SWR2 lesenswert - Literatur

Südwestrundfunk

Hier finden Sie die Beiträge aus den SWR2 Literatursendungen an einem Ort: Die SWR Bestenliste und die SWR2 lesenswert Sendungen Feature, Magazin, Kritik und Gespräch. Mit Buchtipps, Diskussionen, Rezensionen und Neuigkeiten.

  • 6 minutes 2 seconds
    Jede Geschichte zählt: Chimamanda Ngozi Adichis neuer Roman „Dream Count"
    Vier Frauen, vier Lebenswege, vier Sehnsüchte: In „Dream Count“, dem neuen Roman von Chimamanda Ngozi Adichie, dreht sich alles um den Wunsch nach Liebe, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung. Drei der Frauen sind in Afrika aufgewachsen und leben inzwischen in den USA, eine ist in Nigeria geblieben. Unterschiedlich in Herkunft, Status und Lebenssituation, eint sie doch die Suche nach Erfüllung – schon der erste Satz des Romans steckt das zentrale Thema ab: Ich habe mich immer danach gesehnt, von einem anderen Menschen erkannt zu werden, wirklich erkannt.

    Quelle: Chimamanda Ngozi Adichie – Dream Count

    Wunsch nach Liebe, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung

    Das sagt Chiamaka, genannt Chia, die erste der vier Protagonistinnen. Chia stammt aus einer wohlhabenden nigerianischen Familie und lebt als Reiseschriftstellerin in den USA – jedoch bislang ohne größeren Erfolg. Die Pandemie zwingt sie zur Untätigkeit, und in dieser Zeit beginnt sie, über vergangene Beziehungen zu sinnieren. Sie sucht im Netz nach ihrem Ex-Partnern: Darnell, schön, aber gefühlskalt; ein verheirateter Engländer, dessen Geliebte sie lange war, und Chuka, der perfekte Mann – den Chia trotzdem nicht lieben konnte. Von Chia aus verzweigt sich die Geschichte zu den anderen Frauen. Zikora, ihre beste Freundin, hat in Washington Karriere als Anwältin gemacht. Jahrelang hat sie sich ein Kind gewünscht – jetzt ist sie schwanger, doch der vermeintliche Traummann verlässt sie, als er von der Schwangerschaft erfährt. Er konnte das, einfach ungeschoren davonkommen, sich entscheiden, nichts zu tun, aber sie würde diese Option nie haben, denn es war ihr Körper, und ein Baby musste entweder zur Welt gebracht werden oder nicht.

    Quelle: Chimamanda Ngozi Adichie – Dream Count

    Schwere Schicksale und Einblicke in afrikanische Lebenswelten

    Kadiatou, Chias Haushälterin, stammt aus Guinea, lebt als Geflüchtete in den USA und träumt von einem ruhigen, sicheren Leben. Doch dieser Traum zerbricht brutal, als sie Opfer eines sexuellen Übergriffs wird – ein Fall, der an den Skandal um Dominique Strauss-Kahn erinnert, aber gleichzeitig ein universelles Schicksal von Frauen weltweit repräsentiert. Die vierte Hauptfigur ist Omelogor, Chias Cousine, erfolgreiche Bankerin in Abuja in Nigeria, unverheiratet und kinderlos aus Überzeugung – bis plötzlich der Wunsch nach Mutterschaft in ihr aufkeimt. Adichie verwebt die Geschichten dieser Frauen mit scheinbarer Leichtigkeit, ohne die Schwere der Themen zu verharmlosen.

