Bühnenhimmel die verwackelte, zittrige Schrift „Revue ne va plus“ (revue geht nicht mehr) herabschweben. Bei aller musikalischen Fetzigkeit geht für ihn diese Revue dann offensichtlich doch nicht auf. Das männliche Begehren wird mit Texten von Judith Schalansky über die griechische Dichterin Sappho als Prinzip des weiblichen Begehrens konterkariert. Zusammen geht das auch nicht, wie eben kaum etwas in dieser Operettenrevue zusammenpasst. Die Montage und Collage dieser Regie betonen mehr die Bruchstellen als die Klebemittel. 

    Grandios gelingt die Interpretation der Comedian Harmonists

    Man muss sich da schon an die Musik halten. Absolut grandios sind Kai Kluge, Elmar Gilbertsson, Moritz Kallenberg, Johannes Kammler und Florian Hartmann mit dem Pianisten Michael Pandya, die die Comedian Harmonists nicht imitieren, sondern als musikalisches Stilprinzip ausleben. Das Staatsorchester wirft sich mit Wucht unter der Leitung von Cornelius Meister in Benatzkys Füllhorn der Revuemusik. Manchmal kracht es aber auch etwas zu vehement aus dem Graben und reduziert Sängerinnen und Sänger zu Lippenbewegern. Man muss in dieser Operettenrevue sicher nicht alles verstehen, ob man aber die Texte nicht auch ohne Obertitelanlage verstehen soll, bleibt eine offene kritische Frage.

    In musikalischer Hinsicht eindeutiger als in szenischer

    Die Partie des Casanova ist nicht ohne. Bei der Uraufführung sang sie der Bariton Michael Bohnen, damals ein Superstar der deutschen und internationalen Opernbühnen. Michael Mayes stimmliche Spannweite ist enorm, da reicht er an den Uraufführungsinterpreten heran. Das szenisch Groteske beherrscht er. Wohl unfreiwillig verfällt er in den Brechtschen Verfremdungseffekt, mit dem er uns fast schon eindringlich zuwinkt, es wird hier nur gespielt. Als sei es doch auch ihm ein bisschen peinlich, dieser Ganzkörper-Nacktanzug. Esther Dierkes und Moritz Kallenberg sind ein durchaus anrührendes Paar als Laura und Hohenfels, dem man musikalisch das Liebesglück abnimmt. Der Staatsopernchor singt ausgezeichnet. In musikalischer Hinsicht ist der Abend jedenfalls etwas eindeutiger als in szenischer. Er zeigt: Benatzkys Überschreibung der Operette lohnt sich.
    23 December 2024, 5:00 am
  • 3 minutes 43 seconds
    Es sind doch nur Kinder!? Nicolas Winding Refn und seine Version der „Fünf Freunde“

    Liebeserklärung an die Kindheit

    Nicolas Winding Refn war bisher vor allem für cineastische Horrorfilme bekannt. Die neuen „Fünf Freunde“ sollen dagegen eine Liebeserklärung an die Kindheit sein. Ohne düstere Momente kommt die aber auch nicht aus. Jede Erzählung der „Fünf Freunde“ fängt damit an, wie sich die drei Geschwister Julian, Dick und Anne und ihre Cousine Georgina zum ersten Mal begegnen. Die drei besuchen ihre Tante Fanny und Onkel Quentin, einen Erfinder, an der Küste von Dorset. Das Zusammentreffen mit deren Tochter Georgina gestaltet sich erst mal angespannt

    Diversität findet Platz in der Serie

    Die Serie ist interessanterweise nicht ins heute versetzt, sondern sie spielt kurz vor der Erscheinungszeit der Romane, Ende der 1930er Jahre. Was Geschlechterrollen angeht, war George schon immer ziemlich modern. Die Figur wird hier mit der wunderbaren Diaana Babnicova von einer Person of Colour gespielt, das zahlt zwar zusätzlich aufs Diversitätskonto ein, spielt aber ansonsten keine Rolle. George wird schnell zum Zentrum der fünf, getragen von ihrer Abenteuerlust. Diese führt sie im ersten Fall auf die nahe Insel Kirrin Island.

