SWR2 lesenswert - Literatur

Südwestrundfunk

Hier finden Sie die Beiträge aus den SWR2 Literatursendungen an einem Ort: Die SWR Bestenliste und die SWR2 lesenswert Sendungen Feature, Magazin, Kritik und Gespräch. Mit Buchtipps, Diskussionen, Rezensionen und Neuigkeiten.

  • 4 minutes 9 seconds
    Constance Debré – Love me tender
    Constance Debrés autofiktionaler Roman „Love me tender“ handelt von einer radikalen Entsagung und beginnt so:  „Warum sollte die Liebe zwischen einer Mutter und einem Sohn nicht genau wie jede andere sein? Warum sollten wir nicht aufhören können, einander zu lieben? Warum sollten wir uns nicht trennen können? Warum nicht ein für alle Mal auf die Liebe pfeifen, die sogenannte, in all ihren Formen, auch dieser?“  

    Schreiben, Schwimmen und Sex 

    Seit er weiß, dass sie Sex mit Frauen hat, entzieht der Exmann ihr den gemeinsamen achtjährigen Sohn. Zu dem Zeitpunkt hat die Erzählerin bereits alles hinter sich gelassen. Den Job als Anwältin in Paris, die feste Wohnung, materiellen Besitz. Von nun an konzentriert sie sich aufs Grundlegende. Schreiben. Und Schwimmen. 40 Minuten Kraul, jeden Morgen. Sie taucht ein in Chlor, um sich zu wappnen gegen die Zumutungen, mit denen der Kampf ums Sorgerecht sie konfrontiert. Dazu Sex. Beides körperliche Aktivitäten, bei denen man, so sagt sie, ausnahmsweise die Klappe hält und aufhört zu lügen. Ihren Körper formt sie zu dem einer Kriegerin.   „Ich trainiere, um unzerstörbar zu werden. Ich muss mich vergewissern, dass ich es bin.“  In einem Radiointerview auf France Culture erklärt Constance Debré es so:    „Si le corps a beaucoup d’importance dans ce livre, c’est tout simplement parce que c’est dans le mouvement de la liberté – on sait très bien, c’est toujours la contrainte de la liberté, c’est une contrainte sur le corps. Donc à un moment où ce personnage qui est la narratrice qui est un peu moi, essaie de devenir plus libre évidemment elle fait plus usage de son corps. C’est tout. Que ce soit par le sport ou par l’amour.“   „Der Körper spielt in meinem Buch eine so große Rolle, weil es um das Streben nach Freiheit geht. Gesellschaftlicher Zwang ist ja immer ein Zwang in Bezug auf den Körper. In dem Moment, in dem die Erzählerin, in der etwas von mir selbst steckt, sich zu befreien versucht, nutzt sie ihren Körper. Sei es durch Sport oder durch Sex.“ 

    Quelle: Constance Debré – Love me tender

    Im Revier der Männer wildern 

    „Love me tender“ liest man mit einer Mischung aus Faszination und Unbehagen. Unbehagen angesichts des offen zur Schau gestellten Machismo einer Frau, die auf dem Weg ihrer inneren Befreiung andere Frauen als Steigbügel benutzt. Es ist nicht Lust, die sie treibt.  „Was mich an der Homosexualität interessiert, sind nicht die Frauen, die ich ficke, sondern die Frau, die ich werde.“   Da ist aber auch Faszination, weil Constance Debré nicht nach unserer Zustimmung verlangt und mit ihrer Darstellung weiblicher Promiskuität in einem Revier der Literatur wildert, das sonst von Männern bewirtschaftet wird.  „Finito, die Arbeit, die Wohnungen, die Familien. Ihr glaubt nicht, wie gut das tut.“  Und auch die Sprache zieht in den Bann. Drei Prozent der Arbeit am Text sei Schreiben, der Rest Überarbeitung, hat Constance Debré einmal gesagt. Ihre geschliffenen Sätze in ein präzises Deutsch zu bringen – das ist Max Henninger hervorragend gelungen. Die Unnahbarkeit und der Hochmut, auch die Härte dieser Frau, die sich als zarten Schriftzug ‚fils de pute‘ hat eintätowieren lassen, werden greifbar.  „Hurensohn, steht auf meinem Bauch, wer mit mir ins Bett geht, hat das gelesen, das sind die Geschäftsbedingungen, Schätzchen.“ 