    Adichie scheut nicht vor Reibung zurück

    Fehlgeburten, Abtreibungen, häusliche Gewalt, Genitalverstümmelung – all das findet Raum in diesem Roman, ohne dass er sich in Anklagen verliert. Ganz nebenbei vermittelt sie Einblicke in afrikanische Lebenswelten – ohne lange Erklärungen, aber mit selbstverständlicher Präzision. Wer nicht weiß, was Fonio ist, wird die in Westafrika beliebte Hirseart vielleicht nachschlagen, und dabei einen weiteren kleinen Baustein in Adichies literarischem Kosmos entdecken. Adichie scheut nicht vor Reibung zurück: Sie legt ihren Figuren auch kontroverse Aussagen in den Mund, die Debatten anstoßen – mal entlarvend, mal provokant. Jemand las einen Roman über den Biafra-Krieg in Nigeria und meinte: „Echt interessant, aber ehrlich gesagt kapier ich noch nicht ganz, wieso die Igbo ermordet wurden“. Ich riet ihnen, sich die Igbo als sowas wie die Juden Nigerias vorzustellen: Man traut ihnen nicht, weil sie angeblich alles kontrollieren wollen, Geld lieben und dauernd Ansprüche anmelden. „O mein Gott“, rief da eine Frau, „das darfst du nicht sagen, niemanden darf man mit Juden vergleichen!“ Ich hatte keine Ahnung, dass es Menschen gibt auf dieser Welt, die so selbstverständlich das Hoheitsrecht über anderer Leute Köpfe beanspruchen.

    Quelle: Chimamanda Ngozi Adichie – Dream Count

    „Dream Count“ ist ein kraftvoller Roman über Frauen, die lieben, kämpfen und sich behaupten – nicht perfekt, nicht immer heldenhaft, aber mit einer Beharrlichkeit, die bewegt. Adichie gelingt es komplexe Themen in lebendige Erzählungen zu übersetzen. Ihre Figuren sind keine Symbole, sondern echte Menschen mit Widersprüchen und Schwächen. Gerade das macht diesen Roman so eindrücklich: Er zeigt, wie das Private und das Politische untrennbar verwoben sind – und dass es in der Suche nach Selbstbestimmung nicht nur um große Gesten geht, sondern oft um die kleinen, alltäglichen Entscheidungen, die das Leben prägen. „Dream Count“ist ein Buch, das nachhallt – weil es daran erinnert, dass jede Geschichte zählt.
    9 March 2025, 4:04 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Jennifer Ackerman – Die Weisheit der Eulen | Buchkritik
    Ihre großen, runden Augen, mit denen sie uns anstarren, wirken auf manche Menschen bedrohlich. Eulen gelten in einigen Kulturkreisen als Todesboten. Sie werden gefürchtet, verfolgt, umgebracht. Anderswo werden sie als Götter und Glücksboten verehrt.   Schon die Namen zeigen, was wir Menschen in ihnen gesehen haben und immer noch sehen: Es gibt Dämoneneulen, Geistereulen, Todeseulen, Koboldeulen, Gold- oder Silbereulen. Seit Harry Potters Siegeszug haben sie zumindest in der westlichen Zivilisation durch seine Botin Hedwig, eine Schleiereule, ein positives Image.  

    Geheimnisvolle Eulen 

    Sie faszinieren uns nicht zuletzt, weil sie so geheimnisvoll sind. Das hat die amerikanische Autorin Jennifer Ackerman veranlasst, sich intensiv mit ihnen auseinanderzusetzen. Ihr Buchtitel „Die Weisheit der Eulen – Der geheimnisvollste Vogel der Welt und seine Talente“ verrät, warum sich die Biologin auf deren Spur begeben hat. Was immer die Eulenforschung der letzten Jahre ergeben hat, findet sich in ihrem Buch. Rund 450 Spezialisten tauschen sich über ein weltweites Eulenprojekt untereinander aus. Viele von ihnen hat sie aufgesucht und sich von ihnen auf anstrengende Exkursionen mitnehmen lassen. So ist ihr Buch in weiten Passagen reportageähnlich und sehr bildhaft. Das liest sich sehr leicht und flott. Allerdings sind die persönlichen Schilderungen dieser Ausflüge in die Wildnis etwas langatmig.   Abwechselnd mit ihren Exkursionsreportagen beschreibt sie anschaulich, wie modernste miniaturisierte Elektronik, wie ausgeklügelte Laborexperimente den Eulen immer mehr Geheimnisse entlockt haben und übersetzt die wissenschaftlichen Erkenntnisse in eine allgemeinverständliche Sprache. Minisender, winzige Nestkameras und starke Richtmikrophone decken inzwischen ihr Nestverhalten, ihre Flugbewegungen, ihr Revierverhalten auf. DNA-Analysen haben ergeben, dass es mindestens 250 verschiedene Eulenarten gibt, vom 25 Gramm leichten Elfenkauz, einem winzigen Wollball, bis zum halbmetergroßen Riesenfischuhu, der eine Flügelspannweite von fast zwei Metern hat. Eulen sind in allen Klimazonen von der Arktis bis in die Tropen zu finden. Schwarzweiß – sowie Farbfotos der in neun Kapiteln vorgestellten Eulen bringen sie uns nahe. 

