SWR2 lesenswert - Literatur

Südwestrundfunk

Hier finden Sie die Beiträge aus den SWR2 Literatursendungen an einem Ort: Die SWR Bestenliste und die SWR2 lesenswert Sendungen Feature, Magazin, Kritik und Gespräch. Mit Buchtipps, Diskussionen, Rezensionen und Neuigkeiten.

  • 4 minutes 8 seconds
    Sebastian Christ – Auschwitz-Häftling Nr. 2
    Otto Küsel, ein sogenannter „Berufsverbrecher“, kam als Häftling Nr. 2 nach Auschwitz, um als Kapo andere KZ-Insassen zu beaufsichtigen und zu drangsalieren. Der Mann, der für die Einteilung von sogenannten Arbeitskommandos zuständig war, aber tat das Gegenteil dessen, was von ihm erwartet wurde. Der Berliner Autor Sebastian Christ macht das in seiner Biografie, die Küsel als unbekannten Helden porträtiert und die mit ihrem Protagonisten per Du ist, überzeugend deutlich: „In Auschwitz kümmerte er sich zunächst vor allem darum, dass Häftlinge ein Arbeitskommando bekamen, das ihren Kräften entsprach. Er sorgte dafür, dass vermutlich hunderte Polen nicht von der SS durch Arbeit vernichtet werden konnten."

    Privilegierte Häftlinge 

    Die ersten 30 Kapos von Auschwitz waren fast ausschließlich sogenannte „Berufsverbrecher“, Menschen also, denen die Nazis attestierten, dass sie aus Gewinnsucht immer wieder Verbrechen begehen würden. Als Funktionshäftlinge, die gegenüber der Mehrzahl der anderen Insassen privilegiert waren, schienen sie geradezu prädestiniert dafür, das KZ-System aufrecht zu erhalten. Die ihnen zugedachte Aufgabe war es, einen Teil der Arbeit der SS-Wachmannschaften zu übernehmen und ihre weit unter ihnen stehenden Schicksalsgenossen zu terrorisieren. Viele Kapos taten dies mit brutaler Energie und sadistischem Einfallsreichtum. Otto Küsel verhielt sich anders. Aber warum?   „Er hat in Ausschwitz menschliche Ideale gelebt. Und das ist tatsächlich etwas, was mich sehr fasziniert hat an seiner Geschichte. Trotz der Möglichkeit, die er hatte. Ich meine, wer als Kapo eingeteilt wurde, der hat vom System eine Chance bekommen", so Sebastian Christ.

    „Der gute Kapo“ 

    Dieses Erstaunen teilt der Leser mit dem Autor. Otto Küsels Geschichte ist so beeindruckend, weil sie so außergewöhnlich und so unwahrscheinlich ist. Der Mann aus einfachen Verhältnissen, der schon 1937 ins KZ Sachsenhausen gesperrt und im Mai 1940 nach Auschwitz gebracht wurde, ist die Ausnahme von der Regel. Während andere Kapos zuweilen noch mehr gefürchtet wurden als die SS, war Küsel als „der gute Kapo“ bekannt.   „Ob jemand ein Kapo war oder ob er eine andere Hilfestellung hatte oder ob er ein einfacher Häftling war, das ist alles dieses Prinzip „Teile und herrsche“ – die Leute sollten gegeneinander aufgebracht werden. Und er hat da einfach nicht mitgemacht", meint Christ. Sebastian Christ ist mehr als zwei Jahrzehnte lang den Spuren von Otto Küsel gefolgt. Er hat seine frühen Jahre als Hausierer und Bettler in den Blick genommen und Küsels Konflikte mit dem Gesetz noch während der Jahre der Weimarer Republik. „Die meiste Zeit zwischen 1929 und 1935 hat er wohl im Gefängnis verbracht“, schreibt Christ, der seine Biografie streng chronologisch aufgebaut hat. Er rekapituliert Küsels Zeit in verschiedenen Lagern und schildert die Flucht aus Auschwitz. Christ berichtet von den Monaten im Untergrund in Warschau, von der abermaligen Verhaftung und von der Rückkehr nach Auschwitz – nunmehr als „normaler“ Häftling: „Otto war der allererste Häftling meines Wissens, der nach Auschwitz zurückgekommen ist, der als der frühere Häftling erkannt wurde und der das dann überlebt hat. Dazu haben sehr viele spezielle Umstände beigetragen, aber in jedem einzelnen Moment muss er natürlich befürchtet haben, von der SS umgebracht zu werden." Otto Küsels Zeit als Kapo in Auschwitz vom Mai 1940 bis zu seiner Flucht im Dezember 1942 füllt zwar nur ein Kapitel, aber sie ist der Kern der Biografie. Es sind diese zwei Jahre, die seinen Lebensweg zu einem Besonderen machen. Wie sich sein Protagonist der unerbittlichen Logik der Lagerhierarchie entziehen konnte, das umreißt Sebastian Christ engagiert, lebendig und voller Empathie. Welche Kompromisse Küsel eingehen musste, um sich in einem perfiden System zu behaupten, das Brutalität belohnte und in dem er jederzeit seine Privilegien einbüßen konnte, das bleibt hingegen unterbelichtet.
    27 January 2025, 5:30 pm
  • 5 minutes 7 seconds
    Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest
    Kennen Sie das? Sie freuen sich wie ein Schneekönig auf Ihre nächste Reise, aber je näher der Aufbruch rückt, desto spürbarer wird ein leises Grummeln irgendwo im Körper. Ausgerechnet Navid Kermani, den die Recherchen für seine Bücher durch die halbe Welt geführt haben, scheint dieses Gefühl zu kennen. Vielleicht nicht von sich selbst, so doch hinreichend, um daraus eine komische Geschichte zu machen. Eine Geschichte für Kinder, die ebenso zum Vorlesen wie zum Mitsprechen einlädt und nicht zuletzt zum gemeinsamen Betrachten der Illustrationen des Zeichners Mehrdad Zaeri. Sie heißt „Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest“. Und das leise Grummeln im Körper sitzt im Fall des Ich-Erzählers ... genau: in der linken Hand. Einmal wollte ich durch Afrika reisen.

    Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest

    So beginnt das Buch des vielfach ausgezeichneten Romanciers und Essayisten, der zurzeit mit dem Ostafrika-Sachbuch „In die andere Richtung jetzt“ auf Lesereise ist.

    Worauf Augen, Ohren, Bauch und Popo sich freuen

    Der Erzähler freut sich, und alle Körperteile freuen sich mit, die Augen auf den Anblick des Nils, die Ohren auf Jazz in Addis Abeba, der Bauch freut sich aufs Essen, das Herz auf die Menschen, die Kehle auf die Cocktails, die Füße, die Beine, der Mund, der Kopf, auch der Popo, der sich – ausgerechnet – auf Kamelritte freut. „Nur meine linke Hand, die ... Achtung, jetzt beginnt die Geschichte ... die freute sich nicht.
    ,Ich will nicht nach Afrika!‘ sagte die linke Hand, gerade, als ich zum Flughafen fahren wollte.
    ,Jetzt komm schon, linke Hand‘ sagte ich. ,Alle wollen nach Afrika, die Augen, die Ohren, die Nase, der Mund, der Bauch, der Kopf, das Herz, der Popo, die Beine, die Kehle, die Füße, sogar die rechte Hand will nach Afrika – warum du denn nicht?‘
    ,Zu Hause ist es schöner‘, sagte die linke Hand.
    ,Papperlapapp‘, rief ich, ,du kommst jetzt gefälligst mit!‘“

    Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest

    Mit „Papperlapapp“ hat noch niemals jemand irgendetwas besser gemacht. So auch hier. Die grummelige Widerspenstigkeit der linken Hand, die sich an der Heizung festhält und partout nicht loslassen will, setzt eine Kaskade der Hindernisse und Scheinlösungen in Gang, inklusive Klempnereinsatz, Problemen im Taxi und am Checkin-Schalter – und jeder Menge Diskussionen von Händen, Mund, Kopf und so weiter.

    Wenn die Körperteile miteinander streiten

    Die anderen Körperteile revoltieren regelrecht gegen die aufmüpfige linke Hand, allen voran die rechte Hand, die ihre Chance wittert, sich der unliebsamen Konkurrentin zu entledigen: Ja, schneid sie ab (...) Die linke Hand wird völlig überschätzt.

    Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest

    Keine gute Idee für einen Linkshänder-Organismus, weshalb ein anderer Ausweg gefunden werden muss. Und selbstredend findet der Erzähler am Ende einen, mit dem alle zufrieden sind und der Reise durch Afrika nichts mehr im Wege steht. Spoiler: dabei spielen zwei kuschelige Handschuhe mit elektronischem Heizkissen im Futter eine wichtige Rolle. Navid Kermanis Text für dieses Bilderbuch zeigt, dass der Autor, selbst zweifacher Vater, ziemlich gut weiß, was Kinder beim Vorlesen begeistert. Litaneiartige Wiederholungen etwa, die man mitsprechen kann: „Ich zog an der linken Hand
    und ich ZERRTE
    und ich FLEHTE
    und ich BETTELTE
    und ich SCHIMPFTE
    und ich SCHRIE die linke Hand an, dass wir das Flugzeug verpassen würden, wenn sie nicht sofort die Taxitür losließe.“

    Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest

    Dazu kommt ein leicht anarchischer Witz. So erinnert die Komik der Interaktion zwischen den Körperteilen an den Sketch „Der menschliche Körper“ von Otto Waalkes mit der unsterblichen Zeile „Milz an Großhirn: Soll ich mich auch ballen?“

    Bekloppte Ideen für tausend oder zehntausend Euro

    All das sorgt dafür, dass erwachsene Vorleser sich bei Lektüre ebenfalls nicht langweilen werden, vor allem bei den leise selbstironischen Stellen: „Da hatte mein Kopf wieder eine seiner bekloppten Ideen, und mein Mund bot dem Fahrer an, die Taxitür zu kaufen, wenn der Fahrer sie schnell ausbaute, worauf der Fahrer einen irren Preis nannte, tausend oder zehntausend Euro.“

    Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest

    Für kleine und große Selber-Leser hat das Buch auch optisch viel zu bieten. Der Illustrator Mehrdad Zaeri setzt auf Farbflächen in der Art von Gouachen, mit knalligen Kontrasten, Ton-in-Ton-Silhouetten, filigranen Details, starken Konturen. Die kubistisch-zweidimensional angelegte Figur des Ich-Erzählers mit Zwirbelbärtchen, großen Augen, flachem Kreissäge-Hütchen, rotem Jackett, grüner Hose und gelben Schuhen hat etwas von einem Torero in der Sommerfrische, aber auch vom HB-Männchen der Sechziger-Jahre-Reklame. Auf unterhaltsam-poetische Art erzählen Navid Kermani und Mehrdad Zaeri mit der rasanten Geschichte einer reiseunlustigen linken Hand zugleich von der Vorfreude auf das Neue und dem Magnetismus des Altvertrauten und davon, dass das Ganze erst in der Summe seiner Teile entsteht. Und seien es die verselbstständigten Körperteile, von denen jedes mindestens so wichtig ist wie der Kopf.
    26 January 2025, 4:04 pm
  • 6 minutes 38 seconds
    Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side. Eine optimistische Geschichte der Menschheit
    Draußen ist es dunkel, nass und kalt. Die Stimmung ist trüb und die Nachrichten sind voller Schreckensmeldungen. Und doch gibt es viele gute Gründe, heute optimistisch zu sein, findet der Wissenschaftsjournalist Sumit Paul-Choudhury. Optimismus ist eine Ressource, die man anzapfen kann, gerade wenn es hart auf hart kommt, sagt er. „Zum Optimisten wurde ich in der Nacht, als meine Frau starb. Wie schwierig es auch sein mochte, sie wollte, dass ich weiter nach vorne schaute. Ich will beileibe nicht einen Trauerfall empfehlen, um die Resettaste zu drücken, aber mir verschaffte er Gelegenheit und die Motivation, mein Leben von Grund auf zu überdenken."

    Optimismus steckt in unseren Genen

    Paul-Choudhury nimmt sich vor, die Welt besser zu machen und findet heraus: Wir alle sind viel optimistischer als wir es von uns denken. Der Optimismus ist sogar in unseren Genen angelegt. Ohne ihn hätte die Spezies Mensch im Laufe der Evolution nicht überlebt. „Optimismus schien mir die einzige Haltung zu sein, die einzunehmen sich lohnte. Wenn man mehr vom Leben erwartete, konnte man auch mehr vom Leben haben. Aber wenn ich schon Optimist sein wollte, dann wollte ich eine Art von Optimismus praktizieren, den ich guten Gewissens vertreten konnte, der mehr war als nur Glaube." Also durchsucht Paul-Choudhury Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie, auch die Literatur und findet erstaunliche Studien sowie beinahe unglaubliche historische Beispiele für die Macht der positiven Zukunftserwartung. Die erzählt er nun anregend in seinem Buch „The Bright Side. Eine optimistische Geschichte der Menschheit“.

    Solang man am Leben ist, kann man Entscheidungen treffen

    Da ist zum Beispiel die Legende von Ernest Shackletons Expedition. Der britische Polarforscher rettete mit Beharrlichkeit seine Crew nach 635 Tagen im ewigen Eis der Antarktis. Seine Überlebensstrategie: „Die Eigenschaft, nach der ich am meisten suche, ist vor allem Optimismus angesichts von Rückschlägen und vermeintlichen Misserfolgen. Optimismus ist wahre Zivilcourage." Dabei ging es Shackleton nicht um blindes Vertrauen, er erinnerte seine Männer: solange sie am Leben seien, könnten sie Entscheidungen treffen, ihr Schicksal in die Hand nehmen. So sah es vermutlich auch der Schriftsteller und Bürgerrechtler James Baldwin. Er antwortete in einem Interview 1963 auf die Frage, wie er die Lage der Nation sehe, nachdem wieder einmal Aufstände schwarzer Amerikaner blutig niedergeschlagen wurden: „Ich kann kein Pessimist sein, weil ich lebe. Ein Pessimist zu sein bedeutet, dass man der Meinung ist, das menschliche Leben sei eine akademische Angelegenheit. Also ich bin gezwungen, Optimist zu sein. Ich bin gezwungen, zu glauben, dass wir überleben können, was auch immer wir überleben müssen.“ Was vom Leben erwarten? Wie die Zukunft gestalten? Die Antworten liegen nicht in der Vernunft, so Paul-Choudhury, sondern in Überzeugungen und Entschlossenheit. Allerdings verändere sich die Welt so rasant, dass die Zukunft immer unvorhersehbarer geworden ist. Seit Beginn der industriellen Revolution haben wir uns an die Vorstellung gewöhnt, dass wir in einer Art von Welt aufwachsen und in einer anderen Art von Welt sterben.

    Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side

    Optimismus hat heute einen schlechten Ruf

    Da bleibt der Optimismus auf der Strecke. Noch nie scheint er einen so schlechten Ruf gehabt zu haben wie im Moment, beklagen der Autor und sein deutscher Verleger, Lars Claßen, vom Kjona Verlag: „Was ich sehr sympathisch fand, er wollte sich den Optimismus eigentlich austreiben und hat es nur nicht geschafft. Das liegt mir total nah. Ich finde, man darf auch optimistisch aus Notwehr sein.“ Noch so ein Optimist, der Lars Claßen. Veränderung beginne im Kopf, sagt er und gründete einen Verlag mit optimistischer Vision: konsequent nachhaltige Bücher produzieren und nur in Teilzeit arbeiten: „… und der Verlag ist sehr erfolgreich und damit will ich nicht sagen, wow, guck mal, wie toll wir sind, sondern ich will sagen, wenn wir Zwei sowas können, dann können alle anderen das auch.“ Claßen war so begeistert von „The Bright Side“, dass der Verlag das Buch bereits im Sommer 2021 eingekauft hat: „… als es Kjona offiziell noch gar nicht gab, also in der Planungsphase sozusagen, weil wir uns so angesprochen davon gefühlt haben, weil Sumit Paul-Choudhury ein bisschen versucht, den Optimismus vom Kopf auf die Füße zu stellen.“

    Der Autor wünscht sich neue Mythen gegen die Optimusmuslücke

    Stimmt. Was wie ein Lebensratgeber beginnt, entwickelt sich schnell zu einer hoffnungsstiftenden Analyse. Statistisch gesehen gab es noch nie so wenig Gewalt, waren wir nie gesünder, klüger oder älter. Da erstaunt eine aktuelle Umfrage unter Europäern: Die Mehrheit blickt optimistischer in ihre eigene Zukunft als auf die ihres Landes. Zwischen Individuum und Kollektiv klafft eine Optimismuslücke. Und um die zu schließen, wünscht sich Paul-Choudhury neue Mythen. Heute wie damals stirbt eine alte Welt. Unsere Aufgabe ist es, der neuen Welt zur Geburt zu verhelfen und dafür zu sorgen, dass sie nicht von Monstern zur Welt gebracht wird.

    Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side

    Die Ideen und Technologien für positive Veränderungen sind eigentlich auch schon da: er nennt Geoengineering oder künstliche Intelligenz. Auch die Literatur kann helfen. Die ist meist ein Spiegelbild ihrer Zeit und reagiert auf Ereignisse – auf schlimme mit Dystopien, denkt man nur an Mary Shelleys „Frankenstein“, das sie im Jahr 1816 schrieb, nach dem größten Vulkanausbruch der Geschichte, als sich der Himmel derart verdunkelte, dass es in Europa ein Jahr ohne Sommer gab. Als das Tempo des Wandels jedoch irritierend wurde, widmeten sich die Autoren zunehmend fiktionalen Erzählungen über Reisen in die Zukunft. […] Heute scheint die krasse Dystopie zurück zu sein.

    Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side

    Naive Trottel überall? Nein!