    Ich selbst sein, um jeden Preis 

    Dann wieder Sätze voller Schmerz über die Zurückweisung durch ihren Sohn und ihrer beider Entfremdung:   „Was ist das für eine verrückte Welt, in der ich lebe? Diese Welt, in der sich die Liebe in Schweigen verwandelt, ohne dass der Tod eintritt?“  Erst nach Jahren kann er hinnehmen, dass sie das traditionelle Konzept von Mutterschaft, das sie einengt, aufbricht und für sie beide neu erfindet.   Gibt es bedingungslose Liebe? Müssen wir unser innerstes Selbst verleugnen, um akzeptiert zu werden? Und was passiert, wenn wir das nicht tun? Es sind existenzielle Fragen, die Constance Debré stellt. „Love me tender“ ist ein kraftvoller Roman über eine gewaltsame Selbstermächtigung und den freien Willen.  „Also ja, einfach so ohne Netz über die Dächer springen, das gefällt mir. Ich glaube, es ist das, was ich immer wollte.“   Wer etwas von Freiheit verstehen will, sollte in Zukunft die Bücher von Constance Debré lesen.   
    15 May 2024, 4:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken
    Aus Sorge um die Zukunft der Blick in die Vergangenheit, so könnte man dieses Buch umschreiben. Die heutigen oder kommenden Probleme der Menschheit sollten im "Lichte der Evolution" gesehen und gelöst werden, befindet Autor Michael Schmidt-Salomon. Er verbindet das mit der Vorstellung vom "Anthropozän", das als eigenes Menschheits-Zeitalter gehandelt wird.  Doch zunächst widmet er sich der Entdeckungsgeschichte der Evolution. Die Theorie, dass alles Leben einen gemeinsamen Ursprung hat, war selbst ihrem Urheber nicht geheuer. Damals Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese Theorie, die die vielen Arten von Lebewesen in einen Zusammenhang bringt, die aber auch die Trennlinie zwischen Menschen und Tieren beseitigt und damit ein Tabu verletzte, veröffentlichte Charles Darwin erst mit Jahren Verspätung. Schmidt-Salomon nennt sie, "...die vielleicht bedeutendste Theorie der gesamten Wissenschaftsgeschichte".  

    Quelle: Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken

    Zehn Persönlichkeiten der Wissenschaftsgeschichte 

    Der Autor nähert sich ihr vom Ende her. Er greift zehn Persönlichkeiten der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte heraus, die die Evolutionstheorie durch ihre Arbeit weiterentwickelt – und die das Denken selbst beeinflusst haben.  Naturwissenschaftler wie die Polin Marie Curie, die mit der Entdeckung der Radioaktivität dazu beigetragen hat, die Materie und die Stoffe, aus der sie besteht, zu enträtseln. Oder Alfred Wegener, der mit der Theorie von der Kontinentalverschiebung, der sogenannten Plattentektonik, die Erde als einen Körper beschrieb, der sich in permanentem Wandel befindet.   Portraitiert werden aber auch Sozial- und Geisteswissenschaftler wie Karl Marx, der "Entdecker des Sozialen", oder Friedrich Nietzsche, dessen radikale Philosophie des "Anti" herrschende Glaubenssätze zertrümmerte und Platz für Neues schuf.   Durchaus lesenswerte Kurzbiografien, zu denen – der Vollständigkeit halber – noch Albert Einstein, Carl Sagan, Karl Popper, Julian Huxley und der griechische Philosoph Epikur kommen.  Ausgewählt hat Schmidt-Salomon die Protagonisten, wie er schreibt:  "weil sie Gedanken formuliert haben, die uns dabei helfen können, ein zeitgemäßes Weltbild zu entwickeln, mit dessen Hilfe wir die Probleme der Menschheit im 'Anthropozän' rationaler angehen können." 

    Quelle: Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken

    Neun der zehn sind Europäer. Ihre Auswahl ist aber keine ausschließliche, Schmidt-Salomon führt zahlreiche weitere Forscher und Denker jener Zeiten an:  "Kein Kopf denkt allein, kein Werk hat nur einen Schöpfer." 

