SWR2 lesenswert - Literatur

Südwestrundfunk

Hier finden Sie die Beiträge aus den SWR2 Literatursendungen an einem Ort: Die SWR Bestenliste und die SWR2 lesenswert Sendungen Feature, Magazin, Kritik und Gespräch. Mit Buchtipps, Diskussionen, Rezensionen und Neuigkeiten.

  • 4 minutes 9 seconds
    Gipi – Geschichten aus der Provinz
    In Gipis Comic-Welt wird es kaum je richtig hell. Meist ziehen sich hellgraue Aquarellhimmel über menschenleere Landschaften. Überhaupt ist Grau die beherrschende Farbe. Gefühlt herrscht ständig Winter, es schneit oder regnet oder ist kurz davor. Jedes Dorf, jede Stadt gleicht der nächsten. Doch so trostlos Gipis „Geschichten aus der Provinz" auf den ersten Blick wirken – sie gehören zu den eindrücklichsten in der europäischen Comic-Szene. Denn Gipi lotet gekonnt die Dimensionen von Schuld, Loyalität und vor allem Gewalt aus. Obwohl explizite Gewalt selten in den Bildern zu sehen ist. 

    Keine Kämpfe, aber Atmosphäre der Bedrohung 

    Das gilt vor allem für sein Meisterwerk, für das Gipi 2006 den Grand Prix d'Angoulême gewonnen hat, den wichtigsten europäischen Comic-Preis: „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte." Darin lässt er die drei Freunde Stefano, Christian und Giuliano in einem Kriegs-Italien erwachsen werden. Auch wenn in den Bildern nie Kämpfe stattfinden – die Atmosphäre der Bedrohung gräbt sich in ihr Leben und ihre Freundschaft. Erst recht, als sie sich einer Gruppe Milizionäre anschließen. Die Gewalt, die jeden Moment auszubrechen droht, bringt die Unterschiede zwischen den dreien hervor. Sie zeigt, wie stark die soziale Schicht die Sicht auf das Leben prägt.   Stefano: Du hast nie abgedrückt. Nie wirklich draufgehauen! (…) Du bist nicht wie wir. Giuliano: Wie meinst du das, ich bin nicht wie ihr? Stefano: Das weißt du. Du bist nicht wie wir. Du bist anders. Deine Familie hat Geld. Wenn du in Schwierigkeiten steckst, reicht ein Anruf und deine Probleme sind gelöst. 

    Quelle: Gipi – Geschichten aus der Provinz

    Verknappte Stilmittel 

    Gipis Strich zeigt, wie die erfahrene Gewalt sich als Härte in Körper und Psyche einschreibt. Seine Comics beweisen, dass man dafür nicht einmal besonders realistisch zeichnen muss. Die Gesichter seiner Protagonisten umreißt er als Flächen mit wenigen Linien. Vor allem ihr Mund ist nur ein dünner, schwarzer Strich. Und doch ist jede Regung klar erkennbar. Angst, Verachtung, Ungläubigkeit - alles da. Diese Knappheit setzt sich als Stilmittel fort bis in die Dialoge und die Dramaturgie. „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte" bleibt auch knapp 20 Jahre nach dem ersten Erscheinen ein Comic von Weltrang. Nicht alle Kurzgeschichten in diesem Band können dieses Niveau halten. „Zwei Pilze" aus dem Jahr 2005 sieht eher aus wie ein Rohentwurf. Grobe, mit schwarzem Stift hingeworfene Zeichnungen deuten an, dass es für die Hauptfigur um die Trauer nach dem Tod eines Freundes geht; um das komplizierte Verhältnis beider Männer zu den Vätern.

    Racheplan nach Inhaftierung

    Doch was wie ein Auftakt wirkt, endet abrupt. In sich stimmig ist dagegen „Sie haben das Auto gefunden", ein kurzer, verstörender Psycho-Thriller, der ebenso von dem lebt, was er ausspart wie von dem, was er zeigt. Genauso wie „Die Unschuldigen", ausgezeichnet mit dem Max und Moritz-Preis für den besten internationalen Comic. Wieder bewegen sich knapp und kantig gezeichnete Männer durch eine blassgraue Aquarell-Landschaft. Zwei Freunde treffen sich nach Jahren wieder. Einer von ihnen hat lange im Gefängnis gesessen. In Rückblenden, abgehoben von der Handlung als grobe Skizzen in Schwarzweiß, erfahren wir, dass damals Polizeiwillkür im Spiel war. Jetzt will der aus dem Gefängnis Entlassene Rache nehmen.  

    Männliche Abgründe 

    Valerio: Sie stehen unter Hausarrest und sitzen gemütlich zu Hause. Sind aber keine Polizisten mehr. Die Pistolen sind futsch. Sind ganz normale Leute wie du und ich. Aber ich weiß, wo einer von ihnen wohnt. 

    Quelle: Gipi – Geschichten aus der Provinz

    Dann die Überraschung: Aus der Rache wird nichts. Sein Freund hat seinen kleinen Neffen dabei. Und vor dem Kind einen Mord begehen? In der Figur des Jungen gönnt Gipi seinen Männern diesmal einen Ausweg aus der Gewalt.  Wo in Gipis Comics die Frauen bleiben? Am Rand. Obwohl in „Sie haben das Auto gefunden" eine Frau für die entscheidende Wendung sorgt. In den Bildern sind sie Körper, vielleicht noch Stichwortgeberinnen. Gipis Geschichten führen in männliche Abgründe. Aber die sind immer wieder lesenswert.
    27 November 2024, 5:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn
    So richtig gut ging es Manfred Krug zu Beginn des neuen Jahrtausends nicht. Die Folgen eines Schlaganfalls im Jahr 1997 hat er zwar einigermaßen überwunden, doch der Herzschrittmacher drückt, das Treppensteigen ist beschwerlich – und alle Diäten sind vergeblich.   Heute beginne ich wieder von vorn. Bei 118 Kilo fange ich erneut an. Es ist schrecklich. Alt werden ist ein einziges Leiden. 

    Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn

    „Ich beginne wieder von vorn“ lautet der Titel der dritten Tagebuchlieferung von Manfred Krug aus den Jahren 2000 und 2001. Das klingt wie ein Neuanfang, bedeutet aber, nicht nur was das Körpergewicht betrifft, die Wiederkehr des Immergleichen. Und doch ist Manfred Krug entschlossen, mit dreiundsechzig noch einmal durchzustarten: als Sänger. Nicht als Schauspieler. Am 1. Januar 2000 notiert er unmissverständlich:  Es wird das letzte Jahr sein, das mich als Schauspieler sehen wird. Ich kann nicht mehr.

    Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn

    Abschied vom Fernsehen 

    Tatsächlich verabschiedete sich Krug nach über fünfzehn Jahren vom „Tatort“. Die letzten Folgen als Hamburger Kommissar Stoever, die bis zum Sommer gedreht werden, sind eine Qual, die Drehbücher findet er miserabel. Zukünftigen Forschern, die wissen wollen, warum er, Manfred Krug, so beliebt gewesen sei, gibt er den Rat, Filme und Drehbücher miteinander zu vergleichen. Dann wird man ermessen, was er, Krug, eingebracht habe an Witz und Schlagfertigkeit. Wenn er sich abends im Fernsehen sieht, ist er sehr zufrieden mit sich, hält die beachtliche Einschaltquote fest und lässt sich gelegentlich sogar zu einem Glückwunschfax an den mäßig begabten Regisseur hinreißen. 

    Trällerte Duette im „Tatort“

    Der Abschied vom Film fällt ihm nicht schwer. Zu DDR-Zeiten war Krug als Sänger von Schlagern und Jazz-Standards mindestens genauso berühmt wie als Schauspieler. Im „Tatort“ trällerte er zusammen mit seinem Kompagnon Charles Brauer Duette, die nun als CD in die Charts gelangen. Krug legt „Deutsche Schlager“ und anderes nach. Wenn er mit Geschichten und absurden Gedichten auf Lesereise geht – Schriftsteller war er auch –, verlangt das Publikum, er solle singen. Also singt er. Das macht mehr Freude als die Arbeit am Set.   Dass die als Volksaktie platzierte Telekom-Aktie an der Börse abstürzte, machte ihm durchaus zu schaffen, schließlich hatte er dafür geworben. Die Bild-Zeitung veröffentlichte einen Brief Krugs an einen Aktionär, der in einem lustigen Vierzeiler gipfelte.   Manchmal stehn die Aktien hoch / und manchmal stehn sie niedrich, / ein Auf und Ab, grad wie beim Arsch / vom alten Kaiser Friedrich.

    Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn

    „Bild“ hielt das für Verhöhnung der Aktionäre, musste aber schließlich eine Gegendarstellung drucken. In eigener Sache war Krug unerbittlich. Akribisch listete er auf, wer gerade woran und in welchem Alter gestorben ist: „Die Einschläge kommen näher.“ Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit gab ihm eine produktive Distanz zum gesellschaftlichen Leben und zum Weltgeschehen, das er gleichwohl mit großer Neugier verfolgte.  

    Lebenskünstler mit Charme 

    Von heute aus gesehen wirkt das Jahr 2000 wie ein Luftanhalten zwischen Gestern und Morgen. Helmut Kohl steht wegen der Spendenaffäre vor dem Untersuchungsausschuss. Der serbische Präsident Slobodan Milošević wird verhaftet. Putin, frisch im Amt, attestiert Krug „den Gang einer energischen Soldaten-Ente“. Doch mit dem 11. September 2001 beginnt ein neues Zeitalter. Krug ist erschüttert; das kommt nicht oft vor. Die Tagebücher zeigen ihn als Lebenskünstler, der mit seinem Charme über alle Abgründe hinwegsegelte. Auch im Schreiben praktizierte er das, was ihn als Schauspieler und als Sänger so beliebt machte: in jeder Rolle vor allem er selbst, Manfred Krug, zu sein. Es ist so vergnüglich wie lehrreich, ihn mit seinem wachen Blick, seiner Lust an Klatsch und Tratsch, seiner Schnoddrigkeit und seiner auch sich selbst nicht schonenden Ironie durchs Leben zu begleiten.  
    26 November 2024, 5:30 pm
  • 4 minutes 8 seconds
    David Kopenawa, Bruce Albert – Der Sturz des Himmels
    Davi Kopenawa ist ein Mitglied der Yanomami-Indigenen. Ungefähr 29 000 Yanomami gibt es heute in Brasilien, die im weitläufigen Amazonasgebiet leben. Davi Kopenawa hat sich vehement für die Rechte der Indigenen eingesetzt und dafür unter anderem den „Alternativen Nobelpreis“ 1989 erhalten. Doch er ist nicht nur ein Kämpfer für die seinen und für den Erhalt der Artenvielfalt im tropischen Regenwald, nein, er ist auch Schamane.

    Davi Kopenawa – Kämpfer für die Natur und Schamane 

    Wir werden keine Schamanen, indem wir Wild oder Nahrung aus unseren Gärten essen, sondern nur mit den Bäumen des Waldes. Es ist das Yakoana-Pulver, der von den Bäumen ausgeschwitzte Saft, der bewirkt, dass sich die Worte der Geister offenbaren und weithin ausbreiten. 

    Quelle: Davi Kopenawa, Bruce Albert – Der Sturz des Himmels

    Yanomami-Schamanen inhalieren das Yakoana-Pulver, um einen tranceartigen, traumähnlichen Zustand zu erreichen. Dann nähern sich dem Schamanen die „Xapiri“ und führen ihre Tänze auf. „Xapiri“ sind Geisterwesen, sie können in vielen Formen auftreten. Als Tiere oder als Pflanzenwesen, oft sind sie auch menschenähnlich, manchmal verstorbene Ahnen. Das Entscheidende daran: Sie sind die Beschützer des „Waldes“, wie Davi Kopenawa sagt, also Hüter des Regenwaldes im Amazonasgebiet.

    Natur ist keine Verbrauchsware, sondern ein organisch-lebendiges Wesen

    Auf unser westliches Denken übertragen, heißt das: Die „Xapiri“ sind Abbilder der lebendigen Natur – der „Natura Naturans“, der schöpferischen Natur. Die Natur ist nicht einfach ein Objekt, dessen Gesetzlichkeiten bestimmt werden und das man gebrauchen und verbrauchen kann, sondern es ist ein organisch-lebendiges Wesen.   Man verspürt weder mehr Hunger noch Durst. Man kennt weder mehr Schmerz noch Schlaf. Die Geister der Yakoana haben unser Fleisch verschlungen und unsere Augen sind tot. In diesem Augenblick sehen wir eine heftige, blendende Klarheit anbrechen. Die Kohorte der singend auf uns zukommenden Xapiri ist zu erkennen. 