    Besondere Talente 

    Sie sind lautlose Jäger. Ihr Federkleid erzeugt so gut wie keine Geräusche, keine Beute wird vor ihrem Angriff gewarnt. Sie verfügen über ein phantastisches Gehör, das die Bewegungen einer Maus im nächtlichen Dunkel selbst unter 50 Zentimetern Schnee wahrnimmt.   Die meisten der 250 Eulenarten verschmelzen dank ihres farblich der Umgebung angepassten Gefieders perfekt mit der jeweiligen Natur. Ihr Liebesleben ist ungewöhnlich. Lebenslange Paarbindungen gibt es nicht. Männchen und Weibchen ziehen zwar gemeinsam den Nachwuchs auf, aber danach gehen sie durchaus neue Beziehungen ein.  

    Bedrohungen 

    Abgesehen von der Jagd in asiatischen Ländern wegen vermeintlicher Heilkräfte von Federn und Knochen, sind alle Eulenarten durch Artenschwund, Umweltverschmutzung, Klimawandel bedroht. Die naturbelassenen Flächen, in den Eulen vor allem leben, werden immer kleiner. Die Zivilisation rückt überall immer weiter in die Wildnis vor, die Jagdgebiete schrumpfen. Vielerorts versuchen Ornithologen, bedrohte Eulenarten zu schützen und ziehen in Zuchtstationen Nachwuchs auf. Ein extrem schwieriges Unterfangen, wie Jennifer Ackerman schildert. Ihr Buch ist ein brillantes Plädoyer für die Rettung dieser faszinierenden Vögel.  
    6 March 2025, 5:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Ricarda Messner – Wo der Name wohnt | Buchkritik
    Auf den ersten Blick ist die Großmutter der Ich-Erzählerin eine ganz gewöhnliche ältere Frau mit den üblichen Schrullen: Sie kauft immer nur dieselben Lebensmittel ein, hat einen übertriebenen Hang zur Ordnung; den Satz „Ich bin akkurat“ murmelt sie gewohnheitsmäßig auf Russisch vor sich hin. Ihre Handschrift ist penibel; die Zeilen in ihren Briefen halten stets den gleichen Abstand. Erst nach dem Tod der Großmutter entdeckt ihre Enkelin das linierte weiße Blatt, das der Großmutter beim Verfassen ihrer Briefe als Unterlage gedient hat. Es ist ein gutes Bild dafür, wie geschickt Ricarda Messner in ihrem Debüt mit Erwartungen und scheinbaren Gewissheiten spielt, um sie dann zu unterlaufen. „Wo der Name wohnt“ ist eine Lektüre, die Aufmerksamkeit erfordert. Messner springt in den Zeitebenen vor und zurück. Zu Beginn des Romans ist die Großmutter bereits seit Jahren tot, und die Ich-Erzählerin erinnert sich daran, wie sie Jahre zuvor ihre erste eigene Wohnung in der unmittelbaren Nachbarschaft der Großmutter bezogen hatte.  Einige Freundinnen und Freunde fragten mich damals, ob ich denn wirklich so nah bei Großmutter leben wolle. Vielleicht wäre es doch besser, wenn die erste Wohnung mit der Familie bricht, und ob ich denn keine eigene Zukunft wolle, kein eigenes Leben. Bis heute nehme ich es ihnen nicht übel, verstehe allerdings immer noch nicht, wie das gehen soll und was das sein soll, das eigene Leben.