    Quelle: Michael Schmidt-Salomon – Die Evolution des Denkens. Das moderne Weltbild und wem wir es verdanken

    schreibt er.  

    Atemberaubender Entdeckungsprozess 

    Bis auf Epikur haben alle im Zeitraum von 200 Jahren des 19. und 20. Jahrhunderts gelebt und gewirkt. Eine Epoche, in der technologische und wissenschaftliche Entwicklungen eine große Dynamik entfalteten. Schmidt-Salomon spricht von einem "atemberaubenden Entdeckungsprozess" der Wissenschaft.   Auffallend ist, dass die meisten der Autoritäten politisch engagiert waren: vor allem als Humanisten und Pazifisten. Geeint hat sie womöglich der grundsätzliche Respekt vor allem Seienden und Lebenden und der Gedanke, dass der Mensch eine Spezies unter vielen ist. Zu Warnern wurden sie, weil sie erkennen mussten, dass wissenschaftliche Entdeckungen für militärische Zwecke missbraucht wurden, wie bei der Atombombe.  Insgesamt kommt der politische und historische Kontext, in dem sich die Wissenschaften bewegen, zu kurz. Nietzsches Radikalität beispielsweise war beeinflusst durch die deutsche Revolution in Folge der Französischen Revolution, die die gesellschaftlichen Ordnungen in Europa zum Einsturz brachte. 

    Das Zeitalter des Anthropozän 

    Das Buch soll, so sein Autor, gegen die Unübersichtlichkeit der Welt mit ihrer täglichen gigantischen Datenfülle Orientierungshilfe leisten. Das führt Schmidt-Salomon immer wieder zum "Anthropozän": die Idee eines erdgeschichtlichen Zeitalters des Menschen, die seit einiger Zeit in Umlauf ist. Ob die Menschheit eine eigene geologische Kraft darstellt, ist in der Wissenschaft jedoch umstritten. Jedenfalls leitet Schmidt-Salomon daraus eine "planetare Verantwortung" für die Erde ab. 
    14 May 2024, 4:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Dorothee Riese – Wir sind hier für die Stille
    „Wir sind hier für die Stille“ – seinen Titel verdankt Dorothee Rieses Debütroman einem Disput, den die Eltern der Protagonistin Judith eines Abends führen. Die Mutter hatte einer Nachbarin den letzten Kanten Brot geschenkt, der noch im Haus war. Der Vater ärgerte sich: Im Dorfladen, so sagt er, gebe es nun erst in drei Tagen wieder frisches Brot. Die Mutter entgegnet ihm, nicht für das Brot seien sie hierher gekommen, sondern für die Stille.  Sarmizegetusa heißt das Dorf, gelegen in Siebenbürgen, in das Anna und Kurt gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Judith in den frühen 1990er-Jahren ausgewandert sind – just als die deutschsprachigen Siebenbürger nach Deutschland strebten. Erzählt ist der Roman in der dritten Person, aber Dorothee Riese bleibt stets dicht an den Gedanken des Kindes. Das hat den Effekt, dass der Sprach- und Bewusstseinsraum sich mit seiner heranwachsenden Protagonistin weitet. Judith ist eine gute Beobachterin, doch erst nach und nach eignet sie sich auch das Wissen an, das es ihr ermöglicht zu verstehen, was sie sieht. 

    Glückssuche in Siebenbürgen 

    Das Dorf Sarmizegetusa ist für die Eltern eine Projektionsfläche für die Sehnsucht nach einem Glück, das sie im Westen nicht mehr empfinden konnten. Das alternative Wohnprojekt, eine Bauwagensiedlung, in der sie in Deutschland gelebt haben, ist geräumt worden. Das Land, das, so wird es angedeutet, für sie auch noch immer ein Land der Täter ist, ist ihnen zu materialistisch geworden. Sie streben ein bedürfnisloses Leben an. Über Rumänien, über das Dorf, das einige seiner Bewohner stur mit dem deutschen Namen „Waldlichten“ bezeichnen, wissen die Neuankömmlinge in ihrer Naivität so gut wie nichts. Doch bereits kurz nach ihrer Ankunft lernt die Familie eine alte Nachbarin kennen:  „Lizitanti hatte hellblaue Augen, die sahen alles. Und sie sprach auch so eine Sprache. Das war Deutsch, aber es pikste, rollte und stach. Sie sah streng zu Judiths Füßen: ‚Warum hast du deine Schuhe nicht an?‘ Kurt wollte erklären, dass Kinder keine Schuhe brauchten, aber die Mutter zwickte ihm in die Hand.“ 