    Das würde auch Verleger Lars Claßen unterschreiben. Doch immer mehr Autor:innen würden beginnen, neue Gesellschaftsentwürfe zu konzipieren: „Wenn man den Möglichkeitsraum im Kopf erweitert, dann erweitert man auch die Grenzen, die man überhaupt beschreiten kann, deswegen sind Optimist:innen auch resilienter und gesünder und spannenderweise auch überall auf der Welt in jeder Altersstufe.“ Wenn man ein Buch „The Bright Side“ nennt, denkt man natürlich an „Das Leben des Brian“ – der gesungene Optimismus der Gekreuzigten. Alles naive Trottel? Durchaus nicht. Sumit Paul-Choudhurys Version von Optimismus ist eine Lebenseinstellung, eine Tugend. Wenn man so will, hat er ganz im Sinne der Aufklärung einen inspirierenden Langessay vorgelegt, kompetent ins Deutsche übertragen von Andreas Wirthensohn, ganz ohne esoterisches Zuversichtsgeschwafel.
    26 January 2025, 4:04 pm
  • 5 minutes 27 seconds
    Édouard Louis - Monique bricht aus
    Eine stark autobiografische Geschichte über sozialen Aufstieg und Selbstermächtigung.
    26 January 2025, 4:04 pm
  • 7 minutes 47 seconds
    Tal Bruttmann, Stefan Hördler, Christoph Kreutzmüller – Ein Album aus Auschwitz
    Das sogenannte „Album von Auschwitz“ zeigt die Ankunft von Jüdinnen und Juden aus Ungarn im Vernichtungslager. Die Fotos haben das Bild vom Holocaust entscheidend geprägt. Doch man sollte die Aufnahmen differenziert betrachten, erklärt der Historiker Stefan Hördler im lesenswert Magazin, denn es ist der Blick der Täter auf die Opfer.
    26 January 2025, 4:04 pm
  • 7 minutes 55 seconds
    József Debreczeni – Kaltes Krematorium
    Schon 1950 erschien József Debreczenis „Kaltes Krematorium“. 1944 wurde der ungarische Journalist deportiert und hat die alltägliche Hölle der Lager und die von den Nazis erzwungene Entmenschlichung der Gefangenen, präzise beschrieben. Die Publizistin Carolin Emcke hat das Nachwort geschrieben und erklärt im Lesenswert Gespräch, was sie an dem Buch so beeindruckt hat. Nach über 70 Jahren endlich auch auf Deutsch erhältlich - besser spät als nie.
    26 January 2025, 4:04 pm
  • 54 minutes 53 seconds
    Bücher gegen das Vergessen – zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Mit neuen Büchern von Édouard Louis, Michael Köhlmeier, Navid Kermani und Sumit Paul-Choudhry.
    Dieses Mal im lesenwert Magazin Bücher zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz von József Debreczeni, Tal Bruttmann, Stefan Hördler und Christoph Kreutzmüller
    26 January 2025, 4:04 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Witold Gombrowicz – Trans-Atlantik
    Im August 1939 begibt sich der Autor Witold Gombrowicz auf einem Transatlantikliner auf die Reise nach Buenos Aires. Die Rückfahrkarte, ausgestellt auf den 1. September, lässt er allerdings verfallen. An diesem Tag begann bekanntlich der Zweite Weltkrieg mit dem Angriff Nazideutschlands auf Polen. Gombrowicz bleibt für die nächsten 24 Jahre in Argentinien.  Mit dieser autobiographischen Episode beginnt sein dritter Roman „Trans-Atlantik“, 1953 im Original und 1963 auch auf Deutsch erschienen. Der Roman „Ferdydurke“ aus dem Jahr 1938 hatte Gombrowicz bekannt gemacht, ein „Geniestreich“, wie der Übersetzer und Herausgeber Rolf Fieguth schreibt, aber eben kein einmaliger. Denn mit „Trans-Atlantik“, hochliterarisch wie der Vorgänger, habe er seinen Ruhm in der polnischen Literatur endgültig gefestigt.  Rolf Fieguth:
    „Schlüsselroman, skandalisierende Satire, moral-humoristischer Traktat, doch zugleich und vor allem ist es das unbedingtere und auch geschlossenere Sprachkunstwerk, in welchem die artistische Fantasie, der Rausch, der Traum und die Schönheitssehnsucht inmitten aller Ekelhaftigkeit triumphieren.“ 

    Balancieren auf verschiedenen Bedeutungsebenen 

    Aber wie es mit solch epochemachenden, dem Realismus nicht zugeneigten Werken zuweilen ist: Sie müssen ihren Weg auch zu nachgeborenen Lesern finden. Mit der Wiederveröffentlichung der 37 Jahre alten Hanser-Ausgabe im Kampa Verlag ist ein erster Schritt getan. Allerdings sollte man nicht erwarten, dass es einem der Text selbst ganz einfach macht, denn was Fieguth als hochliterarisch bezeichnet, deutet schon hin auf den Anspielungsreichtum, die sprachspielerische Lust, das Balancieren auf verschiedenen Bedeutungsebenen. Die angesprochene moralisch-humoristische Dimension aber lässt sich leicht erkennen. Als der Titelheld, der den Namen des Autors trägt, in seinem Exil in Geldnöte gerät und seine polnischen Landsleute inklusive Minister anpumpt, ist das nicht ohne bitterernsten Witz.   Gut gut, hier hast du 70 Pesos, (…).« Ich sehe also, dass er mich mit Geld abspeist; und nicht einfach mit Geld, sondern mit Kleingeld! Nach einer so schweren Beleidigung steigt mir das Blut in den Kopf, ich sage aber nichts. Ich sage erst: »Ich sehe, ich muss dem Hochwohlgeborenen Herrn sehr klein sein, denn Ihr speist mich auch mit Kleingeld ab, und sicher zählt Ihr mich unter die Zehntausend Literaten; aber ich bin nicht nur Literat, sondern auch Gombrowicz! 
    Er fragt: »Was für ein Gombrowicz?« Ich spreche: »Gombrowicz, Gombrowicz.« Er rollt das Auge und spricht: »Wohlan, wenn du Gombrowicz bist, so hast du hier 80 Pesos (…).“  