    Quelle: Davi Kopenawa, Bruce Albert – Der Sturz des Himmels

    Hüter des Waldes 

    Initiationsriten der Schamanen sind schon öfter beschrieben worden – etwa in dem prominenten Buch „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“ von Mircea Eliade. Doch was Davi Kopenawa beschreibt, ist Neuland für unser westliches Denken. Denn er erzählt seine gesamte Geschichte: Ein junger Mann, der beschließt Schamane zu werden und alle Stadien der Initiation durchmacht bis er die „Xapiri“ tanzen sieht und sie bei ihm ihr Haus der Geister bauen. Man mag über diese Geisterwesen lächeln, man mag über die Drogen-Trance die Nase rümpfen – doch die westliche Überheblichkeit schwindet beim Lesen von Kopenawas Buch. Denn der Schamane mit seinen „Xapiri“ hat kein anderes Ziel, als Hüter des „Waldes“, also Hüter der Natur zu sein. Und es sind wir, die diese Natur zerstören. Vor allem Goldgräber und Siedler haben im Amazonas-Gebiet den Regenwald zerstört, durch Krankheiterreger und auch mittels roher Gewalt die Yanomami-Indigenen dezimiert. Das ist die andere Geschichte, die in „Der Sturz des Himmels“ erzählt wird.  

    Ein Buch für alle, die Natur als bedrohten und daher schützenswerten Organismus begreifen 

    Mitte der 1970er-Jahre lernte der französische Anthropologe Bruce Albert Davi Kopenawa kennen. Daraus entwickelte sich eine Lebensfreundschaft. Albert lernte die Sprache der Yanomami. Und in jahrelanger Arbeit erzählte ihm Kopenawa seine Geschichte. Albert hat daraus ein Buch in französischer Sprache gemacht. Sicher, ein gewagtes Unternehmen, denn unsere westlichen Sprachen bringen ganz andere Geisterwesen hervor als die Sprache der Yanomami. Aufklärung und Technik versus schöpferische Natur – das wäre die Kurzformel. Genau deswegen ist Davi Kopenawas und Bruce Alberts „Der Sturz des Himmels“ ein unverzichtbares Buch für all jene, die die Natur als bedrohten und daher schützenswerten Organismus begreifen. 
    25 November 2024, 5:30 pm
  • 54 minutes 58 seconds
    lesenswert Magazin: Von menschengemachten Krisen und tierisch unheimlichen Begegnungen. Neue Sachbücher helfen beim Bewältigen.
    Neue Bücher von Jörg Baberowski, Jan Mohnhaupt und anderen.
    24 November 2024, 4:04 pm
  • 9 minutes 20 seconds
    Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich | Buchkritik
    Zu Beginn sollte man einem Missverständnis vorbeugen: Macht und Herrschaft im Zarenreich - dahinter könnte sich womöglich eine zähe Strukturgeschichte verbergen, ein akribischer Röntgenblick durch das gesamte Herrschaftssystem zwischen Baltikum und Wladiwostok bis hinunter ins kleinste Dorf, der auf über tausend Seiten dann wirklich nur absolute Insider interessiert. Zum Glück aber ist dieses dicke Buch alles andere als das. Jörg Baberowski hat eine bewundernswert kenntnisreiche und dennoch gut lesbare, stellenweise sogar fesselnde Geschichte der Zarenherrschaft geschrieben. Sie beginnt um 1700 herum, mit jenem Zaren, der in Russland ein neues Zeitalter einleitete: mit Peter dem Großen.

    Schwerwiegendes Strukturproblem

    Peter wollte den Fortschritt Europas nach Russland bringen. Aber Jörg Baberowski sieht einen ähnlichen Mangel wie unter Peters Vorgängern: Rußland wurde nicht von Königen und Ständen, sondern von Tyrannen und Sklaven regiert.

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    Denn unter Peter und unter seinen Nachfolgern litt das Riesenreich - anders als etwa Frankreich, England oder Preußen - unter einem fatalen Strukturproblem. In Rußland gab es keinen mächtigen, regional verwurzelten Adel mit Grundbesitz, dessen Wert schwer gewogen hätte. Die Adligen waren Knechte des Zaren und zugleich Herren der Bauern. Auf diesem Fundament ruhte das System der Selbstherrschaft.

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    Mit Gewalt auf allen Ebenen, bis hinunter ins kleinste Dorf auf Kamtschatka. Nur so ließ sich das größte Land der Erde zusammenhalten. Dabei kann Baberowski zeigen, wie sich im 19. Jahrhundert durchaus freiheitliche Ideen ausbreiteten. Um 1880 schien in Petersburg gar eine regelrechte Aufbruchsstimmung zu herrschen. Kein anderer als Fjodor Dostojewski beschwor die Mission Russlands, die ganze Menschheit im Frieden zu vereinen. Seine Zuhörer reagierten euphorisch, wie Dostojewski seiner Frau schrieb: Ich kann Dir das Geheul, das Gebrüll der Begeisterung gar nicht beschreiben: Die Menschen im Publikum weinten, Fremde fielen sich in die Arme und brachen in Tränen aus und schworen einander, bessere Menschen zu sein, sich in Zukunft nicht mehr zu hassen, sondern zu lieben. Alle stürzten zu mir aufs Podium, vornehme Damen, Studenten, Staatssekretäre und wieder Studenten – all das umarmte und küßte mich. Alle, buchstäblich alle, weinten vor Begeisterung.

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    Von der westlichen Aufklärung abgeschnitten

    Aber solche Ideen der Freiheit, der Menschenwürde und der Aufklärung schlugen keine Wurzel; und sie kamen für das Riesenreich viel zu spät. Baberowski konstatiert: Die Vorstellung, der Mensch sei ein autonomes Wesen, verbreitete sich in Rußland erst zu einer Zeit, als sich der autoritäre Staat im Leben der Untertanen bereits fest verwurzelt hatte. In Rußland waren Freiheit und Individualität mit der Vorstellung verbunden, eine Person könne nur sein, wer sich dem Staat und seinen Formen widersetzte.

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    Also ein anarchische Totalobstruktion, ähnlich wie sie heute mitunter in sogenannten sozialen Netzwerken en vogue ist. Unter diesen Umständen konnte man für sinnvolle Oppositionsarbeit kaum Anhänger finden. So hielt Kirchenminister Konstantin Pobedonoszew den Liberalen sein pessimistisches Menschenbild entgegen: Pobedonoszew glaubte nicht an die erzieherische Kraft vernünftiger Argumente. Schwach, selbstsüchtig, dumm, gegenüber jeder Vernunft immun seien die meisten Menschen. Demokratie und Rechtsstaat seien in den Ländern des Westens Schöpfungen einer gebildeten, selbstdisziplinierten Elite, die sich auf eine lange Tradition des Individualismus berufen könne. Worauf aber könnten die liberalen Petersburger Eliten schon verweisen?