    Quelle: Dorothee Riese – Wir sind hier für die Stille

    Es ist bemerkenswert, dass mit Dorothee Riese und der in Siebenbürgen geborenen Iris Wolff in diesem Frühjahr zwei Schriftstellerinnen viel beachtete Bücher veröffentlicht haben, die in ihrer Machart unterschiedlich sind und sich trotzdem ergänzen. Das Dorf, in dem Judith und ihre Eltern sich niederlassen, könnte einer jener tristen und verarmten postkommunistischen Weiler sein, die Wolffs Protagonist Lev im Roman „Lichtungen“ mit dem Fahrrad durchquert.  Dass ein armes, abgehängtes Dorf im Rumänien der frühen Neunzigerjahre keine Idylle ist, versteht sich. Sprachlich geschickt verdichtet Dorothee Riese aus der engen Perspektive des Kindes heraus die ethnischen Konflikte in Sarmizegetusa. 

    Alte Seilschaften 

    Die alte Lizitanti ist eine Siebenbürger Sächsin, die nach dem Krieg in die Sowjetunion deportiert wurde. Die Angehörigen der deutschen Minderheit blicken misstrauisch auf die angeblich neureichen Rumänen. Gemeinsam ist beiden eine Abneigung gegen die Roma, die „Brombeeraugen“, wie Judith sie nennt. Der Pfarrer des Dorfes wiederum, der zu Ceaușescu-Zeiten heimlich Opposition betrieb, traut so recht niemandem:  „Der Pfarrer sprach von der Auswanderung der Sachsen, von der neuen Regierung und den alten Kommunisten, die sich gegenseitig die Ämter zuschacherten, wie er sagte. Und auch er redete gerne über die Roma. Er erzählte, dass sie es wären, die stahlen, dass sie zu viele Kinder bekämen, und dass sie vor allem die Dörfer und Städte der Gegend zerstören würden.“ 

    Quelle: Dorothee Riese – Wir sind hier für die Stille

    Judith hingegen lernt Rumänisch, macht sich das Dorf auf ihre eigene, unschuldige Weise vertraut, schließt Freundschaften, entwickelt Zuneigungen und gerät dabei immer wieder in oft politisch und historisch bedingte Interessenskonflikte. Dorothee Riese begleitet dieses verständige Mädchen auf seinem Weg vom Vorschulkind bis zur Jugendlichen. Und hat auf diese Weise einen ungewöhnlichen Bildungsroman geschrieben. 
    13 May 2024, 4:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Katrin Seyfert – Lückenleben
    Wenn jemand in der Familie an Demenz erkrankt, dann nimmt das pflegende Angehörige auf eine Weise mit, die sich anfühlt wie ein Systemwechsel – vorher Teil der Leistungsgesellschaft, jetzt im Hilfebetrieb. Sie treten beruflich kürzer und versuchen die Peinlichkeit eines entgleisenden Menschen vor der Welt draußen so gut es geht zu verbergen. Wenn die Zeit kommt, wo der Demente die Toilette nicht mehr findet, erkundigen sie sich nach einem Platz im Heim. Sie erfahren, dass sie dafür ihr Erspartes drangeben müssten. Ein Heim ist teuer. Spätestens an diesem Punkt kann die Beziehung zum Kranken bitter werden. Die Demenz eines Familienmitglieds, so stellt sich das für pflegende Angehörige nicht selten dar, erfordert ihre Selbstaufgabe. 