    Quelle: Ricarda Messner – Wo der Name wohnt

    Rekonstruktion mit Lücken 

    Die Frage, inwieweit es möglich ist, ein von Geschichte und familiären Prägungen unabhängiges Leben zu führen, ist das Grundthema des Romans. Vorsichtig tastet Ricarda Messners Ich-Erzählerin sich in die Historie ihrer Familie hinein. Und weil so etwas eben nicht chronologisch geordnet wie das Drehbuch einer Vorabendserie funktioniert, bleiben in der Rekonstruktion immer wieder Lücken. Wer Messners Roman vorwirft, dass die Autorin der Vagheit ihrer Hauptfigur nicht entschlossen genug entgegensteuere, hat das Erzählprinzip nicht verstanden. Fest steht: Die Eltern der 1989 geborenen Erzählerin sind im April 1971 aus Riga, der Hauptstadt Lettlands, in die Bundesrepublik eingereist. Fest steht auch, dass die Erzählerin einen Schriftwechsel mit den deutschen Behörden führt, um den lettischen Namen ihrer Mutter, Lewitanus, annehmen zu dürfen. Die nüchternen Antworten der Behörde sind den einzelnen Kapiteln jeweils als Auftakt vorangestellt:   Der bloße ‚Herzenswunsch‘, einen anderen Familiennamen führen zu wollen, stellt grundsätzlich keinen wichtigen Grund für eine Namensänderung dar. 

    Quelle: Ricarda Messner – Wo der Name wohnt

    Sekundäre Zeugenschaft 

    Aus Erinnerungsschnipseln, Erzählungen der Eltern und zufälligen Fundstücken erwirbt sich die Erzählerin das, was man mit dem Begriff „sekundäre Zeugenschaft“ bezeichnet – ein Wissen über die eigene Herkunftsgeschichte, das sich nicht aus eigenem Erleben, sondern nur aus indirekter Vermittlung speist:  Ich war fünfzehn Jahre alt, und in den nächsten Jahren ging ich immer wieder zum Wohnzimmerschrank, um diese Dokumente zu lesen, meistens dann, wenn ich allein war und meine Mutter nicht bei jedem Geräusch fragte, was suchst du da, weil sie dachte, ich würde ihre Kleider zerschneiden. 

    Quelle: Ricarda Messner – Wo der Name wohnt

    Das dunkle Zentrum dieses Romans, so viel soll verraten werden, das sind die blutigen Tage im Rigaer Ghetto im Jahr 1941; die Kollaboration der lettischen Nationalisten mit den deutschen Nationalsozialisten, die Ermordung zehntausender jüdischer Bürger in lettischen Konzentrationslagern oder Gefängnissen. Eine Verflechtung historischer Ungeheuerlichkeiten, die Spuren hinterlassen, sich eingegraben hat in die Familiengeschichte bis in die Gegenwart hinein. Ricarda Messner hat in ihrem Debüt eine schlüssige Form dafür gefunden, wie man davon erzählen kann. Der oft verwendete Begriff „transgenerationales Trauma“ wird in diesem schmalen, aber bemerkenswerten Roman anschaulich gemacht – mit literarischen Mitteln, dafür aber umso eindrücklicher. 
    5 March 2025, 5:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Irina Rastorgueva – Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung
    „Pop-up-Propaganda“ hat Irina Rastorgueva ihr neues Buch genannt, weil die heutige Putinsche Wirklichkeitsvernebelung im Grunde ganz ähnlich funktioniert wie in der Zarenzeit, wo einst für Katharina die Große Potemkinsche Dörfer errichtet wurden. Da, wo sich der Autokrat Putin blicken lässt, werden nämlich auf einmal Straßen ausgebessert und Hausfassaden gestrichen.   Doch leider besucht der heutige Kremlherrscher, wenn überhaupt, nur noch regionale Zentren. Die Peripherie – und die ist im riesigen Russland fast überall – darf sehen, wo sie bleibt. Dort werden Krankenhäuser und Schulen geschlossen und im Winter die Straßen nicht mehr geräumt. 

    Absurdes Theater für die russische Öffentlichkeit

    Noch erschütternder als der Verfall der Infrastruktur ist das „absurde Theater“ der russischen Öffentlichkeit, wie Rastorgueva es nennt, das inzwischen zum totalen geistigen und moralischen Verfall des Landes geführt hat, gipfelnd in einem imperialistischen Krieg, mit dem die russische Sargindustrie kaum mehr Schritt halten kann. Die Produktion von Propaganda läuft dagegen auf Hochtouren, wie Rastorgueva an Dutzenden von Beispielen zeigt. So auch an einem Bericht von Russia Today über die angebliche Flucht eines ukrainischen Rabbiners vor den vermeintlich antisemitischen Kiewer Behörden.  Es wurden Aufnahmen der Synagoge mit den Worten „Tod den Jidden“ und einem Hakenkreuz gezeigt. Außerdem wurden Ausschnitte aus einem Interview mit Rabbi Mikhail Kapustin serviert. In dem Video packt er seine Sachen und sagt: „Ich will nicht weggehen. Aber ich möchte, dass sich meine Kinder sicher fühlen. Deshalb gehe ich.“ Tatsächlich handelt es sich aber nicht um eine Synagoge in Kiew, sondern um eine Synagoge in Simferopol, an der die Schmierereien erschienen, nachdem das russische Militär die Krim besetzt hatte, von wo Kapustin in die Ukraine geflohen war. 