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    So gab es in Russland lange Zeit weder Parteien noch Gewerkschaften. Keine Organisation, die sich als oppositionelle Kraft tatsächlich auf nennenswerte Teile der Bevölkerung hätte stützen können. Diese Bevölkerung begehrte durchaus auf, wenn ihr etwas nicht passte. Aber, so Baberowski: Die meisten Arbeiter konnten weder lesen noch schreiben, wußten nicht, wie sich Bedürfnisse zur Sprache bringen und durchsetzen ließen. Arbeiter zerstörten Maschinen, verwüsteten Kontore und plünderten Läden, ballten sich auf den Straßen in Massen zusammen. Aber nie kam ihnen in den Sinn, daß sich Gewalt nur dann in produktive Energie verwandeln ließ, wenn man sie in den Dienst von Zwecken und Zielen stellte.

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    Der letzte Zar: machtlos

    So erschöpfte sich Protest in tumbem, ziellosem Aufruhr. Auf der anderen Seite stand eine immer schwächere Monarchie. Zar Nikolaus II. war nurmehr ein Spielball der Interessen und der Intrigen bei Hofe. Alles blieb in der Schwebe, niemand wußte, wem der Zar sein Vertrauen schenken würde. Wie hätte sich unter diesen Umständen ein Gefühl für die Bedeutung rechtsstaatlicher Verfahren durchsetzen können?

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    1905: die erste Revolution

    1905 erlebte Russland seine erste Revolution. Der gerissene Premierminister Sergej Witte schaffte es, Nikolaus Zugeständnisse abzuringen: In seinem berühmten Oktobermanifest machte der Zar sein Reich tatsächlich zu einer konstitutionellen Monarchie. Damit aber hatte er in dem Land, in dem schon so viele Reformen gescheitert waren, keine Chance. Die einen hielten das Oktobermanifest für ein leeres Versprechen, die anderen für einen Verrat an der Autokratie. Seine Versprechungen glätteten die Wogen nicht, sondern verwandelten den Proteststurm in einen Orkan. Es gab in den Jahren der ersten Revolution wahrscheinlich keinen Ort in Rußland, der nicht vom Terror heimgesucht wurde.

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    Im ganzen Land ließen die Bauern ihrem aufgestauten Zorn freien Lauf. Sie wandten sich gegen ihre adligen Herren, steckten deren Schlösser in Brand. In Saratow an der Wolga beobachtete das die damals 20jährige Maria von Bock. Was für eine Ironie der Geschichte. Das erste zerstörte Herrenhaus gehörte jenem liberalen Gutsbesitzer, der gewaltige Summen für die Subventionierung der linken Zeitungen geopfert hatte.

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    Wittes Politik der Verständigung war steckengeblieben. Nur mit rücksichtslos harter Hand brachte Innenminister Iwan Durnowo die Lage unter Kontrolle. Ohne die Entschlossenheit, ja Skrupellosigkeit Durnowos aber wäre der zarische Staat wahrscheinlich schon im Dezember 1905 zusammengebrochen.

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    Reformer ohne Chance

    Er hielt sich noch knapp zwölf Jahre. Baberowski weiß noch von hoffnungsvollen Ansätzen zu berichten: Die Gewalt nach der Revolution habe die Liberalen zur Einsicht gebracht, dass sie, statt im Parlament geräuschvoll Fundamentalopposition zu betreiben, mit dem Zaren und seiner Regierung verhandeln mussten. Dann konnten sie Zugeständnisse erreichen. Auf der Regierungsseite kam ihnen der neue Ministerpräsident Pjotr Stolypin entgegen. Stolypin legte nicht nur dem Parlament, sondern auch dem Zaren Fesseln an. Witte hatte das Zarenreich in eine konstitutionelle Monarchie verwandelt. Stolypin bewahrte sie vor dem Untergang.

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    Aber Stolypin wurde ermordet, 1911 in Kiew. Mit diesem Attentat schließt das Buch. Man legt es ungern aus der Hand. Reizvoll zu lesen wäre eine Fortsetzung: zu Russlands Weg in den Ersten Weltkrieg, zur Februarrevolution 1917, schließlich zu der Katastrophe für die Menschen in Russland, die übrigens von kaiserlich deutscher Seite eingefädelt wurde: Lenins Oktoberrevolution mit dem Beginn der jahrzehntelangen sowjetischen Tyrannei. In einem vergleichsweise knappen Buch hat Baberowski sich vor drei Jahren schon damit befasst. Hoffentlich schreibt er auch sein Monumentalwerk künftig noch dahingehend weiter. Für den Moment beschränkt er sich auf eine leise Mahnung: Man wird die Revolutionen der Jahre 1905 und 1917, Lenins Terror und Stalins Gewaltherrschaft, nicht verstehen, wenn man sie nur als Ausdruck eines Ideenkonfliktes und nicht auch als Versuche begreift, eine bedrohte Ordnung vor dem Zerfall zu bewahren.

    Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich

    Nachdem durch immer neue Gewaltorgien im ganzen Reich ganze Generationen traumatisiert worden waren.

    Russische Tragödie

    So erzählt dieses höchst lesenswerte Buch letztlich eine bedrückende Geschichte: Die Geschichte eines riesigen Landes, in dem enormes Potential steckte, in dem aber immer wieder Chancen verpasst wurden. Weil die Monarchie zumeist keine Ahnung hatte, wo ihre Untertanen der Schuh drückte, und nur Härte kannte. Weil eine liberale Opposition viel zu lange unrealistische Ziele verfolgte. Weil das zaristische Establishment Reformern in der Regierung Knüppel zwischen die Beine warf. Und weil die Masse der Bevölkerung von Politik nichts wissen wollte. Vielleicht war dieses Land in seiner Vielfalt aber auch zu groß, um anders als mit Härte zusammengehalten zu werden. Zwischen den Zeilen kann man bei Baberowski herauslesen, dass er in den Reformjahren nach 1907 Chancen sieht, Russland tatsächlich in eine stabile konstitutionelle Monarchie zu verwandeln. Der Erste Weltkrieg aber setzte all diesen Versuchen ein Ende. Und so war er mit seinen Folgen vielleicht für Russland noch mehr als für die übrige Welt die vielzitierte Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Mit Folgen bis heute.
    24 November 2024, 4:04 pm
  • 5 minutes 21 seconds
    Florian Werner (Hg.) – Meine bessere Hälfte. Musiker*innen erzählen über ihre Instrumente | Buchkritik
    Anne-Sophie Mutter spielt ihre Stradivari von 1710, die außer ihr selbst (und hin und wieder dem Geigenbauer) niemand auch nur anfassen darf. Sie beschreibt in ihrem Text auch, wie sie selbst als Virtuosin jede Violine erst erkunden muss: „In welchem Winkel setze ich den Bogen auf? Mit wie viel Druck spiele ich, und mit wie vielen Haaren? Auf welcher Höhe setze ich den Bogen an, und wie wird das Instrument darauf reagieren? Die Geige macht also nicht, was ich will – ich muss tun, was die Geige will!“ Oh ja, Instrumente stellen Ansprüche. Das ähnlich antike Cello von Steven Isserlis sitzt im Flieger stets neben ihm (und zwar am Fenster!); tourende Pianisten dagegen wie Michael Wollny – die müssen mit eher lockeren Bindungen leben: „Auf jeder Bühne ein neues Instrument, jeden Abend eine neue bessere Hälfte. Denn: ich reise nicht mit meinem Instrument. Ich treffe es an.“