    Ein kluger Erfahrungsbericht über Alzheimer 

    Die Autorin dieser Zeilen kennt diesen üblichen Gang der Dinge aus eigener Erfahrung. Deshalb ihre Freude über das Buch „Lückenleben“ von Katrin Seyfert, die ihre höchst lebendigen, wütenden, klugen Erfahrungsberichte über die Alzheimerdemenz ihres Mannes erst im Magazin „Der Spiegel“, nun aber in ausgeweiteter Form als Buch veröffentlicht. Freude deshalb, weil bei Katrin Seyfert von Selbstaufgabe keine Spur ist. Sie nennt ihre Gefühle beim Namen. Als Journalistin weiß sie, dass eine ehrliche Sprache Ordnung schafft, die Halt verleihen kann.  Ich wünschte, mein Mann wäre tot. Noch mehr wünschte ich mir, er würde leben. Aber derzeit lebt er mit mir tot zusammen. Und dieses Zwischenreich als Existenz zu akzeptieren, ist schwerer als die Trauer um Tote.

    Quelle: Katrin Seyfert – Lückenleben

    Das wertvollste Gefühl war die Wut 

    Für die Mittfünfzigerin war eines der wertvollsten Gefühle in dieser Zeit ihre Wut:   „Wut hat ja was sehr Lebendiges. Ich hatte nie Wut auf die Krankheit, auch nicht auf meinen Mann, auf keinen Fall. Aber auf so verschiedene Konventionen und Erwartungshaltungen.“  Wut auf die Begutachterin der Krankenkasse, die ihren Mann runterputzte; Wut auf Ärzte, die kein Mitgefühl aufbrachten; Wut auf Freunde, die ihr einen baldigen Burnout prophezeiten. Katrin Seyfert kämpfte darum, die schweren Jahre mit ihrem Mann Mark mit Anstand durchzustehen, aber sie kämpfte nicht allein.   „Wir hatten drei kleine Kinder, die mussten versorgt werden. Wir hatten einen Hund. Wir hatten einen Alltagshelfer. Wir hatten einen Studenten, der bei uns gewohnt hat. All die brauchten Unterstützung, um den Alltag so strukturiert zu bekommen, dass er für uns als Familie gepasst hat.“ 

    Wertvolle Ideen und Impulse für alle, die mit Demenz konfrontiert sind 

    Der Oberarzt, der die Diagnose stellte, erschreckte sie mit der Bemerkung, sie solle sich drauf vorbereiten, dass sich binnen eines Jahres ihr Freundeskreis halbieren würde. Von Anfang an bemühte Katrin Seyfert sich darum, dass das nicht passierte. Einmal monatlich lud sie zu Hausmusik, Abende mit Schlagern, bei denen Mark mitsingen, mitsummen, mitwippen konnte. Nachbarn kochten Erbsensuppe. Marianne von nebenan gab den Kindern umsonst Klavierunterricht. Das Geld war knapp. Viele halfen, manchmal auch Leute, von denen Katrin Seyfert es nie gedacht hätte.  „Ich weiß, dass ein halbes Jahr nachdem mein Mann gestorben ist, ich bei Penny eingekauft habe. Und die Filialleiterin sagte: Och, Ihr Mann hat ja hier auch hin und ab englisch eingekauft, also hat was geklaut, ohne dass er das wusste. Das haben wir dann einfach mal so durchgehen lassen, ich hab das als Warendiebstahl deklariert. Und das hat mich wahnsinnig gerührt, dass ich selbst von der Filialleitung eines Supermarktes Hilfe angeboten bekommen habe.“  2022 starb ihr Mann. Sie sei noch nicht ganz runter vom Adrenalin, sagt die Autorin. Noch heute habe sie das Gefühl, ein Tag ohne Katastrophe sei ein komischer Tag. Das Buch „Lückenleben. Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich“ wirft für jeden, der sich für Demenz interessiert oder mit Dementen Umgang hat, Impulse und wertvolle Ideen ab. Es bringt zum Lachen und zum Weinen. Und zwar auch Leser, die ganz anders gestrickt sind als Katrin Seyfert.  
    8 May 2024, 4:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Volker Braun – Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben
    Er geht im dicken Mantel dieses Gemurmels, drunter nackt, und öffnet ihn, wenn er spricht. 

    Quelle: Volker Braun – Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben

    Volker Braun, vor 85 Jahren in Dresden geboren. Mit seinem Vater, der später im Krieg bleibt, hat er vom Waldschlösschen jenseits der Elbe aus oft auf die historische Silhouette geschaut. Über idyllische Wiesen hinüber zur Altstadt. Als er fünf Jahre alt ist, brennt Dresden.  Er blickte immer wieder bereitwillig auf, aber Dresden gab es nicht mehr, nur die Skelette der Türme, vom Mittagslicht legiert. Er hatte, am Aschermittwoch, den glutroten Himmel gesehn, der schwarze Ruß war aus der Tiefe heraufgeweht und die Ausgebombten mit rußschwarzen Gesichtern.  