    Großem auf der Spur

    Mittelalterliche Schätze, technische Wunderwaffen oder magische Diamanten – die fünf Freunde, die im englischen Original „Famous Five“ heißen, sind immer wieder ziemlich großen Dingen auf der Spur. Dabei stehen sie einer Erwachsenenwelt gegenüber, die zwar noch relativ klar in gut und böse eingeteilt ist, die Kinder meistens nicht so ganz ernst nimmt, dabei aber doch relativ kindisch agiert, wie der halbseidene Antiquar Thomas Wentworth, gespielt von Game of Thrones-Star Jack Gleeson. Die wabernde Synthie-Musik stellt Vieles in dieser Serie in ein David Lynch-mäßiges Zwielicht. Stellenweise bekommt sie richtig gruselige Untertöne, die politische Situation des drohenden 2. Weltkriegs spielt auch immer wieder eine Rolle.

    Zielgruppe nicht eindeutig

    Die „Fünf Freunde“ sind mit geschätzten 12-15 Jahren etwas älter als im Original, die eigentliche Zielgruppe scheint nicht ganz eindeutig. Stellenweise erscheint Nicolas Winding Refns Serie wie eine Retro-Reflexion über die Kindheit an sich: Schriften und knallige Farben im Vorspann erinnern eher an die frühen 90er, oftmals vermittelt die Kamera mit Perspektiven von unten einen kindlichen Blick, aus dem die Welt unheimlicher wirkt als sie ist.

    Sehvergnügen für die ganze Familie

    Gleichzeitig stellt die Serie große Abenteuer dar, zitiert Indiana Jones und Grimms Märchen, die Ausstattung ist so liebevoll und opulent, als hätte hier jemand um die kindliche Neugier und Lebenswelt einen Goldrahmen gelegt, ohne sich aber in Nostalgie zu verlieren. Das Ergebnis ist ein Sehvergnügen, an dem sich bestenfalls die ganze Familie beteiligt. Fünf Freunde im ZDF: Trailer
    23 December 2024, 5:00 am
  • 5 minutes 25 seconds
    Bas Kast plädiert für ein Leben ohne Alkohol: Eine Flasche Wein so schädlich wie 5 bis 10 Zigaretten

    Jeder Schluck Alkohol erhöht das Krebsrisiko

    Obwohl viele Menschen der These folgten, ein bis zwei Gläser Wein am Tag wirkten entspannend und seien deshalb gut für die Gesundheit, nennt Bas Kast Studien britischer Wissenschaftler, nach denen Alkohol genauso schädlich sei wie Zigaretten: „Schon in einer Flasche Wein stecken für Frauen zehn und für Männer fünf Zigaretten“.

    Alkohol als Teil der Alltagskultur

    „Alkohol ist die einzige Droge, für die du dich rechtfertigen musst, wenn du sie nicht nimmst, wenn du sie ablehnst,“ sagt Bas Kast. Er wolle niemandem verbieten, zu genießen und zu feiern, auch einmal über die Stränge zu schlagen, aber man sollte sich der Risiken bewusst sein, so Kast. Man könne sich zum Beispiel vornehmen, sich an Silvester noch einen Drink zu gönnen, im Januar aber Alkohol zu meiden. „Das ist eine gute Gelegenheit, auch einmal den eigenen Alltagskonsum zu hinterfragen.“ Die Frage sei, ob man wirklich jeden Tag Alkohol brauche.
    23 December 2024, 5:00 am
  • 6 minutes 32 seconds
    Darf ich sagen königlich? „Zu Tisch bei den Royals" von Tom Parker Bowles

    Einblicke in die königliche Küche vom Sohn von Königin Camilla

    Das Kochbuch „Zu Tisch bei den Royals - Palastküche von Queen Victoria bis King Charles III“ gibt Einblicke in den Königshof Englands. Der Autor Tom Parker-Bowles kennt genau den Essensplan der Royals, denn er ist der Sohn von Camilla, der Königin von England. „Zu Tisch bei den Royals“ ist sein neuntes Kochbuch. 240 Seiten geben Aufschluss über exklusive Hintergrundinformationen der Essgewohnheiten der Royals.