    Erfahrungen von Musikern vieler Genres und Generationen

    Es ist eine bunte Runde, die Florian Werner hier zusammengestellt hat: „Das Ganze fing eigentlich schon an als so eine Art Fanboy-Projekt, da sind natürlich viele Musikerinnen und Musiker dabei, die ich einfach schon seit Jahrzehnten wahnsinnig toll finde. Tabea Zimmermann, die Bratschistin, oder Budgie, der Schlagzeuger von Siouxsie & The Banshees, oder eben Jochen Distelmeyer von Blumfeld. Und dann hab ich natürlich geschaut, dass man da so eine große Bandbreite von Instrumenten, von Persönlichkeiten und natürlich auch von musikalischen Genres hat.“ Die angesprochene Bratschistin Tabea Zimmermann etwa erzählt, wie sie ihre künftige Profession schon als Kleinkind mit zwei Kochlöffeln simuliert hat und wie sie, viel später, mit einem Instrumentenbauer ihre perfekte Viola entwirft. Auch Florian Werner spielt Bratsche, das war natürlich der Anstoß zum Buch. So Florian Werner: „Es ist schon so eine Hassliebe, so eine Beziehung mit Höhen und Tiefen zu dieser Bratsche, die, seitdem ich zehn oder zwölf bin, immer in meinem Leben ist, die ich überall dabei hatte, in USA, in Russland, in Ungarn, weiß nicht wo, also die hat mich sehr viel begleitet, und trotzdem immer wieder, wenn eben etwas nicht gelingt auf dem Instrument, und das ist sehr häufig leider bei mir der Fall, dann hat man natürlich so Aggressionen, die man auf dieses Instrument projiziert, also fast als wär das so’ne Partnerin oder ein Partner, wo man denkt, so: Mensch, was ist mit dir los eigentlich, warum antwortest du mir nicht so, wie ich es mir doch wünsche.“

    Lustige Anekdoten und historische Betrachtungen

    Die Texte nun (meist von den Musizierenden geschrieben, teils im Interview gewonnen) sind auch formal vielfältig: Andreas Martin Hofmeir erzählt in lustigen Anekdoten, wie seine Tuba Fanny zu ihren Namen kam und was grobe Zöllner ihr angetan haben; Cellist Steven Isserlis oder der Sitar-Fan PeterLicht dagegen haben eher kultur­historische Abhandlungen verfasst. Jochen Distelmeyer von der Hamburger Band Blumfeld - er stilisiert seine Gitarre nicht ganz uneitel zur Waffe des Widerstandskämpfers und zum Werkzeug des Sinnsuchers; Inga Humpe vom Elektropop-Duo 2raumwohnung – sinniert schwärmerisch von den Ausdrucks- und Täuschungsmöglichkeiten der Stimme und ihrem gesellschaftpolitischen Potenzial: „Singen Sie in einem Chor! Chorsingen bedeutet, dass man lernt, sich selbst und gleichzeitig anderen zuzuhören. Und das ist eigentlich die Grundvor­aussetzung für ein Zusammenleben mit anderen Menschen.“

    Vom Glück des Musikmachens

    Wir lernen außerdem, welch komplexes Instrument das Tonstudio ist – und welch beeindruckendes ein - Pferdeskelett. Und dass manchmal auch Tinnitus oder orthopädische Beschwerden dazugehören, Saxophonist Benjamin Koppel hat bei­des und noch eine Metallallergie; er spielt trotzdem, unter Schmerzen und mit bis­weilen blutigen Fingern. Und so handeln am Ende all diese unterschiedlichen Texte gleichermaßen von der Faszination des Musikmachens; vom Glück, ein Instrument zu spielen. Es ist eine inspirierende Lektüre. Florian Werner meint: „Wenn man weiß, wie die Beziehung zwischen Musikerin/Musiker und Instrument besteht, dann hört man auch die Musik anders und weiß sie auch anders zu schätzen – und bekommt hoffentlich auch selber Lust zu musizieren. Also mir geht’s zumindest so, dass ich mich gerade jeden Morgen mit ganz neuem Schwung an das Klavier setze und dort… dilettiere.“
    24 November 2024, 4:04 pm
  • 14 minutes 53 seconds
    Lyndal Roper – Für die Freiheit. Der Bauernkrieg 1525 | Gespräch
    Die Bäuerinnen und Bauern hatten damals eine Idee, von der wir heute lernen können, meint die australische Historikerin Lyndal Roper.
    24 November 2024, 4:04 pm
  • 6 minutes 23 seconds
    Peter Heather & John Rapley – Stürzende Imperien. Rom, Amerika und die Zukunft des Westens
    Wir spiegeln uns in Rom, und es ist gerade der Untergang des Reichs, der immer wieder zur Folie unserer eigenen Gegenwart herangezogen wird. So auch in „Stürzende Imperien“ von Peter Heather und John Rapley. Peter Heather ist Althistoriker und unterrichtet am Kings College in London, er ist ausgewiesener Experte für die Spätantike, John Rapley ist Ökonom in Cambridge und Fachmann für das Gebiet Globalisierung und Ungleichheit. Beide lehnen die schon klassische Erzählung ab, die es längst ins Arsenal der rechtspopulistischen Agenda gebracht hat, dass Rom an seiner eigenen Dekadenz und an einer Barbareninvasion gescheitert sei. Nein, sie bestehen darauf, dass das antike Rom sich nach der Krise des 3. Jahrhunderts wieder berappelt hat und durch die Reichsteilung, die Tetrarchie, eine Verwaltungsreform und eine modifizierte Besteuerung um 400 u. Z. sogar auf dem besten Weg in eine goldene Zukunft gewesen sei.