    Quelle: Irina Rastorgueva – Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung

    Russische Medien als Sprachrohre des Putinismus

    Um solche Fälschungen, die zum üblichen Instrumentarium der Kremltreuen gehören, entlarven zu können, hat Rastorgueva drei Jahre lang die russischen Medien durchforstet, von staatlichen Sendern bis zu Telegram, von unabhängigen Nachrichtenkanälen bis zur Sonntagabend-Talkshow des Hetzers Wladimir Solowjow im Staatsfernsehen. Am Rande erfährt man dabei auch, dass Gestalten wie Solowjow oder sein Journalistenkollege Dmitrij Kisseljow in den 1990er-Jahren und teils darüber hinaus noch liberale Ansichten vertraten. Heute sind sie Sprachrohre des Putinismus.  Neben dem Hass auf die Ukraine und insbesondere Wolodymyr Selenski steht der Hass auf das angeblich sittenlose „Gayropa“ im Vordergrund. Aktuell ist auch der Ausdruck „Liberast“ im Schwange, eine Zusammenziehung aus „liberal“ und „Päderast“.

    Angebliche westliche Vernichtungspläne

    „Dem Westen“ wird auch unterstellt, Vernichtungspläne gegen Russland zu schmieden. Zur Verbreitung solcher Lügen gibt sich etwa Michail Kowaltschuk, Leiter des Kurtschatow-Instituts, Russlands führender Kernforschungsanstalt, her.  Seinen Informationen zufolge erarbeiten amerikanische Ethnogenetiker Waffen, die für eine ethnische Gruppe ungefährlich und für eine andere tödlich sind. Die heutigen russischen Behörden beschuldigen die Vereinigten Staaten seit 2009 permanent, biologische Waffen auf dem Territorium der Ukraine, Georgiens, Kasachstans und Armeniens zu entwickeln. Und das ohne jeden Beweis.

    Quelle: Irina Rastorgueva – Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung

    In einem Vierteljahrhundert Putin hat die Kremlpropaganda die Dimensionen einer eigenen Wirklichkeit angenommen, stellt Rastorgueva nüchtern fest. Wo immer man ihr Buch aufklappt, springt einem die russische Paranoia entgegen. Es bietet dem Leser eine wohl einzigartige Binnenperspektive auf das heutige Russland. 
    4 March 2025, 5:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Jorge Comensal – Diese brennende Leere
    Mexiko-City im Jahr 2030: Ein Großbrand im Stadtwald Bosque de Chapultepec verwüstet den Friedhof Panteón Civil de Dolores, wo sowohl Berühmtheiten als auch Namenlose begraben sind. Außerdem zerstört das Feuer den Zoo der mexikanischen Hauptstadt – und alle Tiere, bis auf ein Emu-Küken, sterben. Vor dem Hintergrund dieser imaginierten Katastrophe erzählt Jorge Comensal in seinem Roman „Diese brennende Leere“ zwei Lebensgeschichten, die von Karina und Silverio, die sich irgendwann kreuzen.  

    Schmerzhafte Suche nach der Wahrheit 

    Karina ist eine 25-jährige Physikerin. Sie forscht zu einer neuen Theorie der Schwerkraft und lebt seit frühester Kindheit bei ihrer dem Whisky verfallenen Großmutter Rebeca. Karinas Eltern haben ein Grab auf dem Panteón Civil de Dolores. Als die junge Frau den Verdacht schöpft, dass Vater und Mutter gar nicht gemeinsam bei einem Verkehrsunfall gestorben sind, wie man ihr immer erzählt hat, macht sie sich auf die schmerzhafte Suche nach der Wahrheit.   Sie kann nicht glauben, dass Rebeca, die geschwätzigste Frau der Welt, all die Jahre ein Geheimnis vor ihr bewahrt hätte. Was kann ihre Mutter verbrochen haben, dass ihre Großmutter sie derart hasst? Dieser Groll würde erklären, warum sie ihr hartnäckig jedes Andenken verweigert. (Mit keinem Wort erwähnt ihre Großmutter die verstorbene Schwiegertochter.) Als hätte sie nie existiert. 