    Quelle: Witold Gombrowicz – Trans-Atlantik

    Schelmische Naivität 

    Das Spiel mit Paradoxien, Übertreibungen, Wiederholungen, Absurditäten und den umgangssprachlichen Plauderton, der diesen Roman prägt, kann man hier schon bemerken. Damit sollen einerseits der Gestus des mündlichen Erzählens, andererseits die primitivistischen Sprachdeformationen der historischen Avantgarden nachvollzogen werden. Auch der Rückgriff auf vormoderne Erzählungen wie den „Simplicissimus“ liegt Gombrowicz nicht fern. Das hat freilich einen höheren Zweck: Mit einer schelmischen, demaskierenden Naivität schlägt sich sein Held nicht nur mit seinen polnischen Landsleuten, sondern auch dem polnischen Nationalstolz herum, der hier satirisch verunstaltet wird. Wie Gombrowicz in einem der zahlreichen Vorworte zu seinem Buch schreibt, stellt er dem gängigen idyllischen Menschenbild sein eigenes gegenüber: Die Welt sei geprägt von Fiktion und Lüge. Von Wahrhaftigkeit keine Spur. Stattdessen sind wir konfrontiert mit der Leere des Menschen – das Wort „leer“ fällt häufig in diesem Roman. Sie steht der Tiefe entgegen, die man dem menschlichen Wesen gerne zubilligen würde. Tragisch und albern ist er stattdessen. Zum bösen Scherz oder heiteren Ernst des Buches gehört dementsprechend sein Schluss: „Da wummt das Lachen!“, heißt es auf der letzten Seite. Mit befreiendem, wummerndem Lachen endet dieser Roman einer Katastrophe, der den Autor Witold Gombrowicz auf die weltliterarische Landkarte gesetzt hat.  
    23 January 2025, 5:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch
    Was rettet uns in Zeiten, in denen uns eine geliebte Person abhandenkommt? Wo finden unsere Gefühle und Gedanken Resonanz? Wie finden wir in unserem eigenen Leben Halt und wohin können wir unsere Energie richten, wenn jemand plötzlich fehlt? Das sind im Grunde die Ausgangsfragen, die Sarah Sands in ihrem Igel-Tagebuch erörtert. Explizit widmet sie ihr Werk ihrem Vater und „allen, die Igel lieben“.   »Komme ich wieder nach Hause?«, fragte mein Vater. Ich hatte keine klaren Antworten, keine Versprechungen. Wir unterhielten uns über den Frühling, als Metapher für Hoffnung. Und um das ehrliche Schweigen zu füllen, erzählte ich von Peggys erstaunlicher Genesung. (…) Manchmal ist es einfach leichter, über Igel zu reden. 

    Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch

    Wie Mensch und Tier mit den Kräften haushalten. 

    Des alten Vaters Herz ist so schwach, dass er nicht mehr den Tätigkeiten nachgehen kann und möchte, die er liebt, nicht in der Natur sein und nicht mehr lesen, und schließlich palliativ in einem Pflegeheim liegt. Quasi gleichzeitig findet die Autorin in ihrem Garten einen sehr schwachen Igel. Angesichts der Befürchtung, der Igel könnte schnell wegsterben, taufen die Erzählerin und ihr Mann ihn mit dem sprechenden Namen Horace. Sie bringen ihn auf eine Igelpflegestation, wo sich herausstellt, dass der Igel weiblich und also besser eine Peggy ist. Es geht also ums Überleben. Vom Vater und Peggy.   Mit den eigenen Kräften haushalten: Damit kennt sich der Igel aus, in seinem Bett aus Blättern und voller Insekten. (…) Der Igel rollt sich zusammen, und sein Herzschlag verlangsamt sich. Seine Körpertemperatur fällt von 34 °C auf 2 °C, und er atmet kaum noch. Er fühlt sich kalt an. Ich weiß, worauf ich bei meinem Vater achten muss. Sein Puls darf nicht zu schnell hämmern, sein Blutdruck nicht zu stark absinken, (…) jede Anstrengung würde ihn umbringen. So sieht sein Gleichgewicht aus – ganz knapp zu überleben. 

    Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch

    Der Trauerprozess 

    Die Eng- und Parallelführung von Igel und Vater gelingt über weite Strecken des Buches gut. Man erspürt im Text die Kraft, die es braucht, um gegen das befürchtete Ende eines Lebens anzuschreiben. Und es zeigt sich, dass Literatur, Natur und Recherche helfen. Man erfährt von nachlassenden Kräften beim Vater, vom Verlust von Möglichkeiten in der Krankheit, von der Grausamkeit, der Endlichkeit ins Auge schauen zu müssen. Und gleichzeitig wird man anhand des Igelfindlings Peggy zu einer igelkundigen Leserin. Das ist wohltuend. Wenn die Erzählung dabei manchmal hin und her mäandert zwischen Literatur über Tod und Igel oder auch mal zu Vogel- und Igelstatistiken während Corona abdriftet, nimmt man das hin. Solange man im Trauerprozess um den Vater bleiben darf, den nur des Igels Rettung erleichtern kann. Leider verliert sich der Text zunehmend in viele Richtungen. Mal landen wir in der britischen Politik, mal bei Nato-Symbolen oder in der Religion, mal bei CO2-Zielen. Dann blättert man und hofft, die Autorin findet den Faden wieder, aber so recht gelingt das erst ganz am Schluss:   Wenn ich meinen Vater vor meinem inneren Auge sehe, hält er ein Fernglas hoch. Er nahm die Natur in sich auf, und jetzt nimmt die Natur ihn in sich auf. (…) Ich trauere nicht mehr, sondern beobachte (…)  Neben dem Teich ist ein dunkler, rundlicher Umriss zu erkennen. Ein Igel. Für den Augenblick ist mit der Welt alles in Ordnung. 

    Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch

    Uff, denkt man da, nochmals geschafft, aber mit der Ordnung der Erzählung hätte es ein Lektor genauer nehmen können.  
    22 January 2025, 5:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster
    Karen Reyes ist wieder da. Ein Mädchen von zehn Jahren, das sein Leben im Jahr 1968 in sein Tagebuch zeichnet. Und zwar im Stil der von ihm heißgeliebten Horror-Comics, mit sich selbst als Werwolf im Mittelpunkt. Was nur zum Teil Karens blühender Fantasie geschuldet ist. Ihre Welt in einem Armenviertel Chicagos ist die der gesellschaftlich Geächteten. Für sie beginnt der Horror vor der Wohnungstür.   Dan grinst immer wie verrückt, wenn er mich sieht und will etwas spielen, das er „Monsterspiel“ nennt. Manchmal spiele ich mit ihm, weil es mir leidtut, dass er so ein schweres Leben hat, und ich versuche, nicht sauer zu werden, wenn er oder sein kleiner Bruder oder seine zähnefletschende Oma dummes Zeug reden. 
    Dans Oma: Dan, Junge, du gibst dich doch nicht mit Latinos oder Farbigen ab, oder? 

    Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster

    Horror und Realität – kaum zu unterscheiden 

    Gewalt und Rassismus im Jahr 1968, gesehen durch die Augen eines Mädchens mit Liebe zu Kunst und Trash - dieser erzählerische Kniff hat die US-amerikanische Zeichnerin Emil Ferris in der Comic-Welt berühmt gemacht. Dass sie in Karens Bildern harten Realismus und quietschbunte Horror-Motive nahtlos ineinander übergehen lässt, wirkt auch in Teil zwei ihrer Graphic Novel „Am liebsten mag ich Monster“ konsequent. Ghouls und andere Menschenfresser, die Karen in ihrem visuellen Tagebuch porträtiert, machen ihr weniger Angst als die Brutalität um sie herum. Und sind für sie weitaus glamouröser als ihr Alltag als Außenseiterin, die entdeckt hat, dass sie Mädchen lieber mag als Jungen.   Emil Ferris spinnt die Erzählfäden des ersten Comic-Bandes fort: den der Coming of Age-Geschichte, weil Karen ihre erste zarte Romanze erlebt. Die Familientragödie, weil sich ihr großer Bruder nach dem Tod der Mutter als zunehmend gewalttätig entpuppt. Und den des Krimis, weil sie immer noch den Mord an ihrer Nachbarin Anka aufklären will. So geschickt wie im ersten Teil der Graphic Novel vermag Emil Ferris die Fäden allerdings nicht zu verknüpfen. Zu gewollt wirkt Karens erste Liebe; neu eingeführte Figuren spielen für die Handlung keine Rolle.  

    Zeichnungen zwischen groben Skizzen und fein schraffierten Porträts 

    Trotzdem setzt auch Teil Zwei von „Am liebsten mag ich Monster“ neue Maßstäbe im Medium Comic. Denn Ferris beherrscht ihr Handwerk so souverän, dass sie seine Regeln brechen kann, ohne gekünstelt zu wirken. Sie verweigert sich der leichten Lesbarkeit, von der der Comic lebt und gestaltet jede Seite anders, mal in groben Skizzen, mal so fein schraffiert und detailverliebt wie in einem Kupferstich. Sie zeichnet berühmte Gemälde ab und manchmal sogar Karen in sie hinein, während sie im Text dazu Karen mit Hilfe der Kunst über ihr Leben reflektieren lässt. Oder sie lässt Karen Kunst zitieren, um ihre Erlebnisse im Chicago des Jahres 1968 zu schildern.  Grant Park war voller Hippies. Es erinnerte mich irgendwie an ein Bild von Georgia O'Keefe. (...) Aber als die Bullen aufkreuzten, verwandelte sich der schöne Tag in ein Gemälde von Leon Golub oder Jackson Pollock. 

    Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster

    Auf der Seite zu sehen: prügelnde Polizisten, wie Golub sie malte, und Farbklekse in Blutrot, wie Pollock sie auf seinen Bildern verspritzte. Mit solchen Anspielungen auf die Realität jenseits des Comics bremst Ferris zwar den Lesefluss, öffnet dabei aber einen Reflexionsraum für das, was Karens Lebenswelt mit der ihrer Stadt und ihres Landes verknüpft. Wie sehr vor allem Gewalt die Geschichte der USA geprägt hat und wie sie bis heute fortwirkt – in Ferris‘ Graphic Novel wird es nachvollziehbar. Bei aller Gesellschaftskritik verliert sie dabei ihre Hauptfigur nicht aus den Augen. Ihre Karen Reyes mag eine ziemlich frühreife Zehnjährige sein. Doch weil sie glaubwürdig zwischen klaren Einsichten über ihr Umfeld und pubertärer Unsicherheit schwankt, folgt man ihr über 400 Seiten gern bei ihrer Entwicklung zur jungen Frau – oder wie sie es vorziehen würde, jungen Werwölfin. Ihre Geschichte macht „Am liebsten mag ich Monster“ trotz seiner Schwächen zu einem Solitär in der Comic-Welt. Ein Werk von Weltrang, wie es nur alle Jubeljahre erscheint. 
    21 January 2025, 5:30 pm
  • 4 minutes 9 seconds
    Andreas Reckwitz – Verlust. Ein Grundproblem der Moderne
    Der Soziologieprofessor Andreas Reckwitz hat vor allem die Gesellschaft der westlichen Moderne bis in unsere Tage im Blick. „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ lautet der Titel seiner neuesten Publikation. Die Moderne beginnt bei Reckwitz ganz klassisch mit den 30er- und 40er- Jahren des 19. Jahrhunderts. Gewaltige Technisierungsschübe und naturwissenschaftliche Errungenschaften sind prägend, ebenso das Bürgertum und ein breiter werdender Wohlstand. Fortschritt und stetiges Wachstum versprechen ein zukünftiges Paradies – was allerdings in der Hölle endet, nämlich im Ersten Weltkrieg.   Das Fortschrittsnarrativ wie es insbesondere in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Technik und Lebensführung verankert worden ist, basiert auf einem einfachen Plot: Erzählt wird die Geschichte eines Prozesses der permanenten Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse. 

    Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust

    Die Verlusterzählung in der Moderne und die Kunst 

    Natürlich gibt es auch in der frühen Moderne Verlusterzählungen – etwa die Marginalisierung des Landlebens und der Agrarwirtschaft. Doch nach Reckwitz ist die Fortschrittsgläubigkeit bis zum Ersten Weltkrieg nicht zu bremsen.  Das alte Paris – es ist nicht mehr (ach, die Form der Stadt / wandelt sich viel schneller als das Herz des Sterblichen) 

    Quelle: Charles Baudelaire: Le Cygne / Der Schwan

    Das Gedicht „Der Schwan“ hat Charles Baudelaire in etwa um 1850 verfasst. Mit dem Bau des Boulevard Hausmann verschwindet das alte Paris. Der Dichter formuliert also klar eine existentielle Verlustangst. Andreas Reckwitz bringt zwar einige Beispiele aus der Belletristik und der Kunst, aber er nennt nicht Künstlergruppen, die jenseits allen Fortschrittsglaubens den Verlust in der Moderne klar markiert haben: Die Symbolisten, später dann die Dadaisten und Surrealisten. Die Künstler des Surrealismus versuchten sich sogar an einem Gegenmodell zum rationalen Fortschritt – nämlich indem sie das Unbewusste und den Traumbereich des Menschen erforschten.  

    Verlustverdrängung versus Verlustpotenzierung 

    Von unschätzbarem Wert ist bei Reckwitz die genaue und breitgefächerte Darstellung der Verlusterfahrungen in der Moderne. Dabei kommt es auch zu Formen der Verlustverdrängung: Das so genannte Wirtschaftswunder nach 1945, das bis in die 1970er Jahre reicht. Oder die 1990er Jahre, in denen man mit dem Zerfall kommunistischer Staaten eine Art kapitalistisch organisierten Weltfrieden zu erkennen meinte. Das Fazit von Reckwitz lautet:   Im Arrangement der modernen Gesellschaft ergibt sich eine prekäre Balance zwischen Fortschrittsorientierung, Verlustreduktion, Verlustpotenzierung, Verlustvisibilisierung und Verlustbearbeitung. 

    Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust

    Und genau diese „prekäre Balance“ von Verlusterkennung und Verlustvergessenheit ist nach Reckwitz entscheidend, um die „Spätmoderne“, also unsere Zeit zu begreifen. Denn die positive Fortschrittserzählung kommt an ein klares Ende.  Dass die katastrophische Zukunft eintreten kann, wird im spätmodernen Zeitregime zur neuen Gewissheit.

    Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust

    Die vermeintliche Katastrophe und die „Reparatur der Moderne“ 

    Diese negative Gewissheit äußert sich in drei Hauptsegmenten: Technikskepsis, Ökonomieskepsis, Staatsskepsis. Wie aber aus dem Sumpf der Skepsis wieder herauskommen? Andreas Reckwitz bietet drei Szenarien an: Erstens, wir machen weiter so wie bisher – wird schon gut gehen! Zweitens, die Moderne endet in der Katastrophe. Und drittens? Reckwitz nennt es die „Reparatur der Moderne“. Dabei richten wir unser zukunftsorientiertes Tun auf die Reduktion und Vermeidung von Verlusten. Wer allerdings die „Ingenieure“ dieses dritten Wegs sein sollen, sagt Reckwitz nicht. Denn sein Buch „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ sollten alle die lesen, denen die Zukunft etwas wert ist und die nicht in einer Verlustphobie erstarren wollen. 
    20 January 2025, 5:30 pm
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