    Quelle: Volker Braun – Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben

    Das sind natürlich diese Felderhöhen über Dresden, die Felder, die Natur, und es ist die zerstörte Stadt. Und dieser Widerspruch von Grauen und Schönheit ist vielleicht die Grunderfahrung. 

    Quelle: Volker Braun

    Zerstörung und Schönheit als Grunderfahrung 

    Volker Braun denkt und schreibt seit über sechzig Jahren hochverdichtete, tief wurzelnde Verse als Lyriker, schreitet weit ausholend als Essayist durch Geschichte und Gesellschaft, erforscht Menschen und Macht als Dramatiker oder deckt Wahrheit und Visionen auf als Erzähler. Immer geht es um Widersprüche. „Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ könnte über dem Dichterleben stehen und heißt wohl nicht von ganz Ungefähr das gleichermaßen gegenwarts- wie lebensanalysierende Buch, das kurz vor seinem Geburtstag erschienen ist. Neben der genannten gibt es zwei weitere Erprobungen: „Versuch, mich mit den Füßen am Boden zu halten“ und „Versuch, mich auf einer Landmasse zu bewegen.“ Wie stets lauern zwischen all den anspielungsreichen Zeilen der Essays über eurasischen Kontinent, Klimakatastrophe oder Dichterexistenz vor allem Fragen.  Wie muss die Kunst beschaffen sein, fragte Adorno, um dem Kapitalismus gewachsen zu sein? – die Poesie, liest der Dichter Raimondi, »einer dynamischen Gegenwart … einer globalen Dimension«. Welche Form soll sie annehmen in dieser allgegenwärtigen Formation der technischen, merkantilen, militärischen Zusammenbindung der Welt, bei der Territorien verbraucht und Halbkontinente umgepflügt werden. 

    Quelle: Volker Braun

    Als Wegweiser dienen Zitate von Dichterkollegen 

    Die Grundgedanken jedes Kapitels veranschaulichen vorangestellte kleine Abbildungen unterschiedlicher Künstler. Eine mongolische Jurte am Hofe eines Großkhans führt zu den Ränken der Gegenwart zwischen östlichen und westlichen Wirtschafts- und Wertesystemen. Zu Kriegen um Ideologien, Ressourcen und Territorien. Die Zeichnung sinkender nackter, verkrümmter Kreaturen verweist auf die Auseinandersetzung mit einer jungen Klimaaktivistin. Die zerstörten Elbbrücken legen die Spur in das eigene Leben. Als Wegweiser dienen Zitate von Kollegen. „Der Mensch ist die Antwort, egal, was die Frage ist“ heißt es da etwa von André Breton.   Der Vater war gefallen, die Mutter zog uns Fünfe auf. Und ich wuchs also unter Brüdern auf. Und das ist auch etwas, was wohl das Naturell prägt. Und das Wort Brüder, was später dann so einen politischen und geradezu ideologischen Klang bekam, das ist für mich etwas ganz Natürliches. Das Mitdenken, Mitleben mit den anderen. 

    Quelle: Volker Braun

    Ein reiches Buch an Namen, Formen und Überlegungen 

    Davon kündet jedes Wort dieses Buches mit seinen hundert bedruckten Seiten. Im Kopf des Lesers ergänzt um viele mehr. Weil man nach jeder Andeutung, jeder Namensnennung, jedem Verweis weiter forschen möchte und muss, um vieles verstehen, anderes verorten oder drittes besser verarbeiten zu können. Wie ein kleiner Almanach zu den großen Themen unserer Zeit liest sich das an Namen (berühmter und unbekannter Dichterkollegen), Formen (Monologe, Dialoge, Perspektivwechsel) und Überlegungen (ungezählt) reiche Buch. In seinen drei grundverschiedenen Aufsätzen nähert es sich den Abbruchkanten – von Gesellschaften, unseres Planeten, des eigenen Lebens. Es lohnt jeder Versuch, in den Abgrund zu schauen.  
    7 May 2024, 4:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Alka Saraogi – Entwurzelt | Buchkritik
    Kalkutta, im Jahr 1999. Wie so oft ist Kulbhushan für Botengänge im Auftrag seiner Brüder unterwegs. Heute aber ist etwas anders: ein Plakat lässt ihn innehalten.  Es hing in der Lower Circular Road, kündigte irgendein Theaterstück an mit dem Titel „Autobiographie“. Darunter stand: „Das Epos vom letzten Jahr des 20. Jahrhunderts“.

    Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt

    Kulbhushan staunt. Denn der Schauspieler heißt wie er. Und so beginnt er, ein Hindu und Nachfahre einer eingewanderten Marwari-Handelsfamilie, sich zu erinnern: an seine ehemalige Heimat im heutigen Bangladesch, an seinen Freund Shyama – einen muslimischen Wäscher – und an den Fluss Gorai, der einst Teil seines Lebens und seiner Seele war. Denn all das hat Kulbhushan verloren. Er ist „Entwurzelt“, wie auch der neue Roman von Alka Saraogi heißt: Während seine Brüder unmittelbar vor der Teilung 1947 auswanderten und in Kalkutta Fuß fassen konnten, verließ er die geliebte Heimat erst 1964, aufgrund von sich mehrenden Unruhen gegen Hindus.  

    Kulbhushan: Außenseiter und Underdog 

    Wirklich angekommen ist Kulbhushan nie. Im Gegenteil: Seine älteren Brüder betrachten ihn bis jetzt als Eindringling und nutzen ihn als ihren Diener aus.   Die drei älteren Brüder waren verheiratet und mit Familie und Geschäft in Kalkutta etabliert. Nur er war auf der Strecke geblieben. Weder gehörte er richtig zu Indien noch zu Pakistan. Niemand war sein Freund, niemand half ihm. 

    Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt

    Zwar hat er irgendwann geheiratet. Doch seine Frau ist keine Marwari. Seitdem meiden seine Brüder ihn noch mehr; sie fürchten, sich am Essen dieser Frau zu verunreinigen. Kulbhushans Vater wiederum überquert erst 1971 mit Millionen von Flüchtlingen die Grenze, als sich Bangladesch in einem Krieg gewaltsam von Pakistan lossagt. Es ist dieser Krieg, in dem auch Kulbhushans einziger Freund Shyama sterben wird. Wie Kulbhushan ist er ein Außenseiter in der eigenen Familie:  Als er seiner Mutter mitteilte, er wolle heiraten, entgegnete sie: „Wer wird dir denn seine Tochter zur Frau geben? Ich habe dich von Jogi Baba bekommen. Da warst du schon beschnitten. Du bist weder ein richtiger Muslim noch ein richtiger Hindu. Alle hier wissen das. 

    Quelle: Alka Saraogi – Entwurzelt

    Wie Kulbhushan widersetzt auch Shyam sich dem wachsenden Hass: Er nimmt eine hinduistische Witwe zur Frau und akzeptiert ihr ungeborenes Kind als seins. 

    Religiöse und kulturelle Grenzen 

    Alka Saraogi stammt selbst aus einer bengalischen Marwari-Familie und lebt heute in Kalkutta. Ihren Roman spannt sie über vier Jahrzehnte und über beide Seiten der Ost-West-Grenze Bengalens hinweg. Dabei macht sie deutlich, dass es hier nicht nur um den Hass zwischen Hindus und Muslimen ging: Im Laufe der Jahre kam es auch zu Hass und Gewalt zwischen den Urdu-sprechenden Muslimen in Westpakistan und den bengalischen Muslimen, die in den Augen der pakistanischen Regierung als zu liberal und deshalb als minderwertig galten. Der Operation Searchlight, 1971 vom damaligen Westpakistan aus gegen die Bevölkerung des heutigen Bangladesch durchgeführt, fielen rund 3 Millionen Bengalis zum Opfer. 