    Quelle: Jorge Comensal – Diese brennende Leere

    Silverio wiederum ist Friedhofswärter und hat in der Nacht des verheerenden Brandes Dienst. Nachdem er sich mit Mühe und Not vor den Flammen gerettet hat, sitzt er erschöpft im Wachhäuschen – da ruft ihn seine Teenager-Tochter Daenerys an, mit der er eigentlich keinen Kontakt hat.   Ich mache mir solche Sorgen um die Giraffen, die Flamingos, die Kalifornischen Kondore, sie stehen auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten.“ – „Hör mal, meine Tochter …“ – Silverio waren die vom Aussterben bedrohten Tierarten sowas von egal –  
    „… als ich eben glaubte, mein letztes Stündchen hätte geschlagen, habe ich ganz doll an Dich gedacht. Ich will, dass wir uns häufiger sehen. Ich rede mit deiner Mamá, damit sie da nichts gegen hat, ja? Es ist nicht richtig, dass du so gar nichts von deinem Papá hast.“  

    Quelle: Jorge Comensal – Diese brennende Leere

    Neue Vater-Tochter-Beziehung 

    Die neue Vater-Tochter-Beziehung, die sich aus Daenerys‘ Sorge um die Tiere des Zoos entwickelt, ist so ungefähr das einzig Schöne, das in Silverios Leben passiert. Ansonsten kämpft er mit finanziellen Problemen und Süchten, muss Schutzgeld für seinen Bruder zahlen –  einen Auftragsmörder hinter Gittern – und sich um seine depressive Mutter kümmern.   Von den Sorgen, Nöten und Tragödien der beiden einsamen Großstadt-Bewohner Silverio und Karina erzählt Jorge Comensal in einer frischen, unverblümten und dialogreichen Sprache. Es gibt in seinem Buch auch viel Situationskomik – all das verhindert, dass die Handlung ins allzu Schwere abgleitet. Spannend ist der Roman zudem: Wir wollen wissen, was mit Karinas Eltern wirklich passiert ist. Und dadurch, dass der Roman auf verschiedenen Zeitebenen hin- und herspringt, fordert er sie Lesenden.  

    Extremhitze, Wassermangel, tödliche Flammen 

    Das Interessanteste an dem Roman aber ist das Zukunftsszenario, das Comensal entwirft. Es ist eben keine in weiter Ferne liegende Apokalypse – beklemmend und zugleich völlig abstrakt. Der Autor schaut nur wenige Jahre voraus und hat mit 2030 sicher nicht zufällig das Jahr gewählt, das die Staatengemeinschaft als Zielmarke für nachhaltige Entwicklung gesetzt hat. Der Tod der Zoo-Tiere kann als Allegorie auf das globale Artensterben verstanden werden. Aber er erscheint auch sehr real – angesichts der Brände von Los Angeles mit ihren katastrophalen Folgen.   Extremhitze, Wassermangel und tödliche Flammen: Als Jorge Comensal „Diese brennende Leere“ 2022 in Mexiko veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, dass die Wirklichkeit die Zukunftsfiktion bereits drei Jahre später übertreffen würde. Trotzdem oder gerade deshalb ist diese literarische Auseinandersetzung mit den Folgen des Klimawandels originell und lesenswert.
    3 March 2025, 5:30 pm
  • 16 minutes 22 seconds
    Elfi Conrad: Als sei alles leicht | Lesung und Diskussion
    Die Vorgeschichte zu „Schneeflocken wie Feuer“: Drei Frauen und ein Baby, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs aus Niederschlesien in Richtung Westen fliehen. Ein Buch über männliche Macht und weiblichen Widerstand.
    2 March 2025, 4:04 pm
  • 17 minutes 27 seconds
    Feridun Zaimoglu: Sohn ohne Vater | Lesung und Diskussion
    Die Mutter ruft aus der Türkei an und meldet den Tod des Vaters. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, der in Kiel lebt, leidet an Flugangst und macht sich im Wohnmobil auf den Weg. Die Reise ist eine Reise in die Erinnerung.
    2 March 2025, 4:04 pm
  • 17 minutes 25 seconds
    Christine Wunnicke: Wachs | Lesung und Diskussion
    Wunnicke hat sich zur Spezialistin für präzise gearbeitete Kurzromane entwickelt, in deren Mittelpunkt historische Figuren stehen. Im neuen Roman schreibt sie über Marie Marguerite Bihéron, eine wegweisende Bildnerin von anatomischen Wachspräparaten.
    2 March 2025, 4:04 pm
  • 16 minutes 41 seconds
    Vigdis Hjorth: Wiederholung | Lesung und Diskussion
    Hjorths Romane kreisen geradezu besessen um eine Familiengeschichte, die ihrer eigenen ähnelt. Ein Streit unter Geschwistern, der über Bücher ausgetragen wird. Im Zentrum: Eine traumatische Missbrauchserfahrung durch den eigenen Vater.
    2 March 2025, 4:04 pm
  • 1 hour 7 minutes
    SWR Bestenliste März – Diskussion über Bücher von Elfi Conrad, Feridun Zaimoglu, Christine Wunnicke und Vigdis Hjorth
    Shirin Sojitrawalla, Gerrit Bartels und Christoph Schröder diskutierten im Freiburger Literaturhaus vier auf der SWR Bestenliste im März verzeichneten Werke, die von tabuisierten Familiengeschichten und verdrängter Zeitgeschichte handeln.