    Ein Lebenszyklus eines Imperiums

    Aber warum dann trotzdem der nicht zu bestreitende Kollaps wenige Jahrzehnte später? Die beiden Autoren entwickeln so etwas wie einen Lebenszyklus eines Imperiums, das sie geopolitisch aufteilen in das eigentliche Machtzentrum, dann die Provinzen noch innerhalb des Reichs, und die Peripherie außerhalb der Grenzen. Was sie beobachten, ist eine zunehmende Bedeutungsumkehrung von Zentrum, Provinz und Peripherie. Die Waren- und Menschenströme in die Randgebiete stärken diese Bereiche wirtschaftlich so, dass aus der abhängigen Provinz bedeutende Städte wie Trier oder York in England werden, wogegen die ökonomischen Daten von Italien nach unten zeigen. Und während die ersten Schlachten mit den, wie die Römer sie nennen, Barbaren schon mal verloren gehen können, siehe die Varus-Schlacht im Jahr 9 unserer Zeit, weil die germanische Bündnisse einfach nach den Siegen wieder zerfallen, sehen sich die Römer 300 Jahre später ganz anderen Gegnern gegenüber.

    Militarisierte Strukturen in der Peripherie

    In der Peripherie haben sich feste, stark militarisierte politische Strukturen gebildet, es gibt Könige, gut ausgebildete Heere, die von ihren römischen Feinden gelernt, ja sogar als Foederati für den römischen Kaiser gekämpft haben – ein ganz spezieller Wissenstransfer, der das Zentrum schwächt und die Ränder stärkt. Diese stabilen Verbände tragen die Namen, die ihnen die frühere Geschichtswissenschaft gegeben hat, Westgoten, Ostgoten, Vandalen, Alanen, obwohl man sie heute nicht mehr Völker nennen würde. Sie sind nur unter großem militärischem Aufwand kontrollierbar, wenn überhaupt, was natürlich die Finanzlast für den Kaiser wiederum erhöht.

    „Einen menschlichen Tsunami“: der Hunnensturm

    Ein Teufelskreis. Aber der entscheidende Schock ist das Auftauchen der Hunnen, die wohl aus klimatischen Gründen gen Westen stoßen und die Peripheriebewohner hinein ins Reich treiben. „Einen menschlichen Tsunami“ nennen Heather und Rapley den Hunnensturm. Nun befehlen die fremden Herrscher gleichsam Enklaven im römischen Reich mit dem Effekt, dass lokale Großgrundbesitzer sich ihnen zuwenden und lieber vor Ort die Steuern zahlen als einem fernen Zentrum. Eine Finanzkrise im Kernbereich ist unumgänglich.

    Die Geschichte des Westens

    Heather und Rapley deuten nun auch die Geschichte des Westens nach diesem Schema, was manchmal nur mit einem etwas grobem Keil gelingt, schon weil es den Westen als politische Einheit nicht gibt. Die großen Player der Neuzeit entstehen jeweils an den Rändern eines Reichs, die Niederlande folgen Spanien und Portugal, dann entsteht das britische Empire, mit dem Ableger USA, der nach dem 1. Weltkrieg die globale Macht innehat, wenn man denn Russland etwas aus den Augen verliert. Und heute? Sind die einstigen Kolonien bzw. Peripherien wie Indien, Südkorea, Brasilien nach Heather und Rapley die neuen Boom-Staaten, was die wirtschaftlichen Daten nicht immer hergeben, während der alte Westen unter geringen Wachstumsraten, enormem Schuldenstand und demographischer Unwucht stöhnt.

    Wer sind die Hunnen von heute?

    Und China? China hat es zum zweiten Hegemon gebracht, zur anderen Großmacht wie zu Roms Zeiten das Sassanidenreich in Persien. Aber während damals die entscheidende Währung das knappe Land war, heißt sie heute Geld, das scheinbar unbegrenzt zur Verfügung steht. Darum ist die kritische Frage: Wer sind die Hunnen von heute? Wer zerstört die fragile Balance? War es Corona? Oder sind es doch die sich auftürmenden Schulden, weil nur mit viel Geld die gesellschaftlichen Konflikte noch zu übertünchen sind? Ganz klar wird das nicht. Politisch sind Heather und Rapley wackere geistige Sozialdemokraten. Sie glauben zwar nicht mehr an ein „Make den Westen great again“, aber sehr wohl daran, dass eine kluge Außenpolitik es ermöglicht, zwei Hegemonialmächte zum gewinnbringenden und fairen Ausgleich zu bringen, nämlich China und die USA, und eine clevere Innenpolitik mit einer stärkeren Besteuerung der Vermögen, nicht der Einkommen, dem Staat die Gelder zur Verfügung stellt, um einen sozialen Ausgleich zu schaffen.

    Kein lachender Dritter

    Das liegt zweifelsohne nicht im Zeitgeist. Der erinnert eher an die Verzwergung des oströmischen Reichs, das sich zusehends mit dem persischen Imperium kriegerisch verkeilt hatte, wodurch es einen lachenden Dritten gab, die unter der Fahne des Islam neu vereinigte arabische Welt, der die beiden erschöpften Streithammel nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Wenigstens ist im Augenblick ein lachender Dritter nicht in Sicht.
    24 November 2024, 4:04 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Francesca Melandri – Kalte Füße | Buchkritik
    Francesca Melandri stellt in ihrem Buch viele kluge Fragen über Krieg und Frieden, aber über allem steht die Überlegung, ob sich Geschichte tatsächlich wiederholen kann. Melandri sagt: „Ja“. Zum Beweis zeichnet sie in ihrem Buch „Kalte Füße“ frappierende Parallelen nach, die sie zwischen dem Faschismus des 20. und des 21. Jahrhunderts erkennt, wenn man die Ukraine in den Blick nimmt. Erst kamen die Nazis, dann Putin, der seinen Krieg groteskerweise als Feldzug zur Entnazifizierung der Ukraine tarnt.  

    Was ist Faschismus? 

    „Was ist Faschismus?“, fragt Melandri den italienischen Widerstandskämpfer Massimo Rendina:   Faschismus ist kein politisches Phänomen‘, erklärte er mir. ‚Faschismus ist eine Geisteshaltung‘. Und für dich verwandte er den Begriff anständiger Faschist. Seither bin ich verwirrt, Papa.

    Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße

    Melandri hat weite Teile ihres Buches in der Form eines Zwiegesprächs mit ihrem verstorbenen Vater Franco verfasst. Aber was soll ein anständiger Faschist sein? Rendina war 1942 mit dabei, als Franco Melandri als Kommandeur einer Truppe so genannter „Gebirgsjäger“ in der heutigen Ukraine gegen die Russen kämpfte. Die „Alpini“ waren Verbündete Nazideutschlands. Rendina stieg aus. Melandri blieb dabei, erkrankte schwer und wurde in Rom als Journalist beim Faschistenblatt „Gazzetta del Popolo“ eingesetzt. Dort trafen sich die beiden wieder: Rendina fungierte als Spion der Partisanen, Melandri schrieb seine Artikel, die mitunter neben der Tageslosung von Goebbels standen. Aber der Vater hat Massimo Rendina nicht verraten.  