    Appell an die Gleichheit aller Menschen 

    Alka Saraogi lässt die damaligen kollektiven Traumata dabei so sensibel wie eindringlich zur Sprache kommen: In zahlreichen Nebensträngen springt die Handlung kunstvoll in der Zeit und zwischen Erzählperspektiven hin- und her. Mit einem begnadeten Auge für lebensechte Details erzählt sie zugleich vom ewigen Leid der Flüchtlinge: von Folter, Vergewaltigung, Diskriminierung und Vertreibung. Und doch obsiegt in diesem Roman der grundlegende Glaube und der Appell an die Gleichheit aller Menschen, ungeachtet von Hautfarbe, Kaste, Klasse, Gemeinschaft oder Religion. „Entwurzelt“, hervorragend übersetzt von Almuth Degener, kartografiert somit ein komplexes Terrain der Geschichte – und könnte doch, angesichts der globalen Krisenherde, aktueller nicht sein. 
    6 May 2024, 4:30 pm
  • 15 minutes 43 seconds
    Louise Glück: Marigold und Rose | Lesung und Diskussion
    Louise Glücks Erzählung „Marigold und Rose“ ist das einzige Prosawerk der für für ihre Dichtung ausgezeichneten Literaturnobelpreisträgerin. Meike Feßmann und Julia Schröder lobten die bildstarke Geschichte über Zwillingsschwestern, die sich schon als Baby ihr Erwachsenenleben ausmalen. Christoph Schröder nannte das Buch eine „literarische Fingerübung“.
    5 May 2024, 3:04 pm
  • 25 minutes 16 seconds
    Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben | Lesung und Diskussion
    Mit „Eine Arbeiterin“ hat Didier Eribon eine essayistische Abhandlung über „Leben, Alter und Sterben“ der Mutter vorgelegt. Das Buch des französischen Bestseller-Autors löste in der Jury einen Grundsatzstreit über den zitatgetriebenen Stil des Autors und die soziologische Aufladung der Gegenwartsliteratur auf.
    5 May 2024, 3:04 pm
  • 19 minutes 41 seconds
    Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht | Lesung und Diskusssion
    Mit „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ legt die Schriftstellerin Julia Jost einen (Anti-)Heimat-Roman aus ungewöhnlicher Erzählperspektive und in einer überbordenden Sprache vor. Leidet das Prosadebüt der Kärntner Schriftstellerin aber unter der Verwandlung der beschriebenen Abgründe in folkloristisches Dekor? Die Jury, die viele skurrile Einfälle des Buchs heraushebt, ist sich in dieser Frage uneins.
    5 May 2024, 3:04 pm
  • 1 hour 20 minutes
    SWR Bestenliste Mai mit Büchern von Louise Glück, Didier Eribon u.a.
    Gestritten wurde zum Schluss: Meike Feßmann, Julia Schröder und Christoph Schröder diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Mai verzeichneten Werke in der Stuttgarter Stadtbibliothek. Auf dem Programm standen mit „Marigold und Rose“ von Louise Glück die einzige Erzählung der für ihre Dichtung ausgezeichnete Literaturnobelpreisträgerin. Mit „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ von Julia Jost ein österreichischer Anti-Heimat-Roman aus ungewöhnlicher Erzählperspektive. Mit „Am Meer“ von Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout ein Pandemie-Roman im tiefgründigen Plauderton. Und mit „Eine Arbeiterin“ von Bestseller-Autor Didier Eribon eine essayistische Abhandlung über „Leben, Alter und Sterben“ der Mutter. Das Buch löste einen Grundsatzstreit über den zitatgetriebenen Stil des Autors und die soziologische Aufladung der Gegenwartsliteratur auf. Aus den vier Büchern lesen Isabelle Demey und Johannes Wördemann.
    5 May 2024, 3:04 pm
  • 20 minutes 16 seconds
    Elizabeth Strout: Am Meer | Lesung und Diskussion
    „Am Meer“ von Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout ist ein Pandemie-Roman im tiefgründigen Plauderton. Meike Feßmann lobt die „starken Figuren“, stört sich aber an der Haltung einer Erzählerin, die nicht nur die chaotische Weltlage, sondern auch die Prosa mit Floskeln der Selbstvergewisserung zu strukturieren versucht. Christoph Schröder erkennt darin den geglückten Versuch, die Widersprüchlichkeit der privaten und politischen Gemengelage dieser Epoche einzufangen.
    5 May 2024, 3:04 pm
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