    Mischung aus Kochbuch und Kaffeetisch-Buch

    Tom Parker-Bowles präsentiert zudem über 100 Rezepte, die in das tägliche Leben eingebaut werden können. Ein Kochbuch, welches auf Tagebüchern und Briefen der königlichen Leibköche beruht. Es ist also eine Mischung aus Kochbuch und Coffeetable-Book zum Schmökern.

    Quelle: Clemens Hoffmann

    20 December 2024, 5:30 pm
  • 3 minutes 46 seconds
    Anuraj Sri Rajarajendran aus Landau ist der neue deutschen Meister im Poetry Slam

    Anuraj braucht keine Bühnenshow

    Anja Ohmer von der Uni Landau ist überrascht darüber, dass Anuraj Sri Rajarajendran so viele Slams gewonnen hat: Sie war es, die vor mehr als zehn Jahren die bis heute aktive Poetry-Slam-Szene in Landau gegründet hat: „Was ihn auszeichnet ist, dass er zwischen Humor und Tiefgang balancieren kann, und literarisch hoch anspruchsvoll.“ Was sie als Kulturwissenschaftlerin besonders freut: Dass es Anuraj allein über das gesprochene Wort schafft, sich das Publikum jedes Mal aufs Neue zu erspielen: Zinober, Bühnenshow? Braucht er nicht. Rampensau? Ist er nich: „Meiner Meinung nach ist Anoraj kein Ultra-Performer, der die Bühne abrockt, sondern er ist so wie er ist, eher ruhig und ernsthaft, aber sehr präsent auf der Bühne.“

    Seine Geschichten sind immer persönlich

    Eine Bühne, ein Mikro, eine Geschichte: Mehr braucht es nicht, beim Poetry Slam. Und in Anurajs Fall ist die Geschichte immer eine persönliche. „Lyrisches Ich? Nein. Nur Ich – unverfälscht und unverstellt“ – das ist seine Poetologie: Seine WG in der Landauer Innenstadt ist der richtige Ort, um über einen seiner persönlichsten Texte zu sprechen: „Papa, warum weinst Du nicht“. Mit diesem Text hat er vor gut drei Wochen in Bielefeld das Finale der Deutschen Meisterschaft gewonnen. Anuraj nimmt seinen Vater als Beispiel, arbeitet sich an Männlichkeitsbildern ab, die bis heute überdauert haben und trifft schließlich für sich eine Entscheidung: Wenn es wirklich so ist, dass echte Männer nicht weinen, dann will ich kein Mann sein!

    Quelle: Anuraj Sri Rajarajendran

    Text über den Vater brachte ihm den Sieg

    Das war der Text, der ihm den Sieg gebracht, und dem er eines zu verdanken: Er weiß schon jetzt, in den letzten Tagen des Jahres 2024: das nächste Jahr wird ein anderes sein, das nächste Jahr wird groß. Es gab viele Anfragen, Kommenare und Likes auf Social Media, und Anuraj Sri Rajarajendran wird sein erstes Buch veröffentlichen, mit Texten, die ganz er sein werden…  
    20 December 2024, 11:30 am
  • 6 minutes 27 seconds
    Ein Leben ohne Schubladen – Zum 100. Geburtstag der Dichterin Friederike Mayröcker
    Friederike Mayröcker, eine der prägendsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur, hätte am 20. Dezember ihren 100. Geburtstag gefeiert. Ihre unkonventionelle Wiener Schreibwohnung – ein Labyrinth aus Zetteln, Briefen und Zeichnungen – spiegelt die kreative Explosion ihres Werks wider. Die Materialberge gingen teils bereits zu Lebzeiten an Archive und Bibliotheken. Ganz geborgen sind die Schätze aber noch nicht, weiß der österreichische Germanist und Literaturkritiker Klaus Kastberger.
    20 December 2024, 5:00 am
  • More Episodes? Get the App
© MoonFM 2024. All rights reserved.