    Licht- und Schattenseiten eines Vaters 

    Francesca Melandri liebt ihren Vater sehr. Der literarische Teil ihres Buches behandelt Konflikt und Qual einer Tochter, die mit dem Unterschied klarkommen muss, was der Vater für sie war und was er in der Welt draußen womöglich angerichtet hat. Seite für Seite folgen wir der Autorin in ihrer steigenden Verzweiflung.   Was hast du dir nur dabei gedacht, Papa?

    Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße

    Melandri fährt in die Ukraine, um zu den Orten zu recherchieren, an denen ihr Vater Krieg führte. Wir kennen ihre Namen aus den Nachrichten: Isjum, Charkiw, Mykolajiwka. Für seinen Einsatz in Mykolajiwka erhielt Franco Melandri einen Tapferkeitsorden in Silber. Die Tochter, so lesen sich ihre hochemotionalen Ausführungen zum Krieg dort heute, ist entschlossen, vielleicht auch stellvertretend für den Vater, dieses Mal auf der richtigen Seite zu stehen. Die Russlandfreunde unter den Linken sind ihr suspekt geworden.   Was bringt es, uns als stolze Antifaschisten zu fühlen und Bella Ciao zu singen, aber dann einen lupenreinen Faschisten wie Putin nicht zu erkennen, wenn er direkt vor uns steht?  

    Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße

    Der Wolpertinger unter den Büchern 

    „Kalte Füße“ ist eine rasante Mixtur vieler Textformen. Neben der Zwiesprache mit dem Vater, gibt es kluge essayistische Passagen, zum Beispiel über Hartnäckigkeit und Heldentum, eine Nacherzählung der Familiengeschichte der Melandris, Protokolle, Reportagen, historische Ausführungen, etwa zu einem sibirischen Lager, in dem einst Solschenizyn gefangen war und heute russische Deserteure eingesperrt sind.  Da ist es wieder, Putins Projekt, das zukünftige Russland in die Windungen der Vergangenheit einzuwickeln. 

    Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße

    Eine Tragödie, die sich als Farce wiederholt 

    Der Titel „Kalte Füße“ bezieht sich auf zwei Dinge: einmal konkret auf die nahezu erfrorenen Füße der italienischen Gebirgsjäger 1942 in der Ukraine und zum anderen auf die symbolisch kalten Füße der Westeuropäer, gegen Putin Partei zu ergreifen.   Geschichte wiederholt sich, so Francesca Melandris Grundthese. Und mit dieser Ansicht ist sie nicht allein. „Hegel bemerkte, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen“, schreibt Karl Marx im Jahr 1852 Hegel habe aber „vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“  
    21 November 2024, 5:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Jonas Grethlein – Hoffnung
    Hoffnung habe in der Polykrise der Gegenwart Hochkonjunktur, schreibt Jonas Grethlein zu Beginn seiner „Kulturgeschichte eines Weltverhältnisses“ und stellt sich die Frage, woher dieses Gefühl eigentlich kommt. Oder ist es gar kein Gefühl, sondern eine Strategie, über welche die menschliche Ratio frei verfügen kann – zum Trost, zur Bestärkung oder gar zur Flucht vor und aus den Bedrängungen des Lebens? 

    Unterschied zwischen Hoffnung und Utopie 

    In acht Kapiteln spannt Jonas Grethlein einen Bogen von der homerischen Antike bis ins 21. Jahrhundert und zeigt dabei die Facetten eines Begriffs, der in die Zukunft weist: So wie die Erinnerung sich der Vergangenheit, so wendet sich die Hoffnung der Zukunft zu. Aber was unterscheidet die Hoffnung von der Utopie?   Utopie ist ganz wörtlich genommen der Nicht-Ort. Es handelt sich um Idealvorstellungen, die sich so nicht realisieren lassen. Hoffnungen haben dagegen immer etwas als Gegenstand, was einem als möglich und prinzipiell realisierbar erscheint.

    Quelle: Jonas Grethlein – Hoffnung

    Es geht offenbar um eine beidseitige Beeinflussung: „Hoffnung“ ist von der jeweiligen Kultur geprägt – Grethlein zitiert den römischen Historiker Sallust, der in der Hoffnung einen Ausdruck eines Sittenverfalls sieht, spiegele sie doch die Gier römischer Hegemonialpolitiker; aber umgekehrt prägt sie auch das Denken der Menschen und führt zu einem kulturellen Paradigmenwechsel: Nur drei Generationen nach Sallust steht der positiv konnotierte Hoffnungsbegriff im Zentrum der Lehre des Apostels Paulus und wird zur folgenreichen Begründung einer Religion, welche die Hoffnung zur Tugend erhebt. Ist es vermessen, von einem Anzeichen des Endes der Antike durch diese paulinische relecture des lateinischen Begriffs „spes“ bzw. des griechischen Begriffs „elpis“ zu sprechen, die beide mit Hoffnung übersetzt werden?   Paulus ist in der Geschichte der Hoffnungen eine wichtige Zäsur; war Hoffnung davor in der Antike etwas eher Ambivalentes, so wird Hoffnung jetzt als die Hoffnung auf das Ewige Leben ganz stark und positiv aufgeladen.  

    Quelle: Jonas Grethlein – Hoffnung

    Hoffnungsbegriff als treibende Kraft in der Geschichte 

    Aber auch im Hochmittelalter erweist sich der Hoffnungsbegriff und seine Wandlungen als treibende Kraft: Inmitten einer durch ein nachgerade in Stein gemeißeltes ordo-Denken geprägten Epoche entfaltete sich durch die christliche Hoffnung eine eigene Dynamik: Es war die Geschichtstheologie des Joachim von Fiore, die laut Jonas Grethlein die diesseitige Zukunft als Raum für weitreichende Hoffnungen eröffnete – was aber eben auch zu utopischen Zukunftsentwürfen führte. Letztere haben ein Charakteristikum des Hoffnungsbegriffs geschwächt – nämlich die Unverfügbarkeit. Oder mit den Worten Jonas Grethleins: „Hoffen ist an Kontingenz gebunden, sie entfaltet sich im Raum des Anders-Sein-Könnens und zielt auf Unverfügbares.“ Somit ist Hoffnung inkompatibel mit den großen geschichtsdeterministischen Ideologien des 19. Jahrhunderts: Weder die Revolutionsvorhersagen des Marxismus noch die Idee, dass der Nationalstaat das Telos der Geschichte sei, können – so Grethlein – mit Hoffnung assoziiert werden, weil sie die Geschichtlichkeit des Menschen leugnen und Kontingenz durch die Notwendigkeit des Fortschritts ersetzen.  Und was wird aus der Hoffnung im Schatten der Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts? Das vorletzte Kapitel öffnet ein Panorama, das von Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ über Albert Camus‘ Skepsis gegenüber jeglicher Hoffnung bis hin zu Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung reicht. Wo aber bleibt – so fragt Grethlein – die Hoffnung im Konzentrationslager? Offenbar droht der Hoffnung angesichts von Auschwitz das gleiche Schicksal, das Adorno für die Poesie diagnostizierte, nämlich die Unmöglichkeit. 

