Beim Auftakt dieser Geschichte spielt Zufall eine entscheidende Rolle. „Es begann auf dem Flughafen Kansai, am Gate von Flug KL378 nach Amsterdam."
Oder ist es doch eher das Schicksal, das Jake und Mariko ihren Flug in Osaka verpassen lässt? Zwei Fremde, die in ihrer Trauer vereint sind, unwissend, dass sich ihre Verluste auf verstörende Weise spiegeln. Denn sie stellen fest: Jakes beste Freundin Lena und Marikos Zwillingsbruder Hiroji starben unter denselben geisterhaften Umständen.
Die eine, eine flatterhafte ehemalige Drogenabhängige in London, der andere, ein Butoh-Tänzer in Japan. Kurz vor ihrem Ableben veränderten sie sich, wirkten ekstatisch, gefährlich – ja, beinahe von einer dämonischen Kraft besessen.
Besonders mysteriös ist, „dass bei Hirojis Obduktion ein Situs inversus festgestellt wurde – alle seine inneren Organe waren seitenverkehrt angeordnet. Als Todesursache wurde plötzlicher Herztod angegeben. Wie bei Lena."
Seltsame Todesfälle und eine geheimnisvolle Fotografin
Noch etwas anderes verbindet die Todesfälle, die tausende Kilometer voneinander entfernt geschahen: Lena und Hiroji begegneten kurz vor ihrem Ende einer deutschen Fotografin. Eine geheimnisvolle Frau, die nicht zu altern scheint. Übernatürlich anmutende Todesfälle, eine mysteriöse Frau, deren Spur sich durch die Jahrhunderte zieht.
Eine schaurige Prämisse, bei der man den Roman gar nicht weglegen mag. Und das liegt nicht nur an der an Akte-X-haften Ausgangssituation. Sondern daran, dass Susan Barker ihren Roman gekonnt konstruiert. Die Geschichte entspinnt sich auf sich abwechselnden Erzähl- und verschiedenen Zeitlinien.
Die Zeugnisse der Hinterbliebenen
Einerseits Jakes Ermittlungen. Als ihm klar wird, dass noch mehr Menschenleben unter ähnlich mysteriösen Umständen endeten wie Lenas und Hirojis, führen diese Jake um den halben Globus. Er sammelt Zeugenaussagen verschiedener Menschen, die ebenfalls geliebte Personen durch diese mysteriöse Frau verloren haben.
Die Zeugnisse, die Jake zusammenträgt, sind das Herzstück des Romans. Barker lässt eine Vielzahl von Stimmen zu Wort kommen. Trauernde aus unterschiedlichen Zeiten, Kulturen und soziale Milieus, deren Erlebnisse sich zu einem Mosaik des Unheimlichen fügen.
Tragische Lebensgeschichten aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen
Die Geschichten aus Japan, Leipzig zu DDR-Zeiten, London, Budapest oder New York verbindet der Verlust und die Trauer der Hinterbliebenen. Wiederkehrend ist auch die Tragik, die nicht nur in den Todesfällen, sondern im Leben der Verstorbenen liegt.
Das gelähmte Mädchen im ländlichen Wales, deren streng christlicher, kontrollierender Vater sie von der Außenwelt abschottet. Oder Ursula, mit einem Feuermal im Gesicht gezeichnet. Gefangen im politischen Kontrollsystem der DDR und gefangen in Beziehungen zu egomanischen Künstlern, die sie zum Kunstobjekt entmenschlichen.
Oder Lena, als Kind von der alkoholkranken Mutter vernachlässigt, die den familiär erlernten Kreislauf aus Sucht als Erwachsene nicht entfliehen kann. Für alle Figuren markiert die Begegnung mit der rätselhaften Fotografin einen Moment der Hoffnung. Von ihr werden sie angehört.
Sie verspricht eine Chance, aus den patriarchalen, unterdrückenden Systemen ausbrechen zu können. Ein Lichtblick, den das Böse zerschlägt, denn es erstickt das Progressive.
Gespenstische Fotografien dokumentieren das Unheimliche
Die zyklische Wiederkehr des Unheimlichen, die Unausweichlichkeit, ist in der Struktur des Romans verankert. Jede Erzählung ist ein Fragment, das sich in das größere Bild fügt. Apropos Bild: Bilder und Bildnisse spielen ihre Rolle in „Old Soul“, denn es sind gespenstische Fotos, die die Frau hinterlässt, wie im puritanischen Wales.
Ceridwen in ihrem langen Nachthemd unter dem Wildapfelbaum, das seidige Haar offen über den Schultern, ihr Blick wie unter Hypnose auf die Kamera gerichtet. Der leere Rollstuhl stand hinter ihr, und obwohl sich ihre Füße auf dem Boden befanden, wirkte sie schwerelos, als schwebte sie hinauf in die Falle der Fotografin.
Quelle: Susan Barker – Old Soul
„Old Soul“ entfaltet sich in beklemmender Langsamkeit, präzise und unbestechlich. Bemerkenswert ist dabei die Rolle von Jake, der als Erzähler kaum in Erscheinung tritt – und das ist auch gut so.
Denn nicht er steht im Mittelpunkt, sondern die Stimmen derjenigen, die zurückgeblieben sind. Diese Perspektivenvielfalt und die überzeugenden Lebenswelten in verschiedenen Zeiten und Kulturen, verleihen dem Roman eine fast dokumentarische Qualität.
Ist „Fingernägelknabber-Literatur“ in?
Susan Barkers „Old Soul“ ist eine literarische Gruselgeschichte, so packend, dass sie das Etikett „Fingernägelknabber-Literatur“ verdient hätte. Ist Gruseln in? Die serbisch-österreichische Autorin Barbi Marković gewann im
letzten Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse mit ihrem
Kurzgeschichten-Band „Mini-Horror“. Da erleben das Paar Miki und Mini, das Entsetzen des Alltags, absurd und komisch.
„Old Soul“ dagegen changiert zwischen Schauerroman, Horrorgeschichte und Thriller.
Ein spiegelverkehrter Dorian Gray
Von einer dämonischen Entität erfahren wir in der zweite Erzählebene. Sie spielt im Jahr 2022, im Badlands Nationalpark Süddakota und erzählt von der gesuchten Frau, die ihr nächstes Opfer wie ein Raubtier umschleicht. Die Antagonistin ist ein spiegelverkehrter Dorian Gray.
Während Oscar Wildes legendäre Romanfigur die Last der Vergänglichkeit seinem Porträt überträgt, bleibt Barkers Kreatur ein wandelndes Memento Mori. Fäulnis und Verfall kann sie nur aufhalten, wenn sie zum Zeitpunkt einer bestimmten Planetenkonstellation ein Foto oder eine Zeichnung eines ihrer Opfer erschafft.
Während Dorian Grays Porträt Sünden aufbewahrt, bleibt Barkers Unsterbliche Trugbild. In ihrem langen Leben gelingt es ihr nicht, Bedeutung zu hinterlassen. Nur Verwüstung. Denn sie weiß:
Die beste Methode, unsterblich zu werden, sagt die Frau, ist, nicht zu sterben.
Quelle: Susan Barker – Old Soul
Kunst und Vergänglichkeit als Strategie der Konservierung. Das Gespenstische ist eben mehr als bloße Erscheinung. Und da steckt der Horror von „Old Soul“: in den existenziellen Fragen der Moderne.