    Diskussion über vier Bücher

    Zum Auftakt wurde der Roman „Als sei alles leicht“ von Elfi Conrad (Mikrotext Verlag) besprochen, der von drei Frauen und einem Baby erzählt, die Anfang 1945 auf der Flucht vor der Roten Armee in einem Flüchtlingslager im damaligen Reichsprotektorat Böhmen und Mähren gelandet sind. Das auf dem 6. Platz der SWR Bestenliste im März geführte Buch wurde auf dem Podium sehr unterschiedlich bewertet: Einzelszenen, die kollektive und persönliche Erinnerungen abrufen, wurden von Seiten der Jury gelobt, allerdings gab es auch deutliche Kritik an der literarischen Ausgestaltung der verschiedenen Erzählperspektiven. Durchaus kontrovers waren auch die Gespräche über Feridun Zaimoglus Trauerbuch „Sohn ohne Vater“ aus dem Kiepenheuer und Witsch Verlag (Platz 5) und Christine Wunnickes historischen Roman „Wachs“ (Platz 3), der im Berenberg Verlag erschienen ist.

    Erinnerung als literarischer Motor

    Allein Vigdis Hjorths Roman „Wiederholung“ in der deutschen Übersetzung von Gabriele Haefs aus dem S. Fischer Verlag (Platz 2) wurde im gut besuchten Freiburger Literaturhaus einhellig gelobt. Die norwegische Schriftstellerin beschreibt zunächst die atemlose Suche eines pubertierenden Mädchens nach ausgelassenen Partys und sexuellen Erfahrungen. Dabei wird sie von ihrer kontrollsüchtigen Mutter auf Schritt und Tritt überwacht. Das groteske Scheitern eines „ersten Mals“ und die erfundenen Ausschweifungen im Tagebuch des Teenagers lösen eine Familienkrise aus, die zur frühkindlichen Missbrauchsgeschichte der Ich-Erzählerin führt. Aus den vier Büchern lasen Antje Keil und Sebastian Mirow. Durch den Abend führte Carsten Otte.
    28 February 2025, 11:00 am
  • 4 minutes 9 seconds
    Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt | Buchkritik
    Der Amerikaner Chris Reiter und der Brite Will Wilkes arbeiten seit Jahren als Wirtschaftskorrespondenten in Deutschland. Reiter hat außerdem väterlicherseits Verwandte hier und ist mit einer Deutschen verheiratet, Wilkes kam bereits mit siebzehn Jahren zum ersten Mal hierher und studierte später Deutsch. Ihr Buch „Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt“, entstand aber, wie der Titel nahelegen könnte, nicht in dem Wunsch, rumzumeckern:  Wir möchten Licht auf die sich verdüsternden Zukunftsaussichten und den gefährdeten sozialen Zusammenhalt werfen – nicht aus Schadenfreude, sondern als konstruktiven Beitrag zu einer sich intensivierenden Debatte darüber, welchen Weg die Führungsmacht Europas in Zukunft einschlagen wird. Wir appellieren an die deutschen Bürger, zu der gemeinsamen Unerschrockenheit zurückzufinden, mit der ein Weg aus den Zerstörungen der Nazizeit gebahnt werden konnte. 

    Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt

    Was hält Deutschland nach den Jahren des Wachstums noch zusammen?

    Bereits nach Kriegsende bildete sich heraus, was nach Ansicht der beiden Journalisten Hauptursache für die Misere ist: Nur wachsender Wohlstand hielt das Land zusammen. Nun aber sei es vorbei mit dem Wachstum. Der Sozialhaushalt, der Preis für den Zusammenhalt, schrumpfe und es trete die Spaltung der Gesellschaft immer deutlicher zutage. Reiter und Wilkes zeigen zunächst die Ursachen auf, die zum wirtschaftlichen Abstieg führten, wobei sie immer veranschaulichende Reportageelemente und Lösungsvorschläge einbauen, was das Buch auch für wirtschaftliche Laien gut lesbar macht. Vieles ist bekannt: übermäßige Bürokratisierung, mangelnde Digitalisierung, eklatante Fehlentscheidungen bei Autoindustrie und Deutscher Bahn, Vernachlässigung der Infrastruktur. Und schließlich die falsche Einschätzung der Bedrohung durch Russland, die zu einem energiepolitischen Desaster und der Vernachlässigung der Bundeswehr geführt hat. Alles geschah den Autoren zufolge vor dem gleichen Hintergrund – die Deutschen mögen keine Veränderung. Merkel hätte vor der Wahl 2005 sehr wohl im Blick gehabt, dass Deutschland umfassenden Wandel brauche, aber diese Forderung kostete sie Stimmen:  Merkel und ihr Team nahmen sich diese Lektion zu Herzen. Von nun an war sie eine andere Politikerin und stand nicht mehr für Wandel, sondern für Stabilität. 

    Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt

    Wie die gesellschaftliche Spaltung überwinden?

    Außen-, Energie- und Klimapolitik seien bis heute kurzfristiger Vermehrung des Wohlstandes verpflichtet und es wurde das Ziel verfehlt, Deutschland langfristig wirtschaftlich fit zu machen, urteilen die beiden. So vergrößerte sich die Schere zwischen Arm und Reich, das Bildungssystem ermögliche keinen sozialen Aufstieg, das Gesundheitssystem begünstige Wohlhabende und vor allem sei durch bürokratische Vorgaben und Steuern für die Mehrheit der Menschen anders als in anderen EU-Ländern kein Wohneigentum mehr möglich. Da wollen Reiter und Wilkes ansetzen – mit einem großangelegten, partizipativen Programm für preiswerten Wohnraum, das die gesellschaftliche Spaltung überwinden helfen soll. Die groben Linien skizzieren sie im Buch.  Das Programm bietet eine Hilfestellung bei der Vermögensbildung und könnte zugleich die soziale Ungleichheit bekämpfen. Die Gesellschaft würde auch indirekt davon profitieren, da zusätzlicher Wohnraum den Wohnungsmarkt entspannt. Darüber hinaus würde es die Stimmung im Land heben, denn es wäre ja ein Beleg dafür, dass Fortschritt im traditionsverhafteten Deutschland doch möglich ist. 

    Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt

    Reformen der Vermögens- und Erbschaftssteuer

    Finanzieren wollen sie das Ganze über Reformen der Vermögens- und Erbschaftssteuer.   Ein neues Deutschland während einer sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Krise aufzubauen, wird nicht leicht vonstattengehen. Aber was ist die Alternative? Wenn man diese Probleme nicht angeht, öffnet man den völkischen Nationalisten die Tore noch weiter. 

    Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt

    Chris Reiters und Will Wilkes' Buch “Totally kaputt. Wie Deutschland sich selbst zerlegt“ macht noch weitere Reformvorschläge und es wäre wünschenswert, dass Politik und Gesellschaft sie diskutieren.  
    27 February 2025, 5:30 pm
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