    Hoffnung motiviert Handeln 

    Und doch gibt es Hoffen im Anthropozän – so der Titel des letzten Kapitels; aber es gibt sie womöglich nur um den Preis ihrer Funktionalisierung: „Hoffnung motiviert nicht nur Handeln, sie trägt auch zur Zufriedenheit bei“, heißt es gegen Ende eines Buchs, das Hoffnung – daran sei erinnert – eingangs als Weltverhältnis charakterisiert. Angesichts von Klimakrisen, Kriegen und politischen wie sozialen Verwerfungen ist die Hoffnung eine Herausforderung. Jonas Grethleins Buch ist ein Plädoyer dafür, sie anzunehmen. 
    20 November 2024, 5:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt
    Die Anwohner sind längst gegangen. Sie fliehen vor dem Hochwasser. Nur eine nicht: Die 81-jährige Gudelia harrt aus in ihrem Haus. Sie will es nicht den drohenden Fluten überlassen, nicht dem Durcheinander danach.  »In dem Haus ist mein ganzes Leben.« Er schnaubt. »In dem Haus ist dein ganzes Leid.« Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und geht. Ich bleibe zurück, sehe ihm hinterher. Der Himmel zieht zu. Wir haben beide recht. 

    Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt

    Gudelia – das wird in Thomas Knüwers Kriminalroman von Anfang an deutlich – hat etwas zu verbergen. Was genau? Das erzählt Knüwer auf drei Zeitebenen: Im Jahr 1984 stirbt Gudelias 15-jähriger Sohn Nico, nachdem er mit Schulfreunden auf einer Party war. Im Straßengraben findet sie ihn. „Schwuchtel“ steht auf seinem Unterarm mit Edding geschrieben. Vierzehn Jahre später – also 1998 – zerbricht ihre Ehe. Ihr Ehemann hat schon immer viel getrunken. Aber seit dem Tod seines Sohnes hat er kaum etwas anderes gemacht. In der Erzählgegenwart 2024 setzt das Hochwasser ein. Gudelia bewacht ihr Haus und sieht in der Nacht die Leichen zweier Menschen, deren Hände mit Kabelbindern gefesselt sind.  

    Psychogramm einer trauernden Frau 

    Dieser Kriminalfall um die zwei gefesselten Menschen wird in „Das Haus in dem Gudelia stirbt“ eher beiläufig abgehandelt, er wäre auch nicht nötig gewesen: Die Vergangenheit ist spannend genug. Man ahnt zwar früh, was Gudelia verbirgt. Das gesamte Ausmaß überrascht aber doch. Gudelias Tun wird mit zu vielen unnötigen Details geschildert, die für einige Seiten das zuvor gekonnt gehaltene Erzähltempo verlangsamen. Der Wunsch, alles zu erklären, nimmt dem Wahnsinn Gudelias die verzweifelte Unerbittlichkeit. Überwiegend aber gelingt es Knüwer, mit knappen Sätzen und präzisen Beobachtungen Atmosphären und Szenen entstehen zu lassen.   Beim Abendessen war draußen kein Mensch mehr. Die Straßen hatten Autos durch Wasser ersetzt. Ich habe mir ein Spiegelei gebraten und auf eine Scheibe Graubrot mit Butter und Schinken gelegt. Strammer Max. Habe ich Heinz und Nico oft gemacht. Schnell, einfach, sättigend. Für Nico mit Ketchup, für Heinz mit Bier. 

    Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt

    Horror in der Provinz  

    Mit klug gewählten Details entwirft Knüwer Gudelias Leben in dem fiktiven kleinen Dorf Unterlingen, irgendwo im Süden Deutschlands. Mit einer Zeitung namens „Donau-Nachrichten“, ein bisschen Landwirtschaft, einer Kirche und einem Pferdehof. Gudelia dachte, sie weiß, wie es sein würde, mit Mann und Kind alt zu werden. Nicos Tod hat alles erschüttert. Das spiegelt sich in der bündigen Erzählweise, den zwischen den Jahren wechselnde Kapiteln und den kurzen, bruchstückhaften Passagen, die zugleich eine dräuende Spannung aufbauen. Knüwer, gelernter Journalist und Inhaber einer Digital- und Kreativagentur, erkennt eine Pointe, wenn sie sich bietet, strapaziert sie aber nicht über. Vielmehr durchbricht er damit für einen Moment das schleichende Grauen dieses Dorfhorrorromans.   Niemand darf hier sein. Niemand. Hinter dem Garten stehen drei Fichten. Bernhards Rhododendron ist gut gewachsen. Höher, als ich groß bin. Die Blätter glänzen braun, sie stinken. Der Garten hat die Fluten überstanden und mit Schönheit bezahlt. Die Pflanzen sind stark. Sie verbergen, was der Riss offenbart – was ich seit vierzig Jahren verstecke. 

    Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt

    Das Szenario, das Thomas Knüwer entwirft, ist erschreckend nah an der Realität, nicht nur eines Lebens in einem Dorf. Erst im Sommer gab es Hochwasser in Süddeutschland. Die Bilder von Wassermassen, überfluteten Häusern und zerstörten Gebäuden übermitteln aber nicht den bestialischen Gestank, der sich durch überflutete Gebiete zieht. In Unterlingen entstanden durch Schweinekadaver, Dreck und übergelaufene Kanalisation. Für Gudelia ist dieser Gestank eine Waffe. Er hält unerwünschte Eindringlinge fern. Doch gegen das Wasser gibt es kein Mittel. Unerbittlich dringt es in jede Ritze des Hauses ein. Und spült in diesem packenden Kriminalroman die ganzen dreckigen Geheimnisse nach oben.
    19 November 2024, 5:30